Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 28.08.1990) |
SG Aurich (Urteil vom 07.07.1988) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. August 1990 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 7. Juli 1988 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin und den Beigeladenen auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Kindergeld unter Berücksichtigung der im Jahre 1940 geborenen Tilde J. … (nachfolgend T. genannt), ihrer Tante, als Pflegekind zusteht.
T. ist seit ihrer Geburt körperlich und geistig behindert (Down-Syndrom = Mongolismus) und steht in ihrer Entwicklung einem zehnjährigen Kind gleich. Sie ist die Tochter des im Jahre 1895 geborenen und bis zu seinem Tode am 15. Januar 1990 beigeladenen Großvaters der Klägerin.
Die im Jahre 1961 geborene Klägerin – mit Bestallungsurkunde vom 10. November 1987 zur Pflegerin von T. bestellt – zog im August 1984 in das Haus des Großvaters ein, weil auch der damals 89-jährige der Hilfe der Klägerin bedurfte. Dort wohnt sie mit ihrem Ehemann und den 1987 und 1989 geborenen gemeinsamen Kindern.
Den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Kindergeld unter Berücksichtigung von T. vom August 1987 lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 12. November 1987, Widerspruchsbescheid vom 7. Dezember 1987). Das Kindergeld wurde weiterhin an den verstorbenen früheren Beigeladenen gezahlt. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin Kindergeld für T. in gesetzlicher Dauer und Höhe zu gewähren und T. als Kind bei der Kindergeldzahlung für die Klägerin zu berücksichtigen (Urteil vom 7. Juli 1988).
Das Landessozialgericht (LSG) hat in seinem ersten Urteil in diesem Rechtsstreit (vom 27. Juni 1989) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Unter Aufhebung dieses Urteils hat der erkennende Senat den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen, da die Rechtsnachfolger des verstorbenen Beigeladenen beizuladen waren (Urteil vom 3. April 1990).
Nach Beiladung der Rechtsnachfolger hat das LSG erneut die Klage unter Aufhebung des Urteils des SG abgewiesen (Urteil vom 28. August 1990). Es hat im wesentlichen ausgeführt: T. könne bei dem Kindergeldanspruch der Klägerin nur berücksichtigt werden, wenn sie die Pflegekindeigenschaft iS des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) besitze. Die Begründung eines familienähnlichen Bandes im Sinne der Vorschrift sei für Fälle zu verneinen, in denen das Pflegeverhältnis erst im Erwachsenenalter begründet werde und der Pflegling erheblich älter als der Betreuende sei (Hinweis auf Bundesverwaltungsgericht -BVerwG- Urteil vom 6. September 1984 – 2 C 37.82 – Buchholz 235 § 40 Bundesbesoldungsgesetz -BBesG- Nr 4). Es sei dem Gesamtzusammenhang der Kindergeldregelung nichts dafür zu entnehmen, daß geistig und seelisch behinderte Personen gegenüber körperlich gebrechlichen oder aus sonstigen Gründen pflegebedürftigen Kindern nur deshalb einen Sonderstatus einnehmen sollten, weil sie ihrer Entwicklung nach dem Stande eines Kindes zurückgeblieben seien. Außerdem sei der geltend gemachte Kindergeldanspruch auch im Hinblick darauf ausgeschlossen, daß die Klägerin ihre Tante T. erst nach Vollendung ihres 27. Lebensjahres in die Obhut genommen habe.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 2 BKGG. Das Berufungsgericht habe zu Unrecht die Pflegekindeigenschaft verneint. Aufgrund der Besonderheiten des Falles könne weder dem Altersunterschied zwischen ihr – der Klägerin – und der T., noch dem Zeitpunkt der Obhutsübernahme eine ausschlaggebende Bedeutung zukommen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. August 1990 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 7. Juli 1988 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladenen sind im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Der Senat hat mit Beschluß vom 26. Februar 1991 dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes die Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt, ob die Vorausetzungen eines Pflegekindschaftsverhältnisses iS von § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG jedenfalls dann vorliegen können, wenn es erst im Erwachsenenalter des Pflegekindes, das jedoch in seiner geistigen Entwicklung auf dem Stande eines 10-jährigen Kindes zurückgeblieben ist, begründet wird, der Berechtigte aber jünger als das Pflegekind ist. Der gemeinsame Senat hat das Verfahren eingestellt, nachdem der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 6. Mai 1991 beschlossen hatte, daß er nicht an der im Urteil vom 6. September 1984 – BVerwG 2 C 37.82 – dargelegten Rechtsauffassung festhalte.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden, nachdem die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Die Revision der Klägerin ist begründet. Die Voraussetzungen für die Bejahung eines Kindergeldanspruches der Klägerin unter Berücksichtigung der T. als Kind sind erfüllt.
Entgegen der Auffassung des LSG kann der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht entnommen werden, daß es Voraussetzung des zeitlich unbegrenzten Kindergeldanspruches nach § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG ist, daß das behinderte Kind bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres in einem Kindschaftsverhältnis zum jetzigen Berechtigten gestanden hat. T. ist allein deshalb berücksichtigungsfähig, weil sie seit jeher wegen körperlicher und geistiger Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (Argument aus § 2 Abs 3 Satz 1 BKGG). Die vom LSG angeführte Rechtsprechung (BSGE 44, 106 = SozR 5870 § 2 Nr 5; BSG SozR 5870 § 2 Nr 35) besagt lediglich, daß ein Anspruch auf Kindergeld für ein behindertes Kind nach § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG nur besteht, wenn die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist. Dieses Ergebnis ist aus dem Wortlaut des § 2 Abs 4 BKGG (idF der Bekanntmachung vom 31. Januar 1975, BGBl I 412), der historischen Entwicklung des Normgehaltes von § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG, der Zielsetzung des Kindergeldes für behinderte Kinder sowie einem Vergleich mit dem System der Leistungen für Kinder in anderen öffentlich-rechtlichen Leistungsbereichen abgeleitet worden. Die Auslegung wurde auch im Hinblick auf die mit Wirkung vom 1. Januar 1982 geltende Fassung des § 2 Abs 4 BKGG (durch das 9. BKGG-Änderungsgesetz vom 22. Dezember 1981, BGBl I 1566) bestätigt (BSG SozR 5870 § 2 Nr 35 S 117, 118). Die genannte Anspruchsvoraussetzung wird von der T., die seit ihrer Geburt körperlich und geistig behindert ist, unzweifelhaft erfüllt. Hingegen sind schon dem Gesetzeswortlaut keinerlei Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß ein Anspruch in Fällen ausgeschlossen sein soll, in denen die Behinderung seit dem Kindesalter besteht und lediglich die Person der Berechtigten im Erwachsenenalter des Kindes wechselt. Eine solche Begrenzung widerspräche auch Sinn und Zweck der Kindergeldregelung für behinderte Kinder. Diesen soll, soweit die Behinderung seit der Geburt besteht oder innerhalb des Regelleistungszeitraumes eingetreten ist, Kindergeld über den Zeitpunkt des ohne die Behinderung sonst eintretenden Leistungswegfalles hinaus gezahlt werden. Hingegen konnte der Gesetzgeber von einer geringeren Schutzbedürftigkeit desjenigen Personenkreises ausgehen, der bereits in das Erwerbsleben eingetreten ist, sich aus dem Familienverband gelöst und im Regelfall eine eigenständige soziale Sicherung erlangt hat (BSGE 44, 106, 111, 12 = SozR 5870 § 2 Nr 5 S 16, 17). Die zuletzt genannte Erwägung trifft auf die vorliegende Fallkonstellation nicht zu. Auch der Wechsel des Berechtigten läßt die Schutzbedürftigkeit des Pflegekindes unverändert bestehen.
Die Entscheidung hängt deshalb davon ab, ob T. als Pflegekind der Klägerin im Sinne der Begriffsbestimmung des BKGG anzusehen ist. § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG idF vom 21. Januar 1986 (BGBl I, S 221), auf welche es für den Anspruch der Klägerin bis zum 7. Juli 1989 ankommt, definiert den Begriff der Pflegekinder im Klammerzusatz als „Personen, mit denen der Berechtigte durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat”.
Die Voraussetzung eines „familienähnlichen, auf längere Dauer berechneten Bandes” im Sinne des Klammerzusatzes zu § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG ist zwischen der T. und der Klägerin als Berechtigter erfüllt. Erforderlich ist hierfür nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl nur BSGE 13, 265, 267f; 15, 239, 242f; 17, 265, 267; BSG SozR 5870 § 2 Nr 16; BSGE 45, 67, 69; BSG SozR 5870 § 2 Nr 54) und nach der Rechtsprechung des BVerwG (BVerwG Buchholz 235 § 18 BBesG Nr 4; Urteil vom 31. Mai 1990 – 2 C 43/88 –), daß das Pflegekindschaftsverhältnis durch ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis auf der Grundlage einer ideellen Dauerbindung gekennzeichnet ist. Nicht ausreichend ist es, daß das Pflegekind nur „Kostgänger” ist, sondern es muß vielmehr wie „zur Familie gehörig” behandelt und angesehen werden. Diesen Anforderungen liegt die Vorstellung zugrunde, daß das Verhältnis demjenigen zwischen leiblichen Eltern und ihren Kindern ähnelt. Die Entstehung eines so gekennzeichneten „Pflegekindschaftsverhältnisses” ist nicht allein durch die Volljährigkeit des Pflegekindes ausgeschlossen (BSG-Urteil vom 29. Juli 1982 – 10 RKg 4/82 – unter Hinweis auf BSG SozR 5870 § 2 Nr 27, 28). Entsprechend dem gewöhnlichen Verhältnis von Eltern zu ihren leiblichen Kindern werden bei volljährigen Pflegekindern die Elemente der Aufsicht, Erziehung und Betreuung – je nach Fallgestaltung – ebenfalls zurücktreten, ohne daß die ideelle Dauerbindung entfällt. Indizwirkung dafür, daß das Pflegekind wie „zur Familie zugehörig” angesehen und behandelt wird, können emotionalen Bindungen und der psychischen Verfassung des Pflegekindes – insbesondere seiner Unfähigkeit zur eigenen Lebensgestaltung – zukommen (BSG-Urteil vom 29. Juli 1982 – 10 RKg 4/82 –).
Die Feststellungen, die das LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, rechtfertigen die Annahme eines auf Dauer angelegten familienähnlichen Bandes. Die Klägerin lebt mit ihrem Ehemann, den eigenen Kindern und T. wie eine Familie zusammen. Sie übernimmt für T. die persönliche und leibliche Sorge wie für ein Familienmitglied. Trotz des Altersunterschiedes sind als Folge der geistigen Retardierung Einflußmöglichkeiten und -notwendigkeiten gegeben. Die Klägerin erfüllt auch dadurch eine gewisse Aufsichts- und Erziehungsfunktion, daß sie als vormundschaftsgerichtlich bestellte Pflegerin bestimmte Angelegenheiten – insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht -wahrnimmt.
Der Annahme des für die Begründung eines Pflegekindschaftsverhältnisses erforderlichen „familienähnlichen Bandes” steht es nicht entgegen, daß das Pflegeverhältnis erst im Erwachsenenalter des Pfleglings begründet wurde und dieser erheblich älter als der Betreuende ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Pflegling in seiner geistigen Entwicklung auf dem Stand eines Kindes stehengeblieben ist. An dieser Auslegung des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG ist der Senat nicht durch das Urteil des BVerwG vom 6. September 1984 – 2 C 37.82 – (BVerwG Buchholz 235 § 40 BBesG Nr 4) gehindert. Der 2. Senat des BVerwG hat auf den Vorlagebeschluß des erkennenden Senates gemäß §§ 2 und 11 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (RechtsprEinhG) vom 19. Juni 1968 (BGBl I, S 661) mit Beschluß vom 6. Mai 1991 seine frühere Rechtsprechung zu § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 6 BKGG (idF vom 21. Januar 1982, BGBl I S 13) aufgegeben (§ 14 RechtsprEinhG).
Eine Divergenz zur Entscheidung des Bundesfinanzhofes (BFH) vom 4. April 1975 – VI R 218/72 – (BStBl 1975 II S 636) zur Begründung eines Pflegekindschaftsverhältnisses iS von § 32 Abs 2 Ziff 3f des Einkommensteuergesetzes (EStG) idF vom 1. Dezember 1971 (BGBl I S 1881) ist schon deshalb zu verneinen, weil vor der Neugestaltung des steuerlichen Familienlastenausgleiches durch das Gesetz zur leistungsfördernden Steuersenkung und zur Entlastung der Familie vom 26. Juni 1985 (BGBl I S 1153) der Begriff des Pflegekindes im Steuerrecht und im Kindergeldrecht unterschiedliche Funktionen und Zweckrichtungen beinhaltete. Eine einheitliche Auslegung war nicht zwingend geboten (BFH -GS- in BStBl 1971 II S 274).
Allerdings hat auch das BSG in einer Entscheidung als Voraussetzung für die Herstellung einer familienähnlichen Dauerbindung gefordert, daß zwischen einer Berechtigten und dem Pflegekind ein Altersunterschied wie zwischen Eltern und leiblichen Kindern bestehen müsse (BSG SozR 5870 § 2 Nr 27), weil es sich um eines derjenigen Merkmale handle, aus denen sich ein natürliches Aufsichts-, Erziehungs- und Betreuungsverhältnis ähnlich einer Eltern-Kind-Beziehung ergebe. In der zitierten Streitsache mußte jedoch nicht geklärt werden, ob dies auch dann gilt, wenn das Pflegekind in seiner Entwicklung einem Kinde gleichsteht. In früheren Entscheidungen ist hingegen ausdrücklich betont worden, daß das Erfordernis eines erheblichen Altersunterschiedes nur für geistig gesunde Pflegekinder gelte (BSGE 15, 239, 242f; 17, 265, 267).
In zusammenfassender Würdigung der Entwicklung ist die Rechtsprechung dahingehend fortzuführen, daß das Lebensalter von „Pflegekind” und Berechtigter der Begründung einer familienähnlichen Dauerbindung nicht entgegensteht, wenn der zu Pflegende in seiner geistigen Entwicklung einem Kinde gleichsteht. In Fällen der vorliegenden Art könnte dem Altersunterschied und dem Zeitpunkt der Begründung des Pflegekindschaftsverhältnisses nur Bedeutung zugemessen werden, wenn auch die äußeren Merkmale einer „Eltern-Kind-Beziehung” Voraussetzung für einen Kindergeldanspruch wären.
Eine derartige Auslegung findet im Gesetzeswortlaut keine Stütze. Nach der gesetzlichen Definition des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG werden „als Kinder” Personen berücksichtigt, die ua durch ein familienähnliches Band mit dem Berechtigten verbunden sein müssen. Ein „familienähnliches Band” setzt einen bestimmten Altersunterschied nicht voraus. Darüber hinaus spricht das Gesetz in § 2 Abs 1 Nr 2 BKGG nicht von „Pflegeeltern”, sondern weist dem „Berechtigten” den Kindergeldanspruch zu.
Auch systematische Erwägungen sprechen gegen eine Begriffsbildung des „Pflegekindes” iS von § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG, die an die äußeren Merkmale einer Eltern-Kind-Beziehung anknüpft. Eine einheitliche Begriffsbestimmung des „Pflegekindes”, der in ganz unterschiedlichen Regelungszusammenhängen Verwendung findet, kennt die Rechtsordnung nicht (vgl nur Schwab/Cenz, Soll die Rechtsstellung der Pflegekinder unter Berücksichtigung des Familien-, Sozial- und Jugendrechts neu geregelt werden, Gutachten für den 54. Deutschen Juristentag, 1982, S 71 ff; Feil, Das Pflegekindschaftsverhältnis im öffentlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland außerhalb des Pflegekinderschutzes, RdJB 1976, S 70 ff). Aus den unterschiedlichen gesetzlichen Definitionen des Pflegekindes (vgl etwa § 27 des Jugendwohlfahrtsgesetzes -JWG-; § 15 Abs 2 Nr 3 der Abgabenordnung -AO-; § 56 Abs 2 Satz 1 Nr 4 des Sozialgesetzbuches, Allgemeiner Teil, -SGB I-; § 16 Abs 5 Satz 1 Nr 8 und Satz 2 Nr 3 des Sozialgesetzbuches, Zehntes Buch -SGB X-) wird hinreichend deutlich, daß auf eine „natürliche Betrachtungsweise” nicht zurückgegriffen werden kann; der Pflegekindbegriff ist vielmehr unter Berücksichtigung seiner Funktion im jeweiligen Regelungsbereich zu ermitteln.
Aus der Zielsetzung der Kindergeldgesetzgebung ergibt sich, daß Fälle der vorliegenden Art grundsätzlich nicht ausgeklammert werden können. Die Gewährung von Kindergeld als staatlicher Leistung dient dem allgemeinen sozialpolitischen Zweck des Familienlastenausgleichs. Der Aufwand, insbesondere die wirtschaftliche Belastung, der Familien mit Kindern entsteht, soll im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten des Staates teilweise ausgeglichen und zum Teil von der Allgemeinheit getragen werden. Die genannte Belastung wird nicht allein als familienrechtliche Angelegenheit verstanden, sondern als wichtige gesellschaftliche Verpflichtung eines sozialen Rechtsstaates angesehen. Dieser Verpflichtung entspricht das BKGG durch eine Begünstigung derjenigen Familie, in der das Kind dauernd lebt. Wer Kindern eine Heimstatt bietet und sich um ihr persönliches Wohl sowie um ihre Erziehung kümmert, soll für die damit verbundenen finanziellen, mindestens aber persönlichen Opfer einen Ausgleich von der Gesellschaft erhalten (BVerfGE 22, 163, 169, 173; 23, 258, 263; BSG SozR 5870 § 3 Nr 3 und § 2 Nr 46). Maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Gewährung von Kindergeld ist also weder die lebenslange Eltern-Kind-Beziehung noch die Belastung durch eine bürgerlich-rechtliche Unterhaltsverpflichtung, sondern es handelt sich um eine Begünstigung derjenigen Familie, in der das Kind seinen Lebensmittelpunkt hat (BSGE 44, 106, 112 = SozR 5870 § 2 Nr 5). Dies ergibt sich, worauf bereits das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hingewiesen hat (BVerfGE 22, 163, 169, 173; 23, 258, 263f), insbesondere aus der Rangfolge der Anspruchsberechtigten nach § 3 Abs 2 Satz 1 BKGG. Ausschlaggebend ist nach dieser gesetzlich festgelegten Rangfolge nicht der Verwandtschaftsgrad, sondern der Umstand, in wessen Obhut sich das Kind befindet (BT-Drucks IV/818 S 13 zu § 3 Abs 2). Dementsprechend sind die Pflegeeltern grundsätzlich vor den leiblichen Eltern anspruchsberechtigt.
Die aufgezeigte Zielsetzung des BKGG verdeutlicht, daß das Lebensalter und das Bestehen eines Altersunterschiedes keine Voraussetzung des Pflegekindbegriffes iS des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG sind, wenn das Pflegekind in der Entwicklung auf dem Stande eines Kindes zurückgeblieben ist. Sachlich einleuchtende Gründe für eine Ungleichbehandlung gegenüber Pflegekindverhältnissen, in denen der in seiner Entwicklung einem Kind gleichstehende Pflegling zusätzlich die Voraussetzungen iS der früheren Rechtsprechung des BVerwG erfüllt, sind, gemessen am Charakter und Zweck der Kindergeldgewährung, was erforderlich wäre (vgl zum Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 Grundgesetz iVm dem Sozialstaatsprinzip etwa BVerfGE 27, 142, 148f – Kinderzuschlag für Enkelpflegekinder im Besoldungsrecht –; BVerfGE 39, 316, 326, 327 – Kinderzuschuß zur Rente –), nicht gegeben. Beide Fallgestaltungen unterscheiden sich weder hinsichtlich des geregelten Lebenssachverhaltes, noch hinsichtlich der Bedarfssituation für den Berechtigten, der das geistig behinderte Kind im Rahmen des Familienverbandes betreut oder unterhält.
Der Ausnahmesituation der körperlich, seelisch oder geistig Behinderten wird der Gesetzgeber in besonderer Weise gerecht, indem er für diese auch über das 27. Lebenjahr hinaus Kindergeld zuerkennt, sofern deren Behinderung bereits vor diesem Zeitpunkt bestanden hatte. Dem genannten Personenkreis soll, wie auch andere gesetzliche Regelungen deutlich machen (so beispielsweise das Schwerbehindertengesetz), und worauf gerade auch das BKGG abstellt, besondere Hilfe und Unterstützung in allen Lebensbereichen zukommen. Aus dieser Sicht wäre es unverständlich, wenn die Begünstigung gerade denjenigen Familien nicht zugebilligt werden könnte, die einen geistig behinderten Menschen, gleich welchen Alters, in ihren Haushalt aufnehmen und betreuen und dadurch bekanntermaßen schwere Belastungen auf sich nehmen. Wollte man diese Personen für ihre den Behinderten zukommende außergewöhnliche Hingabe nicht honorieren, würde dies dem Wohle des geistig Behinderten eindeutig entgegenstehen und damit der Zweck des BKGG ins Leere gehen. Der Gesetzgeber hat allein für den Fall, daß eine gebrechliche Person alleinstehend ist, Kindergeld über das 27. Lebensjahr hinaus nicht zugestanden (§ 14 Abs 1 Satz 3 BKGG). In anderen Fällen wie dem vorliegenden geht also auch der Gesetzgeber von der Zahlung von Kindergeld aus.
Für eine Differenzierung kann schließlich auch nicht angeführt werden, daß die vom Senat vorgenommene Auslegung des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG im Ergebnis dazu führe, daß nahezu jedes Pflegeverhältnis als Pflegekindschaftsverhältnis angesehen werden müsse (so BVerwG im Urteil vom 6. September 1984 unter Hinweis auf das Urteil des BFH vom 4. April 1975, BStBl 1975 II S 636). Weiterhin ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die dargelegten Merkmale eines Pflegekindschaftsverhältnisses erfüllt sind. Wenn die Entwicklung eines durch Mongolismus Behinderten auf der Stufe eines (hier: zehnjährigen) Kindes stehengeblieben ist,
kann dem Lebensalter keine entscheidende Bedeutung zugemessen werden, auch wenn dies bei Nichtbehinderten der Fall sein sollte. Das Erfordernis eines „familienähnlichen, auf längere Dauer berechneten Bandes” stellt hinreichend sicher, daß Kindergeld bei einem Pflegeverhältnis ohne ideelle Dauerbindung nicht zu zahlen ist.
Die Klägerin hat T. auch im Sinne des Klammerzusatzes zu § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG in ihren Haushalt aufgenommen. Für das Tatbestandsmerkmal der Aufnahme in den Haushalt sind die tatsächlichen Umstände maßgebend, unter denen das Kind lebt, wo es untergebracht ist und wo es betreut wird (Urteile des erkennenden Senats vom 18. Januar 1990 – 10 RKg 24/88 – und – 10 RKg 25/88 –). Diese Voraussetzungen lagen bereits vor dem Tode des früheren Beigeladenen vor. Die Klägerin lebt mit T. nicht nur räumlich zusammen, sondern versorgt und betreut diese auch persönlich. Rechtlich unerheblich ist es, ob die Klägerin und der frühere Beigeladene einen gemeinsamen Haushalt geführt haben. Dies ergibt sich aus § 3 Abs 2 Satz 2 BKGG. Die genannte Vorschrift bestimmt die Rangfolge der konkurrierenden Ansprüche der Eltern und der Pflegeeltern, wenn beide in einem gemeinsamen Haushalt leben. Die Vorschrift setzt mithin voraus, daß eine Kindergeldberechtigung von Eltern und Pflegeeltern nebeneinander bestehen kann, obwohl beide in einem gemeinsamen Haushalt wohnen (vgl die genannten Urteile des erkennenden Senats vom 18. Januar 1990). Der schriftliche Verzicht des früheren Beigeladenen begründet den Vorrang des Kindergeldanspruches der Klägerin nach § 3 Abs 2 Satz 2 BKGG.
Auch die Ergänzung der Begriffsbestimmung des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG durch Art 1 Nr 2 Buchst a des Zwölften Gesetzes zur Änderung des BKGG vom 30. Juni 1989 (BGBl I S 1294) führt zu keiner anderen Beurteilung. Nach der mit Wirkung vom 8. Juli 1989 geltenden Fassung sind der bisherigen Definition die Worte „und ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen diesen Personen und ihren Eltern nicht mehr besteht” hinzugefügt worden. So liegen die Dinge hier. Der frühere Beigeladene und leibliche Vater von T. wurde nach den Feststellungen des LSG ebenfalls von der Klägerin versorgt. Er war mithin außerstande, seiner Tochter T.
Obhut und Pflege angedeihen zu lassen, so daß auch ein Pflegeverhältnis iS der Neufassung zu verneinen ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen