Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopferentschädigung. vorsätzlicher rechtswidriger tätlicher Angriff. Kind. natürlicher Vorsatz
Orientierungssatz
1. Täter eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG kann grundsätzlich auch ein erst 4 ½ jähriges Kind sein. Das OEG kennt insoweit keine starre Altersgrenze.
2. Der als "feindselige" Einwirkung auf den Körper eines anderen definierte tätliche Angriff erfordert nicht die Fähigkeit des Täters, seine Handlung moralisch zu bewerten. Feindseilig handelt bereits, wer (objektiv) gegen das Strafgesetz verstößt, indem er den Körper eines anderen verletzt (vgl BSG vom 4.2.1998 - B 9 VG 5/96 R = BSGE 81, 288 = SozR 3-3800 § 1 Nr 12). Die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen (also eine fehlende Einsichtfähigkeit), betrifft die Schuldfähigkeit des Täters, auf die es im Rahmen des § 1 OEG nicht ankommt.
3. Die mangelnde Fähigkeit zur oder der Verlust der Impulskontrolle macht den Täter zwar möglicherweise schuldunfähig, schließt aber ein Handeln mit natürlichem Vorsatz nicht aus (vgl BGH vom 15.10.2003 - 1 StR 402/03 = NStZ 2004, 324).
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1 S. 1; StGB § 19; BGB § 828 Abs. 2; BVG § 9 Nr. 4, § 36 Abs. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger begehren im Revisionsverfahren nur noch Bestattungsgeld nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Sie sind die Eltern des am 23.9.1991 geborenen und im Alter von 5 1/2 Jahren verstorbenen F. Dieser spielte am 19.2.1997 mit dem damals 4 1/2-jährigen Y. am Hochwasser führenden Fluss Nette. Dabei fiel er in den Fluss und ertrank.
Am 9.6.1998 beantragten die Kläger ua Bestattungsgeld. Der Beklagte lehnte diesen Antrag ab, weil ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff des Y. auf F. nicht nachgewiesen sei. Selbst wenn er geschubst worden sein sollte, lasse sich nicht feststellen, dass der zur Tatzeit 4 1/2-jährige "Täter" ihn bewusst in den Fluss gestoßen habe und eine Straftat habe begehen wollen (Bescheid vom 20.3.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.8.2000).
Das Sozialgericht (SG) Hildesheim hat ua die Klage auf Gewährung von Bestattungsgeld abgewiesen (Urteil vom 10.6.2004) . Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 19.7.2006), nachdem es das neuropädiatrisch-sozialpädiatrische Gutachten der Sachverständigen Dr. D. vom 25.4.2006 ua zur Frage der Einsichtsfähigkeit eines normal entwickelten 4 1/2-jährigen Kindes beigezogen hatte. Es hat seine Entscheidung hinsichtlich des begehrten Bestattungsgeldes auf folgende Erwägungen gestützt: Nach keiner der denkbaren Sachverhaltsvarianten liege ein vorsätzlicher tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG vor. Weitere Ermittlungen seien deshalb nicht erforderlich. Sollte F. ausgerutscht und in den Fluss gefallen sein, fehle es schon an einem Tatbeitrag von Y. Sollten die beiden gerangelt haben und F. hierbei abgerutscht und in den Fluss gefallen sein, hätte Y. allenfalls fahrlässig gehandelt. Auch wenn Y. den verstorbenen Sohn der Kläger entweder ohne äußeren Anlass oder im Rahmen einer Rangelei bzw eines Streits absichtlich in den Hochwasser führenden Fluss geschubst haben sollte, fehle ein tätlicher Angriff, zumindest aber der Vorsatz.
Die Kläger haben die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügen eine Verletzung von § 1 Abs 1 OEG. Das LSG hätte bei ausreichender Würdigung der Zeugenaussagen zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass sich Y. hinter F. gestellt und ihn dann mit beiden Händen ins Wasser geschubst habe. Y. habe dabei vorsätzlich gehandelt, denn auch ein schuldunfähiges, aber handlungsfähiges Kind könne mit natürlichem oder bedingtem Vorsatz einen rechtswidrigen tätlichen Angriff begehen.
Die Kläger haben in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundessozialgericht (BSG) ihr Begehren auf die Gewährung von Bestattungsgeld beschränkt.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 19.7.2006, das Urteil des SG Hildesheim vom 10.6.2004 sowie den Bescheid des Beklagten vom 20.3.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.8.2000 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihnen wegen des Todes ihres Sohnes F. am 19.2.1997 Bestattungsgeld nach dem Opferentschädigungsgesetz zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 19.6.2006 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Er hält eine weitere Aufklärung des Sachverhalts für erforderlich.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Kläger ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache begründet. Da die Kläger ihr Klagebegehren vor dem Senat auf die Gewährung von Bestattungsgeld beschränkt haben, bezieht sich diese Entscheidung nur auf diesen Streitgegenstand.
Nach § 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen seine oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Stirbt ein Opfer einer Gewalttat an der Folge einer Schädigung, ist in entsprechender Anwendung von § 9 Nr 4, § 36 Abs 3 BVG Bestattungsgeld zu zahlen. Anspruchsberechtigt ist derjenige, dem die Kosten der Bestattung entstanden sind.
Die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob F. einem vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff des Y. zum Opfer gefallen ist. Entgegen der Auffassung des LSG lässt sich ein solcher Vorgang nach den vom LSG in Betracht gezogenen Sachverhaltsvarianten nicht ausschließen. Bei seiner Entscheidung hat das LSG den Begriff des vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs nicht zutreffend angewendet.
Für den Vorsatz des Täters gilt der strafrechtliche Vorsatzbegriff: Wissen um die und Wollen der zum gesetzlichen Tatbestand (zumeist einer Körperverletzung) gehörenden objektiven Merkmale. Es genügt natürlicher Vorsatz, der sich nur auf den tätlichen Angriff, nicht auf den Körperschaden richten muss (vgl BSG NJW 1993, 880; juris RdNr 14 mit Nachweisen zur Rechtsprechung des BSG).
Schuldhaft braucht der Angreifer nicht gehandelt zu haben. Insofern findet die strafrechtliche Altersgrenze (von 14 Jahren) für die Schuldfähigkeit (§ 19 Strafgesetzbuch ≪StGB≫) keine entsprechende Anwendung. Ebenso wenig gilt in diesem Zusammenhang das Mindestalter (von 7 Jahren) für eine zivilrechtliche Verantwortlichkeit (§ 828 Abs 1 BGB) .
Zu Recht hat das LSG angenommen, auch ein erst 4 1/2-jähriges Kind könne grundsätzlich Täter eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs sein. Das OEG kennt insoweit keine starre Altersgrenze. Es billigt Versorgung auch demjenigen zu, der durch den Angriff eines noch nicht 14-jährigen und damit nach strafrechtlichen Maßstäben schuldunfähigen Kindes geschädigt wird, und versagt sie prinzipiell ebenso wenig dem Opfer eines noch nicht 7-jährigen "Täters", der zivilrechtlich für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich ist (vgl BT-Drucks 7/2506 S 14; BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 14 S 58 mwN) . Das OEG begrenzt die staatliche Entschädigungspflicht wegen der Folgen kindlicher Gewalttaten insoweit altersunabhängig allein mit dem Merkmal "vorsätzlich". Dazu hat das LSG für den Senat bindend (vgl § 163 SGG) festgestellt, dass ein Kind im Alter von 4 1/2 Jahren durchaus in der Lage ist, bei einfachen Handlungsabläufen die unmittelbaren Folgen ungefähr vorherzusehen.
Zu Unrecht fordert das LSG für den als "feindselige" Einwirkung auf den Körper eines anderen definierten tätlichen Angriff die Fähigkeit des Täters, seine Handlung moralisch zu bewerten. Feindselig handelt nach der Rechtsprechung des Senats bereits, wer (objektiv) gegen das Strafgesetz verstößt, indem er den Körper eines anderen verletzt (BSGE 81, 288, 292 = SozR 3-3800 § 1 Nr 12) . Die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen (also eine fehlende Einsichtsfähigkeit), betrifft die Schuldfähigkeit des Täters (vgl Tröndle/Fischer, 54. Aufl, § 20 StGB RdNr 3) , auf die es im Rahmen des § 1 OEG nicht ankommt.
Auch der Auffassung des LSG, wonach ein "impulsiv" handelnder Täter keinen natürlichen Vorsatz habe, lässt sich nicht folgen. Die mangelnde Fähigkeit zur oder der Verlust der Impulskontrolle macht den Täter zwar möglicherweise schuldunfähig, schließt aber ein Handeln mit natürlichem Vorsatz nicht aus (vgl BGH, NStZ 2004, 324; juris RdNr 10 ff; Tröndle/Fischer aaO) .
Das LSG hat außerdem zwar zu Recht eine "Rangelei" oder eine "Schubserei" als unter Kindern im Vorschulalter übliche Verhaltensweise qualifiziert und die staatliche Entschädigungspflicht für daraus entstandene Verletzungsfolgen - mangels Rechtswidrigkeit - unter Hinweis auf Rechtsprechung des Senats verneint (vgl BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 14; SozR 3800 § 1 Nr 6) . Im vorliegenden Fall trägt diese Erwägung aber nur, wenn es sich tatsächlich lediglich um eine übliche Rangelei oder Schubserei gehandelt haben sollte. Das ist bisher nicht festgestellt.
Danach kommt es hier entscheidend auf den äußeren Ablauf des Geschehens vom 19.2.1997 an, den das LSG, allein gestützt auf polizeiliche Vernehmungsprotokolle von Zeugen - nicht aber des Y. - noch nicht hinreichend aufgeklärt und auch mit den von ihm angenommenen Sachverhaltsvarianten nicht erschöpfend beschrieben hat. Es bleibt insbesondere offen, ob sich aus dem Hergang des Ereignisses nicht auf Rechtswidrigkeit und natürlichen Vorsatz schließen ließe, wenn Y., wie von der Klägerin behauptet, sich hinter den dem Wasser zugewandten F. gestellt und ihn mit beiden Händen und größerem Krafteinsatz - nach dem äußeren Bild planvoll handelnd - ins Wasser gestoßen haben sollte. Zur Beantwortung dieser Frage dürften zahlreiche Einzelheiten aufzuklären sein: zB Standort des F. (ua Entfernung vom Fluss), Art des angeblichen Stoßes (Ausführung, Kraftentfaltung, unmutiger Puff im Vorbeigehen oder Stoß direkt in Richtung Wasser), Größe, Gestalt und Gewicht der beteiligten Kinder.
Der Senat kann die danach erforderlichen Ermittlungen nicht nachholen (§ 163 SGG) . Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 SGG).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen