Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Versorgung mit Cannabisarzneimitteln gem § 31 Abs 6 SGB 5. Entscheidung eines Landessozialgerichts im urteilsersetzenden Beschlussverfahren. regelmäßig grobe Fehleinschätzung bei Anwendung höchstrichterlich ungeklärter Normen und möglichen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung. Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter. Zurückweisung der Berufung durch Beschluss. Erforderlichkeit erneuter Anhörung nur bei neuer prozessualer Situation bezüglich der mitgeteilten Gründe
Leitsatz (amtlich)
1. Die Entscheidung eines Landessozialgerichts im urteilsersetzenden Beschlussverfahren beruht regelmäßig auf einer den Anspruch auf den gesetzlichen Richter verletzenden groben Fehleinschätzung, wenn als Anspruchsgrundlage eine Vorschrift in Betracht kommt, über die höchstrichterlich bislang noch nicht entschieden wurde, und sich bei ihrer Anwendung Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung stellen können.
2. Sind dem Berufungskläger die Gründe für die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung durch Beschluss bekannt, ist eine erneute Anhörung nur erforderlich, wenn zu allen vom Landessozialgericht mitgeteilten Gründen durch neuen Vortrag oder neue Beweisanträge bzw -anregungen eine neue prozessuale Situation geschaffen wird.
Normenkette
SGB V § 31 Abs. 6; SGG § 153 Abs. 4; ZPO § 547; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2, Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen den Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Dezember 2019 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Genehmigung der Versorgung mit Cannabisblüten.
Der 1976 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger leidet an Epilepsie und bezieht seit 2018 eine Erwerbsminderungsrente. P, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie behandelt den Kläger seit Oktober 2012. Er beantragte am 20.3.2017 unter Verwendung eines "Arztfragebogens zu Cannabinoiden nach § 31 Abs 6 SGB V" die Versorgung des Klägers mit Cannabis zunächst zur Behandlung der Epilepsie und der epileptischen Symptome mit komplexen fokalen Anfällen sowie später auch zur Behandlung der Depression. Die bisherige medikamentöse Therapie mit Folsan 5 mg, einem Antiepileptikum und einem Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer sowie eine stationäre Krankenhausbehandlung seien erfolglos geblieben. Die Beklagte informierte den Kläger mit Schreiben vom 24.3.2017 über die Notwendigkeit der Einschaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK). Gestützt auf das MDK-Gutachten lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab (Bescheid vom 20.4.2017, Widerspruchsbescheid vom 30.8.2017).
Das SG hat die Klage nach Einholung eines Gutachtens bei dem Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie N abgewiesen (Urteil vom 5.2.2019). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Es fehle an einer vertragsärztlichen Verordnung auf einem Betäubungsmittelrezept. Überdies stünden zur Behandlung der beim Kläger bestehenden Epilepsie als schwerwiegender Erkrankung nach dem vom SG eingeholten Gutachten leitliniengerechte Behandlungsmethoden zur Verfügung. Die deshalb erforderliche begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, dass diese Behandlungsmethoden unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen könnten, liege nicht vor. Die Ausführungen von P seien nicht ausreichend. Er habe die Behandlung ohne konkrete Darstellung der eingesetzten Medikamente und der dabei aufgetretenen Nebenwirkungen pauschal geschildert. Auch die Möglichkeit einer erneuten stationären Aufnahme zur Einstellung der Medikation werde nicht erörtert. Der vorherige Cannabiskonsum und die vom Gutachter empfohlene Cannabiskarenz stellten einen begründeten Ausnahmefall dar, der die Beklagte zur Ablehnung der Genehmigung berechtigt habe. Einer weiteren Beweiserhebung habe es nicht bedurft (Beschluss vom 18.12.2019).
Mit seiner Revision rügt der Kläger verfahrensrechtliche Verstöße gegen das Recht auf rechtliches Gehör (§ 153 Abs 4 Satz 2 SGG) und eine sich daraus ergebende fehlerhafte Besetzung der Richterbank (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO). Das LSG hätte nach der Äußerung des Klägers auf die Mitteilung vom 6.11.2019 erneut zur beabsichtigten Zurückweisung durch Beschluss anhören müssen. Da dies unterblieben sei, hätte es nicht durch Beschluss entscheiden dürfen. Zudem rügt der Kläger eine Verletzung des § 31 Abs 6 SGB V. Das LSG sei unzutreffend davon ausgegangen, dass mit dem Genehmigungsantrag bereits eine vertragsärztliche Verordnung mittels Betäubungsmittelrezept vorliegen müsse. Es müssten für eine Versorgung nach § 31 Abs 6 SGB V nicht sämtliche Standardtherapien ausgeschöpft sein. Es liege auch kein begründeter Ausnahmefall wegen einer Kontraindikation aufgrund vorangegangenen Drogenmissbrauchs vor.
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Der Kläger beantragt, |
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den Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Dezember 2019 und das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 5. Februar 2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 20. April 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. August 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Genehmigung der vertragsärztlichen Verordnung von Bedrocan, 1 bis 3 Gramm pro Tag zur Inhalation, bei einer monatlichen Verordnungsmenge von 60 Gramm zu erteilen. |
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Die Beklagte beantragt, |
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die Revision zurückzuweisen. |
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet.
1. Der Senat war nicht gehindert, über den Rechtsstreit abschließend zu entscheiden (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das Revisionsgericht muss den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückverweisen, wenn ein absoluter Revisionsgrund vorliegt (stRspr; vgl BSG vom 10.12.2019 - B 11 AL 16/18 R - SozR 4-1500 § 153 Nr 17 RdNr 17; vgl auch BSG vom 13.5.1998 - B 6 KA 31/97 R - BSGE 82, 150, 156 f = SozR 3-1500 § 60 Nr 4 S 19, wonach in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht gezogen werden könne, von einer Zurückverweisung abzusehen, keinesfalls aber bei vorschriftswidriger Besetzung der Richterbank). Ein absoluter Revisionsgrund liegt hier nicht vor. Die vom Kläger erhobene Rüge des absoluten Revisionsgrundes der fehlerhaften Besetzung der LSG-Richterbank durch die Nichtmitwirkung ehrenamtlicher Richter ist unbegründet (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO von Amts wegen bei Fehlern der Anzahl und/oder im Status der mitwirkenden Richter zu beachten, vgl BSG vom 8.11.2007 - B 9/9a SB 3/06 R - BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2, RdNr 13 f). Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf seinen gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) nicht dadurch verletzt, dass es durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG entschieden hat. Eine fehlerhafte Besetzung ergibt sich hier trotz der mit dem Rechtsstreit aufgeworfenen grundsätzlichen Rechtsfragen weder unmittelbar aus dem schon von Amts wegen zu beachtenden § 153 Abs 4 Satz 1 SGG(dazu a) noch mittelbar aus der vom Kläger ausdrücklich gerügten Verletzung der Anhörungspflicht nach § 153 Abs 4 Satz 2 iVm Satz 1 SGG(dazu b) .
a) Das LSG ist nicht grob fehlerhaft von der Möglichkeit einer Entscheidung nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG ausgegangen.
Nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich hält, falls die mit dem Rechtsmittel angefochtene Entscheidung des SG kein Gerichtsbescheid (§ 105 Abs 2 Satz 1 SGG) ist. Eine Verletzung des § 153 Abs 4 Satz 1 SGG hat zwangsläufig zur Folge, dass das LSG ohne ehrenamtliche Richter - mithin in nicht vorschriftsmäßiger Besetzung - entscheidet; dies stellt einen absoluten Revisionsgrund gemäß § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO dar, bei dem eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen ist (stRspr; vgl BSG vom 28.8.2006 - B 13 R 37/06 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 5 RdNr 10; BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 29/00 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 40; BSG vom 8.11.2001 - B 11 AL 37/01 R - juris RdNr 15; ebenso zu § 158 Satz 2 SGG: BSG vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 10 unter Hinweis auf § 153 Abs 4 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung des LSG, bei Vorliegen der im Gesetz genannten Voraussetzungen ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, steht allerdings in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Bei dieser Ermessensentscheidung hat das LSG die Schwierigkeit des Falles und die Bedeutung von Tatsachenfragen zu berücksichtigen. Revisionsrechtlich ist die Entscheidung des LSG insoweit nur darauf überprüfbar, ob es erkennbar von diesem Ermessen fehlerhaften Gebrauch gemacht hat, etwa wenn der Beurteilung erkennbar sachfremde Erwägungen oder eine grobe Fehleinschätzung zugrunde liegen (stRspr; vgl BSG vom 29.6.2021 - B 4 AS 96/21 B - juris RdNr 4; BSG vom 30.10.2019 - B 14 AS 258/18 B - juris RdNr 4; BSG vom 30.7.2009 - B 13 R 187/09 B - juris RdNr 6; BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 29/00 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 33 S 38; BSG vom 13.10.1993 - 2 BU 79/93 - SozR 3-1500 § 153 Nr 1 S 4). Eine grobe Fehleinschätzung liegt nicht nur bei noch offenen Tatsachenfragen vor, sondern grundsätzlich auch dann, wenn - wie hier - als Anspruchsgrundlage nur eine Vorschrift in Betracht kommt, über die höchstrichterlich bislang noch nicht entschieden wurde und sich bei ihrer Anwendung Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung stellen können. Nur diese Vorgehensweise wird der Bedeutung der mündlichen Verhandlung als Kernstück des gerichtlichen Verfahrens gerecht (allgemein dazu: BSG vom 8.9.2015 - B 1 KR 134/14 B - juris RdNr 8; BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 29/00 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 38 f).
Ein solches Verhalten ist dem LSG hier nicht vorzuwerfen. Denn das Berufungsgericht darf jedenfalls dann einen Beschluss nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG erlassen, wenn sich nach seiner Einschätzung aufgrund der besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung nicht stellen und diese Einschätzung nicht grob fehlerhaft ist. Ein solcher Fall liegt hier vor.
Das LSG hat sich die Auffassung des gerichtlichen Sachverständigen N in seinem Gutachten vom 6.7.2018 und seiner ergänzenden Stellungnahme vom 14.11.2018 zu eigen gemacht, dass bei dem langjährigen multiplen Drogenkonsum des Klägers eine konsequente Drogenabstinenz mit strikter Cannabis-Karenz geboten sei. Dabei hat es auch die gleichlautende Einschätzung im Entlassungsbericht des den Kläger behandelnden Psychiatrischen Zentrums N vom 18.12.2017 berücksichtigt. Das LSG hat es danach aus medizinischen Gründen als völlig ausgeschlossen angesehen, dass eine Genehmigung in Betracht kommen könnte (im Ergebnis aus Rechtsgründen zu Unrecht; näher dazu unten RdNr 24 ff). Es ist deshalb nicht grob fehlerhaft von der Möglichkeit einer Entscheidung nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG ausgegangen.
b) Auch die vom Kläger gerügte Verletzung des § 153 Abs 4 Satz 2 iVm Satz 1 SGG stellt zwar einen absoluten Revisionsgrund dar (vgl BSG vom 10.12.2019 - B 11 AL 16/18 R - SozR 4-1500 § 153 Nr 17 RdNr 16; BSG vom 17.11.2015 - B 1 KR 65/15 B - juris RdNr 6 ff mwN auch zur einschränkenden Auffassung bei nicht unterbliebener, aber fehlerhafter Anhörung; BSG vom 20.10.2010 - B 13 R 63/10 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 11 RdNr 17). Die Verfahrensrüge ist aber unbegründet. Es bedurfte vorliegend keiner nochmaligen Anhörung des Klägers zur Entscheidung des LSG, die Berufung durch Beschluss zurückzuweisen. Das LSG hat mit der Anhörung vom 6.11.2019 zur beabsichtigten Zurückweisung der Berufung durch Beschluss der Anhörungspflicht Genüge getan.
Die Anhörungspflicht (§ 153 Abs 4 Satz 2 SGG) ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG), das bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens im Berufungsrechtszug nicht verkürzt werden darf (stRspr; vgl BSG vom 29.8.2006 - B 13 R 37/06 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 5 S 13). Eine erneute Anhörung ist gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG erforderlich, wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert und das LSG gleichwohl daran festhalten möchte, die Berufung im Beschlusswege zurückzuweisen. Zur Wahrung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG) ist § 153 Abs 4 Satz 2 SGG zugunsten der Beteiligten verfassungskonform weit auszulegen, weil die Anhörungsmitteilung die ansonsten durch die mündliche Verhandlung ermöglichte umfassende Anhörung der Beteiligten adäquat kompensieren soll (stRspr; vgl BSG vom 26.5.2020 - B 2 U 25/20 B - juris RdNr 6 mwN; BSG vom 17.9.1997 - 6 RKa 97/96 - SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 11 f mwN). Macht ein Beteiligter von der Gelegenheit zur Äußerung Gebrauch, ist das Berufungsgericht aber nicht in jedem Fall zu einer weiteren Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG verpflichtet. Es muss insbesondere nicht auf ein Vorbringen reagieren, das nicht entscheidungserheblich oder unsubstantiiert ist, neben der Sache liegt oder mit dem ein früherer Vortrag lediglich wiederholt wird (stRspr; vgl BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 37/17 B - juris RdNr 9; BSG vom 20.10.1999 - B 9 SB 4/98 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 8 S 24). Unerheblich ist insbesondere Vorbringen, das nicht den Anforderungen entspricht, die erfüllt sein müssen, damit das Tatsachengericht gehalten ist, durch weitere Ermittlungen bzw eine Vorabentscheidung über die Durchführung der beantragten Beweisaufnahme darauf einzugehen (offengelassen von BSG vom 17.9.1997 - 6 RKa 97/96 - SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 13). Sind dem Berufungskläger die Gründe für die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung durch einen vorausgegangenen ablehnenden Prozesskostenhilfebeschluss bekannt, ist eine erneute Anhörung nur erforderlich, wenn zu allen vom LSG mitgeteilten Gründen durch neuen Vortrag oder neue Beweisanträge bzw -anregungen eine neue prozessuale Situation geschaffen wird. Dies war vorliegend nicht der Fall. Das Vorbringen des Klägers in der Stellungnahme vom 5.12.2019 wiederholte lediglich den bisherigen Rechtsstandpunkt und enthielt keine neuen entscheidungserheblichen Tatsachen, keinen neuen Beweisantrag und auch keine neue Beweisanregung.
Der Kläger hatte bereits mit den Schriftsätzen vom 18.7. und 11.10.2019 - knapp dreieinhalb Monate und nochmals einen Monat vor dem Anhörungsschreiben des LSG - ausgeführt, dass ein vorangegangener Cannabiskonsum keine Kontraindikation für die Therapie mit Cannabispräparaten darstelle, weil der Konsum als Selbstmedikation erfolgt sei und es keinen Beleg in der wissenschaftlichen Fachliteratur für eine solche Kontraindikation gebe. Die Wiederholung dieses schon vor dem Anhörungsschreiben geäußerten und bereits in dem Beschluss vom 9.9.2019 über den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers abgelehnten Standpunktes zwingt nicht zu einer Wiederholung der Anhörung unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs. Auch im Übrigen enthält die klägerische Stellungnahme vom 5.12.2019 lediglich Wiederholungen des bisherigen Vortrags.
Der hilfsweise gestellte Beweisantrag zur Klärung der Frage, ob ein vorausgegangener Cannabiskonsum eine Kontraindikation für die ärztliche Verordnung einer Cannabisblüten-Therapie darstelle, ist ein Angriff auf das Gutachten von N mit dem Ziel der Einholung eines weiteren Gutachtens. Das LSG hat jedoch bereits in seinem ausführlich begründeten Beschluss vom 9.9.2019, mit dem es den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers abgelehnt hat, deutlich gemacht, dass es an der fachlichen Richtigkeit des Gutachtens gerade auch unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus dem stationären Aufenthalt des Klägers vom 15. bis 19.12.2017 keinen Zweifel habe. Die weitere Begutachtung sollte lediglich dazu dienen, die Schlussfolgerungen in Frage zu stellen, die der Sachverständige als Gehilfe des Gerichts aus den erhobenen Befunden gezogen hatte. Liegt bereits ein ärztliches Gutachten als Beweismittel vor, bedarf es unter Berücksichtigung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) grundsätzlich keiner weiteren Beweiserhebung in dieser Richtung. Ein Beteiligter hat keinen Anspruch darauf, dass das Gericht auf seinen Antrag hin in jedem Fall noch ein zweites Gutachten einholt. Anders verhält es sich dann, wenn die vorliegenden Gutachten schwere Mängel aufweisen, in sich widersprüchlich sind, von unzutreffenden Voraussetzungen ausgehen oder Zweifel an der Sachkunde oder Sachlichkeit des Sachverständigen erwecken (vgl nur BSG vom 16.2.2012 - B 9 V 17/11 B - juris RdNr 13). Ein Angriff auf die Beweiswürdigung löst dementsprechend nur dann eine erneute Anhörungspflicht aus, wenn nicht lediglich die Behauptung in den Raum gestellt wird, es sei anders, sondern konkret die Möglichkeit schwerer Mängel des Sachverständigengutachtens aufgezeigt wird. Dies erfolgte in der klägerischen Stellungnahme vom 5.12.2019 nicht. Ob mit Blick auf die Schriftsätze vom 18.7. und 11.10.2019 und die dortige Bezugnahme auf eine Stellungnahme des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte etwas anderes gelten könnte, bedarf keiner Entscheidung, da diese vor dem Anhörungsschreiben des LSG liegen und ihm schon bekannt waren. Der Kläger hat dieses Vorbringen in seiner Stellungnahme vom 5.12.2019 auch nicht weiter vertieft, ja nicht einmal ausdrücklich erwähnt.
2. Das LSG hat zu Recht die Berufung gegen das klageabweisende Urteil zurückgewiesen. Das klägerische Begehren (§ 123 SGG) ist auf die Erteilung der von der Beklagten versagten Genehmigung der vertragsärztlichen Verordnung von Cannabisblüten als Voraussetzung für einen Sachleistungsanspruch nach § 31 Abs 6 Satz 1 und 2 SGB V gerichtet. Sowohl die Ablehnung der begehrten Genehmigung als auch ihre Erteilung sind Verwaltungsakte (§ 31 Satz 1 SGB X). Hierfür ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 iVm § 56 SGG) die statthafte Klageart. Auch im Übrigen ist die Klage zulässig. Sie ist aber unbegründet. Das LSG hat einen Anspruch des Klägers auf Versorgung mit Cannabis und damit inzident einen Anspruch auf Genehmigung der Verordnung von Cannabisblüten der Sorte Bedrocan gemäß § 31 Abs 6 Satz 1 und 2 SGB V verneint, weil der Kläger hierfür keine vertragsärztliche Verordnung vorgelegt hat. Das hält zwar einer revisionsgerichtlichen Prüfung nicht stand (ausführlich dazu BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris RdNr 46 ff). Die Revision war aber aus anderen - auch vom LSG genannten - Gründen zurückzuweisen.
Rechtsgrundlage der begehrten Genehmigung für die vertragsärztliche Verordnung von Cannabisblüten ist § 31 Abs 6 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf die Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol und Nabilon (nachfolgend zusammengefasst Cannabis), wenn sie an einer schwerwiegenden Erkrankung leiden (Satz 1), eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder nach einer begründeten ärztlichen Einschätzung nicht zur Anwendung kommen kann (Satz 1 Nr 1), eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht (Satz 1 Nr 2) und bei der ersten Verordnung vor Beginn der Leistung eine Genehmigung der KK vorlag, die nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnen ist (Satz 2).
Der Anspruch scheitert weder am Fehlen einer schwerwiegenden Erkrankung iS von § 31 Abs 6 Satz 1 SGB V(dazu a) noch berechtigte der festgestellte Cannabiskonsum des Klägers die Beklagte dazu, die Genehmigung wegen eines begründeten Ausnahmefalls zu versagen (dazu b). Der Kläger erfüllt aber andere Anspruchsvoraussetzungen nicht. Nach den Feststellungen des LSG stehen zur Behandlung der Erkrankungen des Klägers noch weitere, dem medizinischen Standard entsprechende Methoden zur Verfügung und es fehlt auch an einer begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese nicht zur Anwendung kommen können (dazu c).
a) Anhaltspunkte für die Lebensbedrohlichkeit der Erkrankung des Klägers sind nach den Feststellungen des LSG nicht ersichtlich. Die Annahme einer schwerwiegenden Erkrankung erfordert, dass die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt ist. Maßgebend dafür sind die durch die Erkrankung hervorgerufenen Funktionsstörungen und -verluste, Schmerzen, Schwäche und Hilfebedarfe bei den Verrichtungen des täglichen Lebens, die sich durch ihre Schwere vom Durchschnitt der Erkrankungen abheben müssen. Ein Grad der Schädigung (GdS) bzw Grad der Behinderung (GdB) von 50 für die mit Cannabis zu behandelnden Erkrankungen nach der GdS-Tabelle aus Teil 2 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) kann dafür als Anhaltspunkt dienen, ist aber nicht als starrer Grenzwert zu verstehen. Entscheidend sind die in der GdS-Tabelle enthaltenen Kriterien zur Schwere der Beeinträchtigungen aufgrund der Auswirkungen einer Erkrankung (ausführlich dazu BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - RdNr 13 ff). Zudem hat das BSG entschieden (Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 19/22 R - RdNr 16), dass dann, wenn die Auswirkungen der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankung nicht die Schwere des Einzel-GdS von 50 erreicht, die Annahme einer nachhaltigen Beeinträchtigung der Lebensqualität nicht ausgeschlossen ist. Soll Cannabis zur Behandlung mehrerer Erkrankungen oder Symptome eingesetzt werden, ist auf deren Gesamtauswirkungen abzustellen. Schränken sich ggf überschneidende und/oder einander wechselseitig verstärkende Auswirkungen die Lebensqualität insgesamt in einer einem Einzel-GdS 50 vergleichbaren Schwere ein, kann grundsätzlich auch vom Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung ausgegangen werden. Sie kommt im Einzelfall in Betracht, etwa wenn ihre Auswirkungen aufgrund weiterer Erkrankungen, zu deren Behandlung kein Einsatz von Cannabis geplant ist, schwerer wiegen oder die Teilhabe am Arbeitsleben oder in einem anderen Bereich besonders einschränken.
Die Epilepsieerkrankung des Klägers ist nach den Feststellungen des LSG, das sich auf die Erkenntnisse des MDK und des gerichtlichen Sachverständigen N stützt, eine schwerwiegende Erkrankung, ohne dass allerdings der dafür herangezogene Maßstab deutlich wird. N hat beim Kläger eine generalisierte Epilepsie mit visuellen, olfaktorischen sowie epigastrischen Auren, Absencen sowie generalisiert tonisch-klinischen Anfällen diagnostiziert. Danach kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger nach Teil B (GdS-Tabelle) 3.1.2 der Anlage zu § 2 VersMedV schon allein wegen der Epilepsie mit einem Einzel-GdB von 50 schwerbehindert ist. Ob bei dem Kläger eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, kann aber letztlich dahinstehen, weil weitere Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllt sind (näher dazu c).
b) Entgegen der Auffassung des LSG berechtigte der festgestellte vorangegangene Cannabiskonsum des Klägers die Beklagte schon aus Rechtsgründen nicht, aufgrund eines begründeten Ausnahmefalls die Genehmigung abzulehnen.
Die KK kann die Genehmigung der Verordnung gemäß § 31 Abs 6 Satz 2 SGB V nur in begründeten Ausnahmefällen ablehnen. Hierfür ist sie darlegungs- und beweispflichtig. Die dem Vertragsarzt eingeräumte Einschätzungsprärogative zur Unanwendbarkeit einer Standardtherapie darf hierbei nicht unterlaufen werden. Ein begründeter Ausnahmefall setzt voraus, dass über die Anspruchsvoraussetzungen nach § 31 Abs 6 Satz 1 SGB V hinausgehende, besondere Umstände vorliegen. Jegliche Umstände, die bereits in die Abwägung des Vertragsarztes zur Abgabe der begründeten Einschätzung (§ 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB V) einzustellen sind, sind nicht geeignet, als begründeter Ausnahmefall eine Ablehnung der Genehmigung zu rechtfertigen. Das gilt auch für einen Vorkonsum und eine Cannabisabhängigkeit, die Gegenstand der begründeten Einschätzung sind und regelmäßig keinen begründeten Ausnahmefall darstellen. Sollte der Vertragsarzt die notwendige Abwägung nicht auf vollständiger und zutreffender Tatsachengrundlage unter Berücksichtigung der Gründe, die einer Therapie mit Cannabis entgegenstehen können, vorgenommen haben, scheitert der Genehmigungsanspruch bereits an der unzureichend begründeten Einschätzung (s dazu sogleich c bb). In Betracht kommen deshalb in erster Linie nichtmedizinische Gründe, etwa die unbefugte Weitergabe des verordneten Cannabis an Dritte (vgl BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris RdNr 51).
Ob der in der Vergangenheit erfolgte - und eventuell fortgesetzte - Cannabiskonsum des Klägers einer Behandlung mit Cannabis im Sinne einer Kontraindikation entgegensteht, ist hiernach in erster Linie vom behandelnden Vertragsarzt zu beurteilen. Die Genehmigung kann in einem solchen Fall nicht mit der Begründung versagt werden, es liege ein Ausnahmefall vor.
c) Die Genehmigung einer Cannabis-Verordnung setzt voraus, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung entweder nicht zur Verfügung steht (§ 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst a SGB V; dazu aa) oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes nicht zur Anwendung kommen kann (§ 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB V; dazu bb). Beide alternativ zu betrachtenden Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht.
aa) Eine Standardtherapie steht nicht zur Verfügung, wenn es sie generell nicht gibt, sie im konkreten Einzelfall ausscheidet, weil der Versicherte sie nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen (vgl BSG vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R - BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 31; BSG vom 7.11.2006 - B 1 KR 24/06 R - BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 22) oder sie trotz ordnungsgemäßer Anwendung im Hinblick auf das beim Patienten angestrebte Behandlungsziel ohne Erfolg geblieben ist (vgl BSG vom 25.3.2021 - B 1 KR 25/20 R - BSGE 132, 67 = SozR 4-2500 § 137c Nr 15, RdNr 42).
Ausgehend von diesen Maßstäben ergibt sich nach den nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffenen, den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG, dass noch Standardtherapien zur Behandlung der Epilepsie und der Depression zur Verfügung stehen. Es handelt sich im Wesentlichen um weitere, auch neue Arzneimittel, die zum Einsatz kommen können. Das LSG stützt sich dabei auf die Einschätzungen von N und des MDK. Der Kläger macht insoweit nur geltend, dass ihm aufgrund der schon bei der Behandlung mit einigen antiepileptischen Medikamenten erlebten Nebenwirkungen nicht zumutbar sei, einen weiteren Therapieversuch mit anderen Medikamenten durchzuführen. Er leide an einer "erhöhten Medikamentenempfindlichkeit". Damit macht er aber nur geltend, er erfülle die Voraussetzungen des § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB V(dazu sogleich) .
bb) Steht danach für das Revisionsgericht fest, dass für die Behandlung der Erkrankungen Methoden zur Verfügung stehen, die dem medizinischen Standard entsprechen, bedarf es der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen können (§ 31 Abs 6 Satz Nr 1 Buchst b SGB V). Auch wenn das Gesetz dem behandelnden Vertragsarzt eine Einschätzungsprärogative zugesteht, sind an die begründete Einschätzung hohe Anforderungen zu stellen. Das Vorliegen einer begründeten Einschätzung zur Nichtanwendbarkeit einer Standardtherapie hat das LSG zutreffend verneint. Die dazu vom LSG getroffenen, für den Senat bindenden Feststellungen hat der Kläger nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffen.
(1) An die begründete Einschätzung des Behandlers sind wegen der Voraussetzungen für die Verordnungsfähigkeit nach § 13 BtMG, der für eine Außenseiter- oder Neulandmethode geltenden Bedingungen des Haftungsrechts und zum Schutz der Patienten hohe Anforderungen zu stellen. Sie muss auf Grundlage einer umfassenden Befunderhebung die zu behandelnde Erkrankung, ihre Symptome, das angestrebte Behandlungsziel und die bereits erfolgten Therapien sowie die zu erwartenden oder bereits aufgetretenen Nebenwirkungen der zur Verfügung stehenden Standardtherapien darstellen und deutlich machen, warum diese im Fall des Patienten nicht zur Anwendung kommen können. Dabei sind auch mögliche schädliche Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis, wie das Entstehen oder Verfestigen einer Abhängigkeit, zu erfassen und mit den Nebenwirkungen einer Standardtherapie abzuwägen. Die begründete Einschätzung des Vertragsarztes muss die mit Cannabis zu behandelnde Erkrankung und das Behandlungsziel benennen, die für die Abwägung der Anwendbarkeit verfügbarer Standardtherapien mit der Anwendung von Cannabis erforderlichen Tatsachen vollständig darlegen und eine Abwägung unter Einschluss möglicher schädlicher Wirkungen von Cannabis beinhalten. Das erfordert zunächst eine Beschreibung des Krankheitszustandes mit den bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und ggf unter Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte. Hierzu gehört auch ein evtl Suchtmittelgebrauch in der Vergangenheit sowie das Bestehen oder der Verdacht einer Suchtmittelabhängigkeit. Der Vertragsarzt muss die mit Cannabis zu behandelnde(n) Erkrankung(en), ihre Symptome und das angestrebte Behandlungsziel und die bereits angewendeten Standardbehandlungen, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen benennen. Die von § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB V vorgesehene Abwägung der verfügbaren Standardtherapien mit dem geplanten Einsatz von Cannabis erfordert es überdies, dass der Vertragsarzt alle noch verfügbaren Standardtherapien benennt und deren zu erwartenden Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und die zu erwartenden Nebenwirkungen darlegt. Diese Tatsachen müssen in der Stellungnahme des Vertragsarztes enthalten sein und unterliegen der vollständigen Überprüfbarkeit durch KK und Gericht (im Einzelnen dazu BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - RdNr 33).
(2) In die Abwägung einzubeziehen sind auch Kontraindikationen und mögliche schädliche Auswirkungen der Therapie mit Cannabis. Ob ein bereits festgestelltes Abhängigkeitssyndrom eine Kontraindikation für die Behandlung mit Cannabis darstellt, obliegt der Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes. Dieser hat sich möglichst genaue Kenntnis vom bisherigen Konsumverhalten, möglichen schädlichen Wirkungen des bisherigen Konsums und dem Grad der Abhängigkeit zu verschaffen, die Risiken der Cannabismedikation abzuwägen und zu beurteilen, welche Vorkehrungen gegen einen Missbrauch des verordneten Cannabis, etwa durch die Wahl der Darreichungsform, zu treffen sind. Zur Beschreibung des bisherigen Konsumverhaltens kann auf gängige Diagnosesysteme zurückgegriffen werden, die ua Abstufungen für den Schweregrad eines problematischen Vorkonsums enthalten (zB Cannabis -Use Disorder 305.20, 304.30 DSM-5 = Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung, aktuell in der 5. Auflage; Psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide F12.2 ICD-10-GM = Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification, herausgegeben vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte; BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 19/22 R - RdNr 22; BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - RdNr 38).
(3) Die gerichtliche Überprüfung der vom Vertragsarzt abgegebenen begründeten Einschätzung beschränkt sich auf die Vollständigkeit und Nachvollziehbarkeit der erforderlichen Angaben. Den KKn und Gerichten ist die Prüfung des Abwägungsergebnisses auf Richtigkeit verwehrt. Insbesondere steht es ihnen nicht zu, die Anwendbarkeit einer verfügbaren Standardtherapie selbst zu beurteilen und diese Beurteilung an die Stelle der Abwägung des Vertragsarztes zu setzen. Hat der Vertragsarzt in seiner begründeten Einschätzung grundsätzlich verfügbare Standardtherapien nicht aufgeführt und damit keiner Abwägung unterzogen, erschöpft sich die verwaltungsseitige und gerichtliche Überprüfung in der Feststellung, dass es weitere Standardtherapien gibt. Es steht dem Versicherten dann frei, im Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren eine ergänzte begründete Einschätzung des Vertragsarztes auch hinsichtlich dieser Therapien vorzulegen, die wiederum nur einer eingeschränkten Überprüfbarkeit unterliegt. KKn und Gerichte sind nicht befugt, ggf gutachterlich gestützt, die Anwendbarkeit einer Standardtherapie im Fall des Versicherten selbst abschließend zu beurteilen (im Einzelnen dazu BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - RdNr 37 und 39).
(4) Die Feststellungen des LSG reichen aus, um abschließend über den Rechtsstreit entscheiden zu können. Die Äußerungen des den Kläger seit 2012 behandelnden P genügen auch bei dem gesetzlich vorgegebenen eingeschränkten Prüfungsumfang den genannten Anforderungen nicht.
Die vom LSG festgestellten Inhalte der Äußerungen von P sind jedenfalls hinsichtlich grundsätzlich verfügbarer Standardtherapien und ihrer Anwendbarkeit im Fall des Klägers unvollständig. Wie das LSG unter Bezugnahme auf den MDK und das erstinstanzlich eingeholte Gutachten von N für den Senat bindend (siehe RdNr 29) festgestellt hat, existieren für den Kläger dem medizinischen Standard entsprechende, wirksame Behandlungsmöglichkeiten für seine Krankheiten, zudem andere als die bisher eingesetzten antiepileptischen Medikamente, auf die P nicht eingegangen ist. In dessen Einschätzung fehlt es nach den weiteren Feststellungen des LSG auch an einer konkreten Darstellung des Krankheitszustands, insbesondere zur Häufigkeit und Schwere der epileptischen Anfälle, der Darlegung, wann welches Medikament in welcher Dosierung und für welchen Zeitraum mit welchem Erfolg eingesetzt worden ist, welche Nebenwirkungen dabei aufgetreten sind und warum diese unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Klägers bei ihm nicht anwendbar sind. Die Darstellung wird vom LSG als "pauschal" charakterisiert. Diese Begründungsmängel hat P - so die inzidente Feststellung des LSG - auch nicht während des Gerichtsverfahrens behoben.
Der Senat ist an diese Feststellungen gebunden, denn der Kläger bringt diesbezüglich keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen vor (vgl § 163 SGG). Soweit er sinngemäß rügt, das LSG habe die Grenzen freier Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) überschritten, bezeichnet er iS von § 164 Abs 2 Satz 3 SGG nicht alle Tatsachen, die den Mangel ergeben sollen. Notwendig hierfür ist eine Darlegung, die das Revisionsgericht in die Lage versetzt, sich allein anhand der Revisionsbegründung ein Urteil darüber zu bilden, ob die angegriffene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhen kann. Im Falle der Rüge eines Verstoßes gegen die Grenzen freier Beweiswürdigung kann das Revisionsgericht nur prüfen, ob das Tatsachengericht bei der Beweiswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat, und ob es das Gesamtergebnis des Verfahrens ausreichend und umfassend berücksichtigt hat. Die Beweiswürdigung steht innerhalb dieser Grenzen im freien Ermessen des Tatsachengerichts (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG). Wer diesen Verfahrensverstoß rügt, muss das Vorliegen dieser Voraussetzungen im Einzelnen darlegen (vgl zum Ganzen BSG vom 7.11.2017 - B 1 KR 24/17 R - BSGE 124, 251 = SozR 4-2500 § 13 Nr 39, RdNr 26 mwN).
Die gegen die Feststellungen gerichteten Angriffe des Klägers sind unzulässig. Denn sie erschöpfen sich in der Wiedergabe der vom LSG auf der Grundlage anderer ärztlicher Stellungnahmen beanstandeten Ausführungen von P und der Behauptung, diese seien völlig ausreichend. Er verweist darauf, dass P über leitliniengerechte Therapieversuche mit Carbamazepin, Oxcarbazepin, Levetiracetam, Gabapentin und Valproinsäure berichtet habe. Strengere Anforderungen an die Darlegungslast des Vertragsarztes würden die gesetzlich angeordnete Therapiehoheit des behandelnden Vertragsarztes ad absurdum führen. Einen Verstoß gegen die Grenzen der freien Beweiswürdigung zeigt der Kläger damit nicht auf. Soweit er damit zugleich den vom Senat gefundenen rechtlichen Prüfungsmaßstab für die begründete Einschätzung angreifen sollte, liegt schon im Ansatz keine Verfahrensrüge vor.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Schlegel Bockholdt Geiger
Fundstellen