Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsunfähigkeit. Anfallsleiden. Verschlossenheit des Arbeitsmarktes
Leitsatz (amtlich)
Einem epileptischen Versicherten kann Erwerbsunfähigkeitsrente wegen Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarktes zustehen, wenn für sein Restleistungsvermögen geeignete Arbeitsplätze zwar vorhanden und allgemein zugänglich sind, jedoch bei den in Frage kommenden Arbeitgebern erhebliche, sachlich gerechtfertigte Vorbehalte gegen die Einstellung vergleichbarer Anfallsleidender bestehen.
Normenkette
SGB VI § 44
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 08.06.1994; Aktenzeichen L 8 An 61/93) |
SG Kiel (Urteil vom 15.07.1993; Aktenzeichen S 3 An 77/92) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 8. Juni 1994 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU).
Der 1940 geborene Kläger ist gelernter Bauschlosser. Bis 1984 arbeitete er als angestellter Montagemeister. Mit Rücksicht auf ein bei ihm festgestelltes Anfallsleiden wurde er von seinem Arbeitgeber sodann im Magazin eingesetzt. Nach einem Verkauf der Firma wurde dem Kläger gekündigt. Er bezog zunächst ab 1. Juli 1988 Arbeitslosengeld und anschließend ab 30. Mai 1990 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit (BU) sowie Arbeitslosenhilfe.
Im Februar 1992 beantragte der Kläger die Gewährung von Rente wegen EU. Nach medizinischer Sachaufklärung lehnte die Beklagte diesen Antrag mit Bescheid vom 24. Juni 1992 ab, weil der Kläger trotz seines Anfallsleidens noch in der Lage sei, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig tätig zu sein. Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 25. September 1992) erhob der Kläger beim Sozialgericht Kiel (SG) Klage. Unter Berücksichtigung von gutachtlichen Äußerungen des medizinischen Sachverständigen Prof. Dr. C.… und des berufskundigen Sachverständigen K.… hob das SG die angefochtenen Bescheide durch Urteil vom 15. Juli 1993 auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger ab Februar 1992 Rente wegen EU zu gewähren. Im anschließenden Berufungsverfahren hörte das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) nach Beiziehung von ärztlichen Befundberichten den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. T.… als medizinischen und den Verwaltungsamtsrat L.… als berufskundigen Sachverständigen. Durch Urteil des LSG vom 8. Juni 1994 wurde die Berufung der Beklagten sodann zurückgewiesen.
Das LSG hat seine Entscheidung im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger sei erwerbsunfähig. Aufgrund der bei ihm vorliegenden Grandmal-Epilepsie mit seltenen großen Anfällen, die in letzter Zeit hauptsächlich in der Aufwachphase aufgetreten seien, könne er allerdings noch vollschichtig leichte Arbeiten mit qualitativen Einschränkungen verrichten. Trotz dieses noch vollschichtigen Leistungsvermögens sei ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen. Bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern bestünden nämlich große Vorbehalte gegenüber Anfallsleidenden. Dies führe dazu, daß Arbeitgeber heutzutage nicht mehr bereit seien, solche Kranken einzustellen. Dies habe der berufskundige Sachverständige L.… überzeugend dargelegt. Er stimme insoweit auch mit dem in erster Instanz gehörten Sachverständigen K.… voll überein. Damit sei dem Kläger “wegen” seiner Erkrankung der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen.
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte insbesondere eine Verletzung des § 44 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) und macht dazu geltend: Die für den Kläger ärztlicherseits geforderten Arbeitsbedingungen, wie zB körperlich leichte Tätigkeit, kein Schichtdienst, nicht an laufenden Maschinen usw, könnten nicht als gravierende Einschränkung einer möglichen Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsfeld gewertet werden. Auch bedürfe der Arbeitsmarkt, dem der Kläger zur Verfügung stünde, keiner besonders günstigen, nicht üblichen Ausgestaltung, so daß es nicht an der Fähigkeit fehle, die Tätigkeit unter betriebsüblichen Bedingungen zu verrichten. Tätigkeitsbezogen liege kein krankheitsbedingter Leistungsausfall vor. Der Kläger sei somit auch nicht auf einen sogenannten Schonarbeitsplatz angewiesen. Habe der Kläger aber im Rahmen des hier maßgeblichen Verwaltungsbereiches des allgemeinen Arbeitsfeldes die volle Erwerbsfähigkeit, so könne die Tatsache, daß er an einer Epilepsie leide, nicht die Verschlossenheit des Arbeitsmarktes begründen.
Entgegen der Auffassung des LSG begründe die Beurteilung der berufskundigen Sachverständigen keine rechtserheblichen, einer Beschäftigung des Versicherten entgegenstehenden Hemmungen. In den Entscheidungsgründen des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 2. Juli 1965 – 5 RKn 34/61 – (BSG SozR Nr 11 zu § 48 Reichsknappschaftsgesetz ≪RKG≫) werde zwar der vom BSG geprägte Begriff der entgegenstehenden Hemmungen nicht definiert, der 5. Senat beziehe sich aber in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des 4. Senats vom 20. Dezember 1960 – 4 RJ 118/59 – (BSGE 13, 255 = SozR Nr 11 zu § 1246 RVO). Hiernach könnten entgegenstehende Hemmungen nur dann anerkannt werden, wenn der Versicherte infolge der nach der besonderen Sachlage gerechtfertigten Weigerung der Mitangestellten seine Arbeitskraft nicht mehr verwerten könne. Ein solcher Sachverhalt liege in dem hier zu entscheidenden Fall nicht vor. Eine gerechtfertigte Weigerung der übrigen Arbeitnehmerschaft sei nach dem bisherigen Vorbringen objektiv nicht zu begründen. Der Kläger stelle für die Arbeitnehmer in dem hier in Betracht kommenden Tätigkeitsbereich des allgemeinen Arbeitsfeldes keine unzumutbare Belastung dar, zumal er weder bei der Ausführung seiner Arbeitsaufgabe auf die Mithilfe Dritter angewiesen wäre noch die übrigen Belegschaftsmitglieder gefährden würde.
Darüber hinaus könnten die Aussagen der Sachverständigen zur fehlenden Bereitschaft der Arbeitgeber, Anfallsleidende einzustellen, nicht unwidersprochen hingenommen werden. Die Sachverständigenaussagen stünden in krassem Widerspruch zu den Ausführungen des stellvertretenden Leiters der Abteilung Arbeitsmarkt und Berufsbildung der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, E.… (Hinweis auf den Beitrag “Integration ist kein Rechenexempel” in der Zeitschrift Behinderte im Beruf 1994, 12 f). Unter diesen Voraussetzungen sei es nicht nur eine unbewiesene Hypothese, sondern auch eine unzulässige Pauschalierung, der Epilepsie generell eine vermittlungsausschließende Wirkung zuzuschieben. Im übrigen sei den Gutachten der Sachverständigen nicht zu entnehmen, ob bzw welche Vermittlungsbemühungen im Falle des Klägers unternommen worden seien. Wenn das LSG trotzdem keine Bedenken habe, den Sachverständigen zu folgen, gehe es von einem nicht existierenden typischen Geschehensablauf aus und verletze damit den Grundsatz der freien Beweiswürdigung.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des Sozialgerichts Kiel vom 15. Juli 1993 die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ergänzend vor: Das LSG habe verfahrensfehlerfrei festgestellt, daß für ihn der Arbeitsmarkt als verschlossen angesehen werden könne. Im Rahmen des § 128 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) genüge es, wenn sich ein Gericht seine Überzeugung aufgrund eines einzigen Beweismittels bilde. Das LSG habe sich sogar zweier Sachverständiger bedient. Die Revision greife die Beweiserhebung auch nicht in verfahrensrechtlich zulässiger Weise an. Soweit sie die Aussage des Sachverständigen angreife, führe sie unzulässig neuen Vortrag ein, indem sie lediglich einen Aufsatz von E.… dagegen stelle. Die Beklagte setze sich in ihrer Revisionsbegründung noch nicht einmal mit der Frage auseinander, welches positive Leistungsbild der Kläger aufweise. Sie verkenne, daß auch nach bisheriger Rechtsprechung des BSG eine Verweisung konkret sein müsse, dh nicht nur das positive Leistungsbild einer vorhandenen, beruflich in Frage kommenden Tätigkeit gegenüberzustellen sei, sondern daß diese Tätigkeit auch auf dem Arbeitsmarkt offen sei, also außenstehenden Bewerbern tatsächlich in nennenswerter Zahl angeboten werden können müsse.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen reichen nicht aus, um abschließend beurteilen zu können, ob der Kläger erwerbsunfähig ist.
Der Anspruch des Klägers auf EU-Rente richtet sich nach § 44 SGB VI, weil er sich ausschließlich auf Zeiten nach dem 31. Dezember 1991 bezieht (vgl § 300 Abs 1 und 2 SGB VI). Gemäß § 44 Abs 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen EU, wenn sie
- erwerbsunfähig sind,
- in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EU drei Jahre Pflichtbeitragszeiten haben und
- vor Eintritt der EU die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Erwerbsunfähig sind nach § 44 Abs 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das 1/7 der monatlichen Bezugsgröße übersteigt. Diese Vorschrift beschreibt den Versicherungsfall der EU im wesentlichen dahin, daß das Herabsinken der Fähigkeit, auf dem Arbeitsmarkt erwerbstätig zu sein und Einkommen zu erzielen, von einem bestimmten Grade an einen Rentenanspruch auslöst. Dazu hat das BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß das Leistungsvermögen an den konkreten Bedingungen des Arbeitsmarktes zu messen ist. Nur diejenigen Möglichkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt konkret feststellbar sind, können als Maßstab für die Fähigkeit eines Versicherten, Erwerbseinkommen zu erzielen, herangezogen werden (vgl zB BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 14 mwN).
Nach den Feststellungen des LSG leidet der Kläger an einer Grand-mal-Epilepsie mit seltenen großen Anfällen und einem Wirbelsäulenleiden ohne neurologische Ausfälle. Aufgrund dieses Gesundheitszustandes kann er zwar noch vollschichtig leichte Arbeiten (sowie bis halbschichtig mittelschwere Arbeiten mit Unterbrechungen) verrichten. Auszuschließen sind jedoch körperliche Zwangshaltungen, Kälte- und Nässeeinwirkungen, Arbeiten an nicht geschützten laufenden Maschinen oder mit Eigen- bzw Fremdgefährdung, Nachtdienst, Wechselschicht und besonderer Streß. Der Kläger kann kein Kraftfahrzeug führen, jedoch öffentliche Verkehrsmittel benutzen.
Die Fähigkeit des Klägers, iS von § 44 Abs 2 SGB VI eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben (oder mehr als nur geringfügiges Einkommen durch Erwerbstätigkeit zu erzielen), ist durch seine gesundheitlichen Einschränkungen aufgehoben, wenn es keine Tätigkeiten mehr gibt, die er mit den ihm verbliebenen Kräften und Fähigkeiten in dem erforderlichen Umfang verrichten kann. Das Tatsachengericht muß das Vorhandensein solcher Tätigkeiten im Wege der Amtsermittlung prüfen und sie unter bestimmten Voraussetzungen im Urteil konkret benennen. Eine derartige Benennungspflicht besteht jedenfalls dann, wenn die Arbeitsfähigkeit des Versicherten durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung gemindert ist. Zumindest in solchen Fällen ist nämlich fraglich, ob es Tätigkeiten gibt, deren Anforderungen er gewachsen ist (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nrn 8 und 14; dazu auch die Vorlagebeschlüsse des erkennenden Senats an den Großen Senat des BSG vom 23. November 1994 – 13 RJ 19/93, 13 RJ 71/93, 13 RJ 73/93 und 13 RJ 1/94 –).
Das LSG hat sich nicht dazu geäußert, ob der Kläger – unabhängig von der Zugänglichkeit entsprechender Arbeitsplätze – noch Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichten kann. Vielmehr hat es allein auf die Verschlossenheit des Arbeitsmarktes abgestellt, also darauf, ob der Kläger im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand noch eine reale Chance hat, am Erwerbsleben teilzunehmen.
Nach der Rechtsprechung des BSG, auf die sich das LSG ausdrücklich bezieht, darf ein leistungsgeminderter Rentenbewerber nicht auf solche Tätigkeiten verwiesen werden, die es auf dem Arbeitsmarkt nicht oder nur in so geringer Zahl gibt, daß der Arbeitsmarkt als verschlossen angesehen werden muß. In ihren Urteilen vom 25. Juni 1986 und 9. September 1986 (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 137, 139) haben der 4. und 5. Senat des BSG einen Katalog von Untergruppen solcher Tätigkeiten zusammengestellt, die von diesen Senaten im vorgenannten Sinne als “selten” eingestuft worden sind. Diese Auflistungen hat der 4. Senat in seinem Urteil vom 25. Januar 1994 (SozR 3-2200 § 1246 Nr 41) als abschließend bezeichnet. Anhand der Tatsachenfeststellungen des LSG vermag der erkennende Senat nicht darüber zu entscheiden, ob einer dieser Katalogfälle hier einschlägig ist.
Insbesondere ist nicht ersichtlich, ob der Kläger nur noch unter nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen tätig sein kann. Insoweit hätte es insbesondere näherer Feststellungen dazu bedurft, welche Vorkehrungen ggf am Arbeitsplatz zur Vermeidung von Eigen- und Fremdschäden wegen des Anfallsleidens des Klägers zu treffen sind. Ebensowenig läßt sich sagen, ob der Kläger nur noch in Teilbereichen eines Tätigkeitsfeldes einsetzbar ist. Den Feststellungen im Berufungsurteil ist auch nicht zu entnehmen, daß für den Kläger nur noch Arbeitsplätze in Betracht kämen, die regelmäßig betriebsintern besetzt werden (zB Schonarbeitsplätze, typische Aufstiegspositionen). Die vom LSG festgestellte ablehnende Haltung der Arbeitgeber gegenüber der Einstellung von Anfallsleidenden bezieht sich ersichtlich auf die Eigenschaften dieses Personenkreises, nicht jedoch auf die Art der für diese geeigneten Arbeitsplätze. Schließlich deutet auch nichts darauf hin, daß es sich hier um besondere Fälle handeln könnte, in denen es nahe liegt, daß ein in Betracht gezogener Arbeitsplatz trotz seiner tariflichen Erfassung nur in ganz geringer Zahl vorkommt.
Ist demnach mangels entsprechender Tatsachenfeststellungen des LSG davon auszugehen, daß der vorliegende Fall von dem fraglichen Katalog nicht erfaßt wird, so bleibt gleichwohl eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes aus anderen krankheitsbedingten Gründen möglich. Abgesehen davon, daß viel dafür spricht, daß der Katalog – entgegen der Annahme des 4. Senats des BSG – nicht abschließend ist (siehe dazu die Vorlagebeschlüsse des erkennenden Senats vom 23. November 1994, zB 13 RJ 19/93, Umdr S 18f), wollten der 4. und 5. Senat des BSG mit den Auflistungen in SozR 2200 § 1246 Nrn 137 und 139 ausdrücklich nur eine Zusammenstellung von Fallgruppen vornehmen, die ihrer Ansicht nach sog seltene Tätigkeiten betreffen. Dagegen handelt es sich hier nicht um arbeitsplatzbezogene, sondern um unmittelbar krankheits- (dh personen-)bezogene Einstellungshemmnisse. Es können dabei also durchaus an sich geeignete, generell auch von außen besetzbare Arbeitsplätze in ausreichender Zahl vorhanden sein. Entscheidend ist indes, daß sich Arbeitgeber (und ggf auch Belegschaften) gegen die Einstellung einer bestimmten Gruppe arbeitsuchender Versicherter – im Hinblick auf einen bei diesen vorliegenden besonderen Krankheitszustand – sperren.
Betroffen sind insoweit insbesondere die Fälle ansteckender und ekelerregender Krankheiten. Dazu ist das BSG in ständiger Rechtsprechung davon ausgegangen, daß diejenigen Versicherten, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt deshalb verschlossen oder besonders stark erschwert ist, weil sie an ekelerregenden oder ansteckenden Krankheiten leiden, nicht auf die Tätigkeiten verwiesen werden können, die sie an sich noch zumutbar verrichten könnten, es sei denn, sie hätten einen solchen Arbeitsplatz nicht nur Vergönnungsweise inne oder ihnen würde ein solcher Arbeitsplatz angeboten (vgl zB BSGE 31, 233, 234 = SozR Nr 86 zu § 1246 RVO; dazu auch Kunze SozVers 1979, 35, 37 mwN). Eine krankheitsbedingte Verschlossenheit des Arbeitsmarktes ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn die Ansteckungsgefahr groß ist oder die ekelerregenden Merkmale schwerwiegend sind (vgl BSGE 13, 255 = SozR Nr 11 zu § 1246 RVO; BSG Breithaupt 1970, 675). Dementsprechend hat bereits das Reichsversicherungsamt (AN 1925, 35) entschieden, daß die Weigerung der Mitangestellten gegenüber einem an einer ansteckenden Krankheit leidenden Arbeitnehmer nach der besonderen Sachlage gerechtfertigt sein muß, um bei diesem BU annehmen zu können (zustimmend BSGE 13, 255, 257).
Bei Anfallsleiden ist zu unterscheiden: Treten die Anfälle sehr häufig auf, sind damit insbesondere erhebliche Arbeitsunfähigkeitszeiten verbunden, so kann dadurch schon die Fähigkeit des Versicherten, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben, ausgeschlossen sein (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 14). Im übrigen kann ein schweres Anfallsleiden unübliche Arbeitsbedingungen erfordern, was bereits von dem “Katalog seltener Tätigkeiten” erfaßt wird.
Es bleiben die Fälle, in denen es hauptsächlich um subjektive Vorbehalte seitens der Arbeitgeber (und der Belegschaften) geht. Angesichts dieser subjektiven Ausprägung der Einstellungshindernisse kann eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes wegen Krankheit nur mit Zurückhaltung bejaht werden. Zum einen müssen die der Beschäftigung eines epileptischen Versicherten entgegenstehenden Hemmungen derart stark sein, daß ihm praktisch kein Arbeitsplatz zur Verfügung steht (vgl BSG SozR Nr 11 zu § 46 RKG mwN). Zum anderen kann nicht jedweder noch so starke Vorbehalt der Arbeitgeber oder der Belegschaften gegen Anfallsleidende – unabhängig davon, worauf er beruht – zu einem Rentenanspruch führen. Ebenso wie bei der Bedeutsamkeit häufiger Krankheitszeiten ist hier auf die Beurteilung “vernünftig und billig denkender Arbeitgeber” abzustellen (vgl dazu BSGE 9, 192, 194 f; BSG, Urteil vom 21. Juli 1992 – 4 RA 13/91 –). Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß es zu den Aufgaben der Arbeitsverwaltung gehört, unbegründete Vorbehalte der Arbeitgeber gegen die Einstellung behinderter Arbeitsuchender abbauen zu helfen (vgl § 2 Nr 4, §§ 13 ff des Arbeitsförderungsgesetzes ≪AFG≫). Stehen also bei der ablehnenden Haltung der Arbeitgeber sachwidrige, von unverständlichen Vorurteilen geprägte Gesichtspunkte im Vordergrund, so wird man regelmäßig nicht begründen können, daß der Versicherte “wegen Krankheit oder Behinderung” außerstande ist, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben.
Im Hinblick darauf kommt es in solchen Fällen für das Tatsachengericht darauf an, genau festzustellen, in welchem Ausmaß und aus welchen Gründen bezogen auf die für den betreffenden Versicherten noch in Betracht kommenden konkreten Tätigkeiten bei Arbeitgebern tatsächlich Vorbehalte gegen Anfallsleidende vorhanden sind, wobei wiederum auf den jeweiligen Schweregrad des vorliegenden Anfallsleidens abzustellen ist. Insgesamt ist eine besonders gründliche Sachverhaltsaufklärung geboten, die sich nicht nur auf den örtlichen Bereich und die Erfahrungen eines Arbeitsamtes beschränken sollte (vgl dazu allgemein BSGE 13, 255, 258f; BSG SozR Nr 11 zu § 46 RKG; BSG Breithaupt 1970, 675).
Diesen Kriterien hat das LSG nicht hinreichend Rechnung getragen, als es zu der Beurteilung gelangte, dem Kläger sei der Arbeitsmarkt verschlossen. In diesem Zusammenhang kann dahingestellt bleiben, ob die dieser Wertung zugrundeliegende allgemeine Feststellung, Arbeitgeber seien heutzutage nicht mehr bereit, Anfallsleidende einzustellen, als solche für den erkennenden Senat bindend ist oder ob die Beklagte insofern zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht hat (vgl § 163 SGG). Denn jedenfalls fehlen noch weitere geeignete Tatsachenfeststellungen, um beurteilen zu können, ob die Weigerung der Arbeitgeber angesichts der relativ geringen Schwere des Anfallsleidens des Klägers als sachlich gerechtfertigt angesehen werden kann. Insbesondere ist das LSG den Motiven der großen Vorbehalte, die seiner Auffassung nach bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern Anfallsleidenden gegenüber bestehen, nicht näher auf den Grund gegangen. Da der erkennende Senat die erforderlichen Ermittlungen nicht selbst nachholen kann, ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben wird.
Fundstellen
BSGE, 43 |
BB 1996, 911 |
Breith. 1996, 558 |