Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 02.08.1990)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 2. August 1990 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger ab 2. Mai 1989 für 78 Wochen Krankengeld zu gewähren hat.

Der Kläger ist seit 31. März 1988 bei der Beklagten ohne Anspruch auf Krankengeld versichert. Wegen eines nervlichen Erschöpfungszustandes war er vom 2. Mai bis 15. Mai 1983 und vom 4. September bis 28. Oktober 1984 sowie ab 1. Oktober 1986 arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte gewährte ihm für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zum 30. März 1988 Krankengeld.

Im April 1989 beantragte der Kläger die Gewährung von Krankengeld ab 2. Mai 1989. Er legte hierzu eine Bescheinigung von Dr. H. … vom 14. April 1989 vor, nach der die seit 1987 ohne Unterbrechung vorliegende Krankheit Arbeitsunfähigkeit auch über den 1. Mai 1989 hinaus begründet. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, ein Krankengeldanspruch bestehe nach dem ab 1. Januar 1989 geltenden § 48 Abs 2 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB V) nicht (Bescheid vom 3. Mai 1989 und Widerspruchsbescheid vom 10. Oktober 1989).

Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Koblenz vom 11. April 1990 und Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Rheinland-Pfalz vom 2. August 1990). In den Entscheidungsgründen des LSG wird ua ausgeführt: Einen Anspruch auf Krankengeld habe der Kläger wegen derselben Krankheit im zweiten Dreijahreszeitraum vom 2. Mai 1989 bis zum 1. Mai 1992 nach § 48 Abs 2 SGB V nur, wenn er in der Zwischenzeit nicht wegen eines nervlichen Erschöpfungszustandes mindestens sechs Monate arbeitsunfähig gewesen sei. Diese Voraussetzung erfülle er nicht. Denn aus den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. H. … ergebe sich, daß beim Kläger seit Oktober 1986 durchgehend die genannte Erkrankung bestanden habe. Außerdem stehe dem geltend gemachten Anspruch entgegen, daß der Kläger seit dem 31. März 1988 nicht mit einem Anspruch auf Krankengeld versichert sei. Die gesetzliche Neuregelung sei auch nicht verfassungswidrig, insbesondere verstoße sie nicht gegen Art 14 des Grundgesetzes (GG). Zwar habe der Kläger aufgrund des alten Rechts eine dem Schutz des Art 14 GG unterliegende Rechtsposition erworben. Diese sei jedoch durch die Vorschrift des § 48 Abs 2 SGB V nicht völlig beseitigt worden. Denn das neue Recht lasse die Gewährung von Krankengeld wegen derselben Krankheit in einem weiteren Dreijahreszeitraum weiterhin zu. Die Vorschrift bestimme lediglich, unter welchen anderen Voraussetzungen ein erneutes Krankengeld wegen derselben Krankheit gewährt werden müsse. Insoweit habe der Gesetzgeber in zulässiger Art und Weise Inhalt und Schranken des Eigentums gemäß Art 14 Abs 1 Satz 2 GG bestimmt. Die Verschärfung der Voraussetzungen für die Wiedergewährung von Krankengeld in einer neuen Blockfrist solle dazu beitragen, die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung zu reduzieren, damit dieses Sicherungssystem funktionsfähig erhalten werden könne. Um dieses Ziel zu erreichen, dürfe der Gesetzgeber dem Einzelnen zumuten, Einbußen in geschützte Positionen hinzunehmen, solange das Gesetz den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahre. Dies sei der Fall, wenn die Regelungen zur Erreichung des gesetzgeberischen Zieles geeignet und erforderlich seien und den Betroffenen nicht übermäßig belasteten. Die Neuregelung erfülle die genannten Voraussetzungen, so daß sie als verfassungsmäßig angesehen werden müsse.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung des Art 14 GG und die Nichtanwendung des § 183 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO). Durch Eintritt des Versicherungsfalls habe er, der Kläger, vor dem 1. Januar 1989 eine Anwartschaft auf Krankengeld erworben, die auch in einer weiteren Dreijahresfrist den Schutz der Eigentumsgarantie des Art 14 GG genieße. Deshalb könne § 48 Abs 2 SGB V hier nicht angewendet werden. Andernfalls würde ein nach Art 14 GG unzulässiger Eingriff in seine Rechtsposition vorliegen. Denn mit einer rückwirkenden Anwendung des § 48 Abs 2 SGB V auf Versicherungsfälle, die bereits vor dem 1. Januar 1989 eingetreten seien, verstoße die Beklagte gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 2. August 1990 und das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 11. April 1990 sowie den Bescheid der Beklagten vom 3. Mai 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Oktober 1989 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Krankengeld für 78 Wochen ab dem 2. Mai 1989 zu gewähren,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und macht ergänzend geltend, eine unechte Rückwirkung sei nur dann verfassungswidrig, wenn sie in einen Vertrauenstatbestand eingreife und die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für die Allgemeinheit das Interesse des Einzelnen am Fortbestand des bisherigen Zustandes nicht übersteige. Der Gesetzgeber des Gesundheits-Reformgesetzes (GRG) habe in die Rechtsposition des Klägers insofern nachteilig eingegriffen, als bei diesem zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der gesetzlichen Neuregelung zwar noch nicht der Leistungsfall – nämlich die Krankengeldgewährung –, aber bereits der Versicherungsfall eingetreten gewesen sei. Dies könne jedoch verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden, da das öffentliche Interesse an der mit der Neuregelung erstrebten Erhaltung der Funktions- und Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung höher eingeschätzt werden müsse als der durch die vorangegangene gesetzliche Regelung (§ 183 Abs 2 RVO) für den Kläger geschaffene Vertrauenstatbestand. Im übrigen müsse jeder Versicherte im Rahmen der Solidargemeinschaft damit rechnen, daß Leistungen im Laufe der Zeit insoweit zurückgenommen werden könnten, als sie die Grenzen des jeweiligen Systems überschritten. Diese Systemüberschreitung liege bei dem hier zu beurteilenden Sachverhalt jedoch vor, da der Kläger von einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung im Ergebnis eine Erwerbsunfähigkeitsrente (in Intervallen) auf Lebenszeit begehre.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers führt zur Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG. Die bisherigen Tatsachenfeststellungen reichen nicht aus, um über den geltend gemachten Krankengeldanspruch abschließend zu entscheiden.

1. Nach den für das Revisionsgericht bindenden (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) Feststellungen des LSG steht fest, daß der Kläger wegen eines nervlichen Erschöpfungszustandes seit 1. Oktober 1986 durchgehend arbeitsunfähig ist und daß er wegen dieser Krankheit in der vorhergehenden Dreijahresfrist bis zum 30. März 1988 Krankengeld bezogen hat. Er erfüllt damit nicht die in § 48 Abs 2 SGB V verlangten Voraussetzungen für das Wiederaufleben des Anspruchs auf Krankengeld. Danach darf der Versicherte in der Zwischenzeit mindestens sechs Monate nicht wegen derselben Krankheit arbeitsunfähig gewesen sein und muß entweder erwerbstätig gewesen sein oder der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden haben. Außerdem verlangt die am 1. Januar 1989 in Kraft getretene gesetzliche Neuregelung, daß der Versicherte nunmehr mit Anspruch auf Krankengeld versichert ist. Auch diese Voraussetzung liegt nach den Tatsachenfeststellungen des LSG nicht vor.

Gleichwohl kann der Senat nicht abschließend über den geltend gemachten Krankengeldanspruch für die Zeit ab 2. Mai 1989 entscheiden, denn es ist bisher nicht festgestellt, ob der Kläger – wofür sich aus den Verwaltungsakten Anhaltspunkte ergeben -dauernd arbeits- und erwerbsunfähig ist, ohne daß er die Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllt. Hierauf kommt es aber an. Gehört der Kläger nämlich zu der Personengruppe der Dauerarbeits- und -erwerbsunfähigen ohne Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente, so ist die Vorschrift des § 48 Abs 2 SGB V nach Auffassung des erkennenden Senats aus verfassungsrechtlichen Gründen auf ihn nicht anwendbar. Denn mit der Verschärfung der Voraussetzungen für das Wiederaufleben des Anspruchs auf Krankengeld durch § 48 Abs 2 SGB V hat der Gesetzgeber bei denjenigen, bei denen der Versicherungsfall schon vor dem 1. Januar 1989 eingetreten war, in eine durch Art 14 GG geschützte Rechtsposition eingegriffen und für den genannten Personenkreis eine Regelung getroffen, die einem ersatzlosen Entzug dieser Rechtsposition gleichkommt. Der Senat hat deshalb in der Revisionssache 1/3 RK 9/90 durch Beschluß vom gleichen Tage das Verfahren gemäß Art 100 Abs 1 GG ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 48 Abs 2 SGB V insoweit mit Art 14 Abs 1 GG vereinbar ist, als auch bei Versicherten, bei denen der Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten des GRG eingetreten ist und die auf Dauer arbeits- und erwerbsunfähig sind, ohne daß sie einen Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung haben, der Krankengeldanspruch nur unter den erschwerten Bedingungen des neuen Rechts wiederaufleben kann. Wegen der Einzelheiten wird auf die Begründung dieses Vorlagebeschlusses verwiesen.

2. Die verfassungsrechtliche Problematik könnte hier allerdings entfallen, wenn – wofür in den Verwaltungsvorgängen ebenfalls Anhaltspunkte vorhanden sind – der Kläger von der Ärzteversorgung Westfalen-Lippe eine Berufsunfähigkeitsrente erhält und er sich im Hinblick auf die Absicherung durch die Ärzteversorgung von der gesetzlichen Rentenversicherung hat befreien lassen. Auch hierzu fehlen bisher die notwendigen Tatsachenfeststellungen. Sollte sich ergeben, daß der Kläger eine Berufsunfähigkeitsrente von der Ärzteversorgung Westfalen-Lippe bezieht, so wird das LSG auch zu prüfen haben, ob diese Rente in analoger Anwendung des § 50 SGB V zum Wegfall oder zur Kürzung des Krankengeldes führt.

Schließlich wird das Berufungsgericht auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173315

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