Entscheidungsstichwort (Thema)
Kostenübernahme einer In-vitro-Fertilisation
Leitsatz (amtlich)
Im Leistungsrecht der Krankenversicherung ist die künstliche Befruchtung bei Verwendung fremder Eizellen (heterologe In-vitro-Fertilisation) kein Mittel zur Behandlung der Unfruchtbarkeit.
Orientierungssatz
Bei der Frage, ob eine Krankheit vorliegt, ist nach feststehender Rechtsprechung auf das Bestehen eines regelwidrigen Körper- oder Geisteszustandes abzustellen, der vom Leitbild des gesunden Menschen abweicht, nämlich darauf, ob der Versicherte zur Ausübung der normalen psychophysischen Funktionen in der Lage ist oder nicht (vgl BSG vom 12.11.1985 3 RK 48/83 = BSGE 59, 119). Daher kann es nicht zweifelhaft sein, daß die schicksalhafte Unfruchtbarkeit einer im geburtsfähigen Alter stehenden Frau als eine in diesem Sinne vorliegende Normabweichung anzusehen ist (vgl BSG aaO). Da die Unfruchtbarkeit die Unfähigkeit darstellt, eigene Nachkommen zu erzeugen, also eine Empfängnis zu bewirken, mag bei einer homologen In-vitro-Fertilisation, bei der die der Frau entnommenen Eizellen außerhalb des Mutterleibes mit dem Samen des Mannes befruchtet werden, diese Unfähigkeit zu einem Funktionsausgleich gebracht werden.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Fassung: 1974-08-07; SGB V § 27 S. 5 Fassung: 1988-12-20
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 09.05.1989; Aktenzeichen L 1 Kr 44/88) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 23.09.1988; Aktenzeichen S 7 Kr 30/87) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin ärztliche Leistungen zur künstlichen Befruchtung durch Einpflanzung fremder, mit Samen des Ehemannes befruchteter Eizellen (heterologe In-vitro-Fertilisation) zu erbringen hat und bereits angefallene Kosten erstatten muß.
Die im Jahre 1952 geborene, sei 1976 verheiratete und bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin ist infolge einer medizinisch indizierten Entfernung beider Eierstöcke seit 1985 unfruchtbar. Nach einem erfolglosen Versuch einer In-vitro-Fertilisation (April 1986) beantragte die Klägerin am 7. November 1986 bei der Beklagten, die Kosten eines in Wien durchzuführenden zweiten Fertilisationsversuchs zu übernehmen. Auch dieser Versuch war erfolglos. Die Beklagte hat den Antrag mit der Begründung abgelehnt, daß eine solche Fertilisation nicht Gegenstand der vertragsärztlichen Behandlung sei, ganz abgesehen davon, daß ein etwaiger Leistungsanspruch ruhe, da die Klägerin freiwillig und ohne Zustimmung der Kasse sich zur Behandlung ins Ausland begeben habe (Bescheid vom 11. Februar 1987/Widerspruchsbescheid vom 29. Mai 1987).
Die Klägerin hat Klage erhoben und geltend gemacht, sie wolle sich demnächst an einer inländischen Universitätsklinik erneut einem solchen Versuch der künstlichen Befruchtung unterziehen. Ihre Anfechtungs-, Leistungs- und Feststellungsklage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen. In der Berufung hat sie vorgebracht: Die Aussage des medizinischen Sachverständigen ergebe entgegen der Auffassung des Sozialgerichts, daß sie aufgrund ihres unerfüllten Kinderwunsches bereits seelisch krank sei. Dieser Zustand sei durch die In-vitro-Fertilisation ärztlich behandelbar. Im April 1989 würden ihr in Brüssel Eizellen ihrer Schwester, befruchtet vom Samen ihres - der Klägerin - Ehemannes, eingepflanzt.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen. Der Anspruch der Klägerin richte sich auf Leistungen, die weder in der Reichsversicherungsordnung (RVO) noch im Arzt-/Ersatzkassenvertrag vorgesehen seien. Durch § 27 Satz 5 des Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) werde seit dem 1. Januar 1989 mit dem Inkrafttreten des Gesundheitsreformgesetzes bestimmt, daß Leistungen für eine künstliche Befruchtung nicht zur Krankenbehandlung gehören. Auch für die Zeit davor bestehe kein Anspruch. Da die Klägerin keine eigenen Eizellen habe, könne sie sich auch bei einer künstlichen Befruchtung nicht mehr selbst fortpflanzen. Lindern lassen sich allenfalls die vom unerfüllbaren Kinderwunsch ausgehenden seelischen Auswirkungen. Ihr seelisches Leiden durch künstliche Erzeugung eines für sie biologisch fremden Kindes zu lindern, sei unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr als eine Behandlung der Klägerin zu verstehen.
Die Klägerin hat Revision eingelegt. Aufgrund des Schutzes der Familie durch das Grundgesetz (GG) sei allein entscheidend, daß der Samen ihres Ehemannes mit einer fremden Eizelle befruchtet und von ihr aufgezogen werde. Insoweit müsse ein Ehepaar durch das Grundgesetz geschützt werden, insbesondere unter dem Blickpunkt, daß die Beklagte auch Abtreibungen und Sterilisationen, wenn auch begründete, bezahle. Ihr seelisches Leiden könne gerade dadurch geheilt werden, daß sie die Möglichkeit erhalte, eine Eizelle, befruchtet mit dem Samen des Ehemannes, aufzuziehen.
Die Klägerin stellt den Antrag,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 9. Mai 1989 und des Sozialgerichts Lübeck vom 23. September 1988 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11. Februar 1987/Widerspruchsbescheid vom 29. Mai 1987 zu verurteilen, ihr die Kosten der im Herbst 1986 in Wien versuchten heterologen In-vitro-Fertilisation zu erstatten und festzustellen, daß die Beklagte weitere derartige Behandlungsversuche zu tragen oder ihr die Kosten dafür zu erstatten hat.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Nach § 27 Satz 5 des am 1. Januar 1989 aufgrund des Gesundheitsreformgesetzes (GRG) in Kraft getretenen SGB V gehören Leistungen für eine künstliche Befruchtung nicht zur Krankenversicherung. Aber auch aus dem bis dahin in Geltung gewesenen § 182 RVO war für den Versicherten kein Anspruch der hier streitigen Art herzuleiten. Das gilt auch für das Ersatzkassenrecht (vgl §§ 507, 508 RVO iVm § 1 Ziffer 4a des Arzt-Ersatzkassenvertrages). Demnach umfaßt die Krankenpflege diejenige ärztliche Leistung, die "zur Erkennung, Heilung oder Linderung einer Krankheit im Sinne der RVO erforderlich" ist. Zwar handelt es sich bei der Sterilität der sich im geburtsfähigen Alter befindlichen Frau um eine Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung. Bei der Frage, ob eine Krankheit vorliegt, ist nach feststehender Rechtsprechung auf das Bestehen eines regelwidrigen Körper- oder Geisteszustandes abzustellen, der vom Leitbild des gesunden Menschen abweicht, nämlich darauf, ob der Versicherte zur Ausübung der normalen psychophysischen Funktionen in der Lage ist oder nicht (BSGE 59, 119, 120 mwH). Daher kann es nicht zweifelhaft sein, daß die schicksalhafte Unfruchtbarkeit einer im geburtsfähigen Alter stehenden Frau als eine in diesem Sinne vorliegende Normabweichung anzusehen ist (BSGE aaO). Da die Unfruchtbarkeit die Unfähigkeit darstellt, eigene Nachkommen zu erzeugen, also eine Empfängnis zu bewirken, mag auch bei einer homologen In-vitro-Fertilisation, bei der die der Frau entnommenen Eizellen außerhalb des Mutterleibes mit dem Samen des Mannes befruchtet werden, diese Unfähigkeit zu einem Funktionsausgleich gebracht werden. Das ist bei der hier streitigen heterologen In-vitro-Fertilisation jedoch nicht (mehr) der Fall. Zwar ist sie darauf gerichtet, die Klägerin ein Kind austragen und gebären zu lassen, nicht jedoch auf die Möglichkeit, eigene Nachkommen zu gebären. Die Klägerin kann infolge der Entfernung der Eierstöcke keine eigenen Kinder zur Welt bringen. Diese physische Anomalie kann aber durch das hier streitige Behandlungsverfahren nicht zu einem Ausgleich gebracht werden. Ihre Krankheit, keine eigenen Kinder haben zu können, wird damit auch nicht insoweit und dadurch gelindert, als diese Behandlung auf das Austragen und Gebären eines nicht-eigenen Kindes gerichtet ist und daß sie erfolgreich zu einer Geburt führt. Insofern fehlt dem streitigen Behandlungsmittel die Eigenschaft, die Krankheit der Klägerin zu heilen, zu lindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten. Der Klägerin steht daher der streitige Anspruch nicht zu. Inwiefern dies verfassungswidrig sein soll, ist weder ersichtlich noch von der Klägerin näher dargelegt worden.
Daß das Leiden der Klägerin an ihrer Unfruchtbarkeit den Charakter und die Schwere einer seelischen Erkrankung habe, die nur durch die streitige künstliche Befruchtung zu heilen oder wesentlich zu lindern sei, wurde vom LSG nicht festgestellt und die Klägerin hat dies auch nicht durch eine ordnungsgemäß erhobene Verfahrensrüge bemängelt (vgl § 163 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Die Revision konnte demnach keinen Erfolg haben; sie war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen