Beteiligte
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. September 2000 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der 1961 geborene ledige Kläger meldete sich am 1. September 1994 beim Arbeitsamt Ludwigshafen arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg), nachdem er bis zum 25. August 1994 an einer mit Übergangsgeld (Übg) von der Beklagten geförderten Umschulung zum landwirtschaftlichen Assistenten in Geisenheim teilgenommen hatte. Der Kläger war damals zu seiner Schwester und seinem Schwager B. gezogen und gab bei der Antragstellung zutreffend die S. 9 in L. als seine Wohnanschrift an, allerdings ohne den Zusatz „bei B.”. Zunächst bewilligte die Beklagte dem Kläger bis zum 27. September 1994 Anschluß-Übg, lehnte später jedoch den Alg-Antrag für die Zeit vom 1. September bis 10. November 1994 ab, weil der Kläger unter der angegebenen Anschrift nicht erreichbar gewesen sei (Bescheid vom 11. November 1994). Anlaß hierfür war, daß der Bescheid über die Bewilligung des Übg Ende September 1994 mit dem Postvermerk „Empfänger unbekannt verzogen” an die Beklagte zurückgelangt war. Den Widerspruch, mit dem der Kläger geltend machte, die Rücksendung seiner Post sei darauf zurückzuführen, daß sein auf dem Briefkasten B. wiederholt angebrachter Name Ende September, Mitte Oktober und wieder Ende November 1994 in böswilliger Absicht von dem Hausmitbewohner B. beseitigt worden sei und der seinerzeit eingesetzte Aushilfspostbote ihn nicht gekannt habe, wies die Beklagte mit der Begründung zurück, es sei unerheblich, ob der Kläger selbst bewirkt oder verschuldet habe, nicht erreichbar gewesen zu sein; im übrigen ruhe der Anspruch auf Alg wegen des Übg bis zum 27. September 1994 (Widerspruchsbescheid vom 14. März 1995).
Das Sozialgericht (SG) hat nach Anhörung des Klägers sowie Vernehmung der Eheleute B. und des Hausnachbarn B. die Beklagte verurteilt, dem Kläger Alg vom 28. September bis 10. November 1994 zu zahlen (Urteil vom 7. Mai 1998). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 29. September 2000). Zur Begründung seines Urteils hat das LSG ausgeführt, Ausgangspunkt sei § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) und § 1 Aufenthalts-Anordnung. Nach der letztgenannten Vorschrift müsse das Arbeitsamt den Arbeitslosen während der üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost unter der von ihm benannten, für die Zuständigkeit des Arbeitsamtes maßgeblichen Anschrift erreichen können. Dies erfordere nicht nur, daß der Arbeitslose unter der angegebenen Wohnanschrift täglich zumindest während der üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost tatsächlich angetroffen werden könne. Der Arbeitslose müsse vielmehr gegenüber dem Arbeitsamt seinen Wohnort so genau bezeichnen, daß Postsendungen ihm unmittelbar, dh ohne Verzögerung durch Nachforschungen, ohne Einschaltung dritter Personen und ohne Abhängigkeit von Zufällen zugestellt werden könnten. Lebe ein Arbeitsloser mit anderen Personen zusammen, müsse er durch weitere Maßnahmen dafür Sorge tragen, daß der Postbote ohne weitere Nachfrage die Postzugangseinrichtung für ihn auffinden könne (BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 22). Dies könne zB durch einen Zusatz zur Wohnanschrift, ein zusätzliches Namensschild am Briefkasten oder einen eigenen Briefkasten geschehen. Der Kläger habe dem durch ein Namensschild am Briefkasten B. genügt. Allerdings sei das Namensschild während des streitigen Zeitraums zweimal entfernt worden. Ungeklärt sei, für wie lange und in welchen Zeiträumen das Schild gefehlt habe. Das bedeute jedoch nicht, daß das Erfordernis der Erreichbarkeit für keinen Tag im streitigen Zeitraum nachgewiesen sei. Der Beklagten sei zuzugestehen, daß der Arbeitslose zu gegebener Zeit überprüfen müsse, ob die tägliche Erreichbarkeit noch gewährleistet sei. Der Arbeitslose müsse aber nicht ohne Anlaß jeden Tag den Briefkasten daraufhin untersuchen, ob sein Namensschild noch vorhanden sei. Ein solcher Anlaß habe erst bestanden, nachdem der Kläger von der Entfernung des Namensschildes Kenntnis erhalten habe. Von da ab sei der Kläger gehalten gewesen, seine Erreichbarkeit zu überprüfen, was er durch erneutes Anbringen des Schildes auch getan habe. Früher sei er dazu nicht verpflichtet gewesen, so daß von der Verletzung einer Obliegenheit keine Rede sein könne. Vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips wäre es mehr als bedenklich, dem Kläger aus den geschilderten Umständen den als Eigentum geschützten Anspruch auf Alg abzusprechen, zumal die Vermittlung des Klägers grundsätzlich möglich gewesen sei. Die Auffassung der Beklagten widerspreche auch dem Grundsatz, daß bei der Auslegung des Sozialgesetzbuches sicherzustellen sei, daß die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht würden.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Beklagte eine Verletzung des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG geltend. Sie räumt ein, daß der Arbeitslose, der mit anderen Personen in einer Wohnung lebt, erreichbar ist, wenn er ein auf ihn weisendes Namensschild am Briefkasten der Wohnung anbringt. Sie rügt jedoch die Ansicht, daß die Entfernung des Namensschildes zu Beginn des streitigen Zeitraums für eine unbekannte Zeit der Verfügbarkeit nicht entgegenstehen solle. Die Erreichbarkeit nach § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG sei nämlich Teil der objektiven Verfügbarkeit und als solche unverzichtbare Voraussetzung für den Anspruch auf Alg. Ob die Anspruchsvoraussetzungen aus Gründen nicht erfüllt seien, die der Arbeitslose nicht zu vertreten habe, sei grundsätzlich unerheblich. Die tatsächliche Erreichbarkeit könne nicht verneint, die Berücksichtigung dieses Umstandes bei den Anspruchsvoraussetzungen jedoch davon abhängig gemacht werden, ob dem Arbeitslosen die Gründe bekannt gewesen seien, die objektiv der Erreichbarkeit entgegengestanden hätten. Das LSG vermische zu Unrecht objektive und subjektive Gesichtspunkte. Es sei im übrigen auch nicht ungerechtfertigt, wenn sich der Arbeitslose in Fällen wie dem vorliegenden in seiner Sphäre liegende Zugangshindernisse zurechnen lassen müsse. Im übrigen sei auch eine Obliegenheitsverletzung des Klägers nicht zu verneinen. Denn die Obliegenheit sei um so umfassender, je mehr der Bestand der getroffenen Vorkehrungen gefährdet sei. Wenn der Arbeitslose bei Angabe der Anschrift nicht offenlege, daß er bei anderen wohne, sondern seine Erreichbarkeit durch Anbringung eines Namensschildes sicherzustellen suche, könne die tägliche Erreichbarkeit nicht dadurch bewerkstelligt werden, daß das Namensschild lediglich zu gegebener Zeit überprüft werde. Vielmehr sei eine tägliche Überprüfung erforderlich. Im übrigen hätten sich dem LSG weitere Ermittlungen hinsichtlich der Frage aufdrängen müssen, ob dem Kläger bei der täglichen Leerung des Briefkastens das Fehlen seines Namensschildes auf dem Briefkasten erkennbar gewesen sei bzw aus welchen Gründen nicht.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG und das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verweist im wesentlichen auf die Gründe des LSG.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat das LSG den Kläger vom 28. September bis 10. November 1994 als verfügbar angesehen, obwohl in dieser Zeit nicht an jedem Tag ein Schild mit seinem Namen am Briefkasten der Eheleute B. angebracht war, in deren Wohnung er nach der Umschulung vorübergehend Unterkunft gefunden hatte.
Der Anspruch auf Alg setzte nach dem 1994 geltenden § 100 Abs 1 AFG ua voraus, daß der Antragsteller der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stand. Nach § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG (idF des 5. AFG-Änderungsgesetzes vom 23. Juli 1979, BGBl I 1189) stand der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer das Arbeitsamt täglich aufsuchen konnte und für das Arbeitsamt erreichbar war. Aufgrund der Ermächtigung, Näheres über die Pflichten nach Abs 1 Satz 1 Nr 3 durch Anordnung zu bestimmen (§ 103 Abs 5 AFG), hatte die Beklagte in § 1 Satz 1 der Aufenthaltsanordnung (vom 3. Oktober 1979, ANBA 1388) vorgesehen, daß das Arbeitsamt den Arbeitslosen während der üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost unter der von ihm benannten, für die Zuständigkeit des Arbeitsamtes maßgeblichen Anschrift erreichen können mußte. Briefpost hatte dem Arbeitslosen hiernach unmittelbar, dh ohne Verzögerung und ohne Einschaltung Dritter, zugehen können (BSG SozR 3-4450 § 4 Nr 1; SozR 3-4100 § 103 Nr 22). Nicht nur die zutreffende Anschrift war dem Arbeitsamt anzugeben; der Antragsteller hatte zusätzlich an dem Haus, in dem er wohnte, Sorge dafür zu tragen, daß jeder Postbote ihn bzw die Postzugangseinrichtung (Briefkasten, Briefschlitz) für diese Anschrift leicht erkennbar auffinden konnte (BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 22). Der Briefkasten bzw Briefschlitz war daher mit dem eigenen Namen zu versehen, wie es allgemein erforderlich und üblich ist, um Post zu Hause zu erhalten. Wer, wie der Kläger, im Hause oder in der Wohnung anderer wohnt und nicht mit dem Zusatz „bei …” zur Anschrift auf die Postzugangseinrichtung der Wohnungsinhaber verwiesen hatte, hatte daher durch eine eigene Postzugangseinrichtung oder durch ein Namensschild auf der Postzugangseinrichtung der Wohnungsinhaber dafür Sorge zu tragen, daß für jeden Postboten leicht erkennbar war, wo die Post für ihn eingeworfen werden mußte (vgl BSG aaO).
Der Kläger hat diesen Anforderungen genügt. Zu Recht hat das LSG ihm nicht vorgehalten, daß sich nicht beweisen lasse, an welchen Tagen der streitigen gut sechs Wochen das Namensschild angebracht und an welchen es entfernt gewesen sei, sondern darauf abgestellt, ob der Kläger die Vorkehrungen getroffen hatte, die nach Lage des Falles von einem Anspruchssteller zu erwarten waren, um seine Erreichbarkeit zu bewirken. Die Revision weist zwar zutreffend darauf hin, daß die Erreichbarkeit Teil der objektiven Verfügbarkeit und als solche Voraussetzung für den Anspruch auf Alg gewesen sei; denn daß der Anspruchssteller für das Arbeitsamt täglich zur Zeit des Eingangs der Briefpost an seinem Wohnort erreichbar sein mußte, hatte das BSG vor dem 5. AFG-Änderungsgesetz und der Aufenthalts-Anordnung der die sogenannte objektive Verfügbarkeit regelnden Vorschrift des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG (aF) entnommen, nach der der Arbeitsvermittlung zur Verfügung nur stand, wer ua eine zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben konnte (BSGE 44, 188, 189 = SozR 4100 § 103 Nr 8; Urteil vom 17. März 1981 – 7 RAr 20/80 – DBlR 2529 AFG § 151). Hieraus folgt zwar, daß es für die Voraussetzungen der objektiven Verfügbarkeit grundsätzlich auf den geforderten Zustand ankam, in Bezug auf die Erreichbarkeit also, ob dem Arbeitslosen unter der von ihm angegebenen Anschrift Briefpost unmittelbar, dh ohne Verzögerung und ohne Einschaltung Dritter, zugehen konnte. Das schließt es indes in Ausnahmefällen, in denen die vom Arbeitslosen bewirkte Erreichbarkeit aus Gründen entfallen ist, für die der Arbeitslose nicht verantwortlich ist und mit denen er auch nicht rechnen mußte, nicht aus, es genügen zu lassen, wenn der Anspruchsteller die erörterten Vorkehrungen für die Erreichbarkeit getroffen hat. Denn mit der Anspruchsvoraussetzung, das Arbeitsamt täglich aufsuchen zu können und für das Arbeitsamt erreichbar zu sein, erfüllte der Anspruchsteller, wie § 103 Abs 5 AFG ergibt, Pflichten mit der Folge, daß ohne die Voraussetzungen des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG Alg wegen Nichterfüllung von Pflichten verweigert wurde. Ein solcher Vorwurf war jedoch nicht gerechtfertigt, wenn der Anspruchsteller alles getan hatte, was von ihm erwartet worden ist. Gleiche Erwägungen haben § 1 Satz 2 Aufenthaltsanordnung zugrunde gelegen, wonach anstelle der grundsätzlich vom Gesetz geforderten täglichen Erreichbarkeit des Arbeitsamtes für den Anspruchsteller genügte, wenn der Arbeitslose wegen ungünstiger Verkehrsverhältnisse das Arbeitsamt nur an bestimmten Wochentagen aufsuchen konnte. So wenig dem Arbeitslosen, der zur üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost einen Gerichts- oder, ohne vermittlungsunfähig zu sein, einen Arzttermin wahrnahm oder sich einem möglichen Arbeitgeber vorstellte, der Anspruch auf Alg wegen Verletzung seiner Pflichten unter Hinweis darauf hat verweigert werden können, daß er an diesem Tage zur üblichen Zeit des Eingangs der Post tatsächlich nicht erreichbar gewesen ist, war dies in Fällen vorliegender Art möglich, wenn der Anspruchsteller aus Gründen, die ihm unbekannt waren und unbekannt sein durften, nicht erreichbar war, obwohl er nach den getroffenen Vorkehrungen alles getan hatte, um bei üblichem Verlauf der Dinge erreichbar zu sein.
So liegt der Fall nach den vom LSG getroffenen, ohne zulässige und begründete Revisionsrügen den Senat nach § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindenden Feststellungen des LSG. Die Beklagte rügt zwar, dem LSG hätten sich weitere Ermittlungen hinsichtlich der Frage aufdrängen müssen, ob dem Kläger bei der täglichen Leerung des Briefkastens das Fehlen seines Namensschildes erkennbar gewesen sei bzw aus welchen Gründen nicht. Sie zeigt indes weder auf, weshalb es nach der Rechtsauffassung des LSG hierauf ankam, noch, warum sich nach den umfangreichen Ermittlungen des SG, das zu der Leerung des Briefkastens den Kläger, seine Schwester und seinen Schwager gehört hatte, weitere Aufklärung aufdrängte. Den Feststellungen des LSG ist zunächst zu entnehmen, daß am Briefkasten B. nach dem Einzug des Klägers ein Schild mit dessen Namen angebracht worden war. Damit hatte der Kläger das Erforderliche und Übliche getan, um durch Briefpost unter der angegebenen Anschrift erreichbar zu sein. Da solche Schilder im allgemeinen von Dritten nicht entfernt zu werden pflegen und Gegenteiliges für die Gegend bzw das Haus S. 9 vorher nicht festgestellt worden ist, hatte der Kläger, wie das LSG zu Recht entschieden hat, keine Veranlassung, den Briefkasten jeden Tag – womöglich wenige Minuten vor der üblichen Zeit der Briefpost – daraufhin zu überprüfen, ob das Namensschild noch vorhanden war oder nicht, wie die Revision jedoch meint. Allerdings war, sobald der Kläger die Ende September 1994 vorgenommene erste Entfernung des Schildes wahrgenommen hatte, ein neues anzubringen. Das ist nach den Feststellungen des LSG geschehen. Auch nach diesem Zeitpunkt war der Kläger noch nicht gehalten, zu einer täglichen Überprüfung des Briefkastens überzugehen. Das war erst nach der zweiten Entfernung des Namensschildes der Fall, die Mitte Oktober 1994 erfolgt ist und auf eine absichtliche Entfernung beider Namensschilder hindeutete. Nach der Wiederanbringung eines Schildes ist dieses dann erst aber Ende November 1994, dh außerhalb der streitigen Zeit, entfernt worden, so daß der Kläger nach der zweiten Wiederanbringung selbst nach den Kriterien der Beklagten bis zum Ende der streitigen Zeit erreichbar war.
Hat das LSG hiernach zu Recht die Erreichbarkeit des Klägers in der streitigen Zeit bejaht, ist die Revision der Beklagten zurückzuweisen. Daß die übrigen Anspruchsvoraussetzungen gegeben sind, ist nach dem Urteil des SG, auf dem das Urteil des LSG fußt, nicht zweifelhaft.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 641195 |
AuA 2002, 189 |
SozSi 2002, 215 |
SozSi 2002, 364 |
info-also 2002, 27 |