Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld für alleinstehendes Kind. Kenntnis vom Aufenthalt
Leitsatz (amtlich)
Die Nichtkenntnis vom Aufenthalt der Eltern - als Voraussetzung für die Gewährung von Kindergeld an das Kind selbst - ist nach subjektiven Maßstäben zu beurteilen.
Orientierungssatz
Aus § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG, nach dem Kindergeld nicht zusteht, wenn der anspruchstellende Elternteil keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, kann keine Einschränkung des § 1 Abs 2 BKGG dahingehend entnommen werden, es müsse über die hierin festgelegten Voraussetzungen hinaus auch feststehen, daß die Eltern des Kindes ihren Aufenthalt nicht außerhalb Deutschland haben.
Normenkette
BKGG § 14 Abs. 1 S. 1, § 1 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Kindergeld für sich selbst.
Die im Jahre 1969 geborene Klägerin ist die nichteheliche Tochter der Beigeladenen zu 2); ein Vaterschaftsfeststellungsverfahren wurde nicht durchgeführt. Zum 1. Oktober 1987 verließ die Klägerin die Familie H., bei der sie als Pflegekind gelebt und deren Namen sie angenommen hatte, und bezog eine eigene Wohnung. Während der Berufsausbildung erhielt bzw erhält sie Leistungen nach dem Berufsausbildungsförderungsgesetz (BAföG) bzw Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von der Landeshauptstadt Hannover (Beigeladene zu 1). Die Beklagte lehnte ihren Antrag auf Gewährung von Kindergeld ab (Bescheid vom 26. Januar 1988, Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 1988).
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 4. September 1990). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 26. März 1991 zurückgewiesen. Die Klägerin sei nach § 1 Abs 2 Nr 2, § 14 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) selbst anspruchsberechtigt, da sie keine Kenntnis von dem tatsächlichen Aufenthalt ihrer Mutter habe. Zwar reiche die bloße Behauptung eines Kindes, den derzeitigen Aufenthalt der Eltern nicht zu kennen, im Hinblick auf den sozialrechtlichen Mitwirkungsgrundsatz der §§ 60 ff Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) für die Anspruchsberechtigung nicht aus. Allerdings sei diese Mitwirkungspflicht nach § 65 Abs 1 Nr 3 SGB I begrenzt, wenn sich der Leistungsträger die erforderlichen Kenntnisse im Rahmen der Amtshilfe durch einen geringeren Aufwand als der Antragsteller selbst beschaffen könne. Die grundsätzlichen Anforderungen an die Nichtkenntnis des Aufenthaltsortes könnten jedoch dahinstehen, da die Mutter - die Beigeladene zu 2) - unter der zuletzt bekannten Anschrift nicht zu erreichen gewesen und eine ladungsfähige Anschrift auch später nicht bekannt geworden sei. Das LSG hat an die Beigeladene zu 2) öffentlich zugestellt.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 1 Abs 2 iVm § 14 BKGG, § 65 Abs 1 Nr 3 SGB I sowie § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Verletzung des § 1 Abs 2 BKGG folge aus der Grundsystematik dieses Gesetzes, das den Anspruch auf Kindergeld nicht dem Kind selbst, sondern einem für dieses anspruchsberechtigten Elternteil zuweise. Kein Anspruch bestehe, wenn der allein anspruchsberechtigte Elternteil keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG habe. An dieser Rechtslage habe sich auch durch die Einfügung des § 1 Abs 2 BKGG mit dem 11. Änderungsgesetz zum BKGG nichts geändert. Begünstigt würden diejenigen, deren Eltern verstorben oder verschollen seien (vgl Beschlußempfehlungen des Bundestages für Jugend, Familie und Gesundheit, BT-Drucks 10/3369, S 11). Das Merkmal der "Nichtkenntnis des Aufenthalts der Eltern" müsse anhand des Verschollenheitsbegriffes des § 1 Verschollenheitsgesetz (VerschG) ausgelegt werden, dh die Nichtkenntnis müsse objektiv feststehen. Nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt sei jedoch noch während des streitigen Zeitraumes im Jahre 1988 die Wohnanschrift der Mutter der Klägerin in Amsterdam bekannt gewesen. Ferner habe die Klägerin mit ihrer Mutter in gelegentlichem Briefkontakt gestanden. Weiterhin habe das LSG zu Unrecht auf § 65 Abs 1 Nr 3 SGB I verwiesen. Zum einen sei nicht erwiesen, daß der Ermittlungsaufwand für die Behörde geringer sei. Zum anderen hätte das LSG diese Ermittlungen, so es sie für nötig hielt, gemäß § 103 SGG selbst vornehmen müssen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 4. September 1990 und das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. März 1991 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin stellt keinen Antrag.
Die Beigeladene zu 1) beantragt,
die Revision zurückzuweisen und der Klage stattzugeben.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Kindergeld für sich selbst.
Dieser nach Maßgabe des § 14 BKGG bestehende Anspruch setzt, neben der Erfüllung der Voraussetzungen nach § 1 Abs 2 Nrn 1 und 3 BKGG, gemäß § 1 Abs 2 Nr 2 BKGG voraus, daß der Berechtigte "Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt".
Grundsätzlich werden nach dem Kindergeldrecht Zahlungen nicht den Kindern selbst, sondern den Eltern und solchen Personen, die elternähnlich mit dem Unterhalt von Kindern belastet sind, geleistet. Nachdem mehrere Fälle, in denen alleinstehenden Vollwaisen nach dem Tod der Eltern lediglich Kindergeld für ihre jüngeren Geschwister gewährt wurde, den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages beschäftigt hatten, räumte jedoch das 11. Gesetz zur Änderung des BKGG vom 27. Juni 1985 (BGBl I 1251) mit Wirkung vom 1. Januar 1986 diesem Personenkreis eine Anspruchsberechtigung für die eigene Person ein (vgl die Berichte des BT-Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit vom 5. Dezember 1984 zum 10. Änderungsgesetz - BT-Drucks 10/2563 S 3 und vom 21. Mai 1985 zum 11. Änderungsgesetz - BT-Drucks 10/3369 S 11). Die neu eingefügten Vorschriften begünstigen jedoch nicht nur Kinder, die bei ihren Geschwistern quasi-elterliche Funktionen wahrnehmen, vielmehr allgemein "alleinstehende Kinder" (so die Bezeichnung des Kreises der Anspruchsberechtigten nach § 1 Abs 2 Nr 2 BKGG in § 14 BKGG); die Gesetzgebungsmaterialien sprechen insoweit von Kindern, "bei denen nach dem Tode oder der Verschollenheit ihrer Eltern niemand die Elternstelle iS des Kindergeldrechts eingenommen hat" (BT-Drucks 10/3369 S 11).
Hieraus ergibt sich jedoch entgegen der Auffassung der Beklagten kein Maßstab für die Anforderungen, die an die Nichtkenntnis vom Aufenthalt der Eltern iS des § 1 Abs 2 Nr 2 BKGG zu stellen sind. Schon nach dem deutlich abweichenden Gesetzeswortlaut kann insoweit nicht der Verschollenheitsbegriff nach § 1 VerschG vom 15. Januar 1951 (BGBl I 63) maßgebend sein. Hiernach ist verschollen, "wessen Aufenthalt während längerer Zeit unbekannt ist, ohne daß Nachrichten darüber vorliegen, ob er in dieser Zeit noch gelebt hat oder gestorben ist, sofern nach den Umständen hierdurch ernstliche Zweifel an seinem Fortleben begründet werden". Auf diesen Verschollenheitsbegriff nehmen diejenigen Regelungen Bezug, nach denen ausnahmsweise Hinterbliebenenleistungen auch ohne Nachweis des Todes erbracht werden (so § 597, § 1271, § 1293 Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫, § 48, § 70 Angestelltenversicherungsgesetz ≪AVG≫, § 52 Bundesversorgungsgesetz ≪BVG≫). Für diese Fallkonstellationen eignet sich der strenge Maßstab nach § 1 VerschG, da hier der Nachweis des Todes durch eine naheliegende Vermutung seines Eintritts ("ernsthafte Zweifel an seinem Fortleben") ersetzt wird. Dementsprechend dient das Verfahren nach dem VerschG der Vorbereitung der Todeserklärung.
Das von der Klägerin begehrte Kindergeld ist jedoch keine Leistung an Hinterbliebene. Es steht vielmehr im Regelfall allen Einwohnern der Bundesrepublik Deutschland für ihre hier lebenden Kinder zu und soll nach der Neuregelung des § 1 Abs 2, § 14 BKGG nicht nur erweiternd auch Waisen gewährt werden, sondern allgemein in jenen Fällen nicht verloren sein, in denen kein Leistungsberechtigter für das Kind vorhanden ist.
Mangels sonstiger näherer Anhaltspunkte bleibt für die Auslegung der Formulierung "den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt" in § 1 Abs 1 Nr 2 BKGG allein der Wortlaut maßgebend. Für sein Verständnis ist die hiervon abweichende Fassung der Vorschriften über die öffentliche Zustellung (vgl ua § 33 SGG, § 203 Zivilprozeßordnung ≪ZPO≫, § 15 Verwaltungszustellungsgesetz ≪VwZG≫) oder die Abwesenheitspflegschaft (vgl ua § 15 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - ≪SGB X≫, § 1911 Bürgerliches Gesetzbuch ≪BGB≫), bedeutsam. Dort ist jeweils Voraussetzung, daß "der Aufenthalt ... unbekannt ist", also von niemandem, weder dem Antragsteller noch der Behörde, zu ermitteln ist; in diesen Fällen ist also ein objektiver Maßstab anzulegen. Demgegenüber ist § 1 Abs 2 Nr 2 BKGG erkennbar subjektiv ausgerichtet und stellt auf die Nichtkenntnis des das Kindergeld beanspruchenden Kindes ab.
Diese festzustellen obliegt in erster Linie der Beklagten; im Streitfall ist es auch Sache der Tatsacheninstanzen. Hierbei kann offenbleiben, wie zu verfahren ist, wenn das antragstellende Kind schuldhaft (grob fahrlässig oder vorsätzlich) Hinweisen über den Aufenthaltsort seiner Eltern nicht nachgeht. Aus § 1 Abs 2 Nr 2 BKGG läßt sich jedenfalls in keinerlei Hinsicht ein Verschuldensgrad entnehmen, bei dessen Vorliegen eine positive Kenntnis unterstellt werden könnte. Zu erwägen ist deshalb, ob nicht lediglich eine mißbräuchliche Nichtkenntnis einer Kenntnis iS des § 1 Abs 2 Nr 2 BKGG gleichgestellt werden kann (vgl die zivilgerichtliche Rechtsprechung zur ≪Nicht-≫ Kenntnis der Person des Schädigers im Rahmen des § 852 BGB, zB BGH vom 5. Februar 1985, NJW 1985, 2022 = SozVers 1986, 54).
Der vorliegende Fall nötigt freilich in keinerlei Hinsicht zu Ausführungen in dieser Richtung. Das LSG hat festgestellt, daß die Klägerin den derzeitigen Aufenthalt ihrer Mutter, der Beigeladenen zu 2), nicht kennt. Dies ist aufgrund der vom LSG weiterhin getroffenen tatsächlichen Feststellungen auch nachvollziehbar. Hiernach hält sich die Beigeladene zu 2) seit Jahren mit ständig wechselnden Wohnorten im außereuropäischen und europäischen Ausland (Italien, Holland) auf und sucht nur gelegentlich über Briefe an deren frühere Pflegeeltern Kontakt mit der Klägerin. Unter der zuletzt im Jahre 1988 bekannten Adresse in Amsterdam war sie nicht zu erreichen, auch später ist eine ladungsfähige Anschrift nicht bekannt geworden.
Diese Feststellungen sind für den Senat bindend (§ 163 SGG), da die Beklagte hiergegen Verfahrensrügen nicht erhoben hat. Soweit diese eine Verletzung des § 103 SGG geltend macht, wendet sie sich lediglich dagegen, daß das LSG erwogen hatte, eine Nichtkenntnis des Kindes von dem Aufenthalt seiner Eltern dann nicht anzunehmen, wenn der Aufenthalt durch einfache Nachforschungen zu ermitteln sei; darüber hinausgehende Anforderungen, insbesondere der Nachweis fruchtloser Bemühungen bei den zuständigen Behörden des letzten Aufenthaltsstaates, könnten jedoch nicht verlangt werden, da sich die Beklagte derartige Auskünfte im Wege der Amtshilfe in der Regel leichter als der Antragsteller beschaffen könne. Wenn die Beklagte meint, derartige Ermittlungen hätte das LSG nicht nur ihr auferlegen dürfen, vielmehr sei es nach § 103 SGG selbst verpflichtet gewesen, insoweit eigene Ermittlungen anzustellen, so geht das am vorliegenden Sachverhalt vorbei. Denn nach der oben näher erläuterten Auslegung des § 1 Abs 2 Nr 2 BKGG hat das LSG im zu entscheidenden Einzelfall hinreichende tatsächliche Feststellungen zur Ausfüllung des Tatbestandsmerkmals "Nichtkenntnis vom Aufenthalt der Eltern" getroffen. Es hat deshalb zu Recht ausdrücklich dahinstehen lassen, welche Anforderungen grundsätzlich an die Nichtkenntnis des Aufenthaltsortes zu stellen sind.
Für den Anspruch der Klägerin auf Kindergeld für sich selbst ist auch der Verdacht unerheblich, ihre Mutter halte sich im Ausland auf. Zwar steht Kindergeld nicht zu, wenn der anspruchstellende Elternteil keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat (§ 1 Abs 1 Nr 1 BKGG). Hieraus kann jedoch keine Einschränkung des § 1 Abs 2 BKGG dahingehend entnommen werden, es müsse über die hierin festgelegten Voraussetzungen hinaus auch feststehen, daß die Eltern des Kindes ihren Aufenthalt nicht außerhalb Deutschland haben. Denn das Erfordernis des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts des alleinstehenden Kindes ist bereits ausdrücklich in § 1 Abs 2 Nr 1 BKGG geregelt. Eine darüber hinausgehende weitere Einschränkung in dieser Richtung hätte daher ebenfalls der Erwähnung im Gesetzeswortlaut bedurft.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen