Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 21.08.1989) |
SG Lübeck (Urteil vom 18.07.1988) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 21. August 1989 und des Sozialgerichts Lübeck vom 18. Juli 1988 geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in allen Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Dem Kläger sind nach einem Schlaganfall mit Bescheid vom 24. März 1986 ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen „G”, „B”, „aG” und „H” zuerkannt worden; das Merkzeichen „RF” ist dagegen abgelehnt worden. Der erneute Antrag des Klägers vom Februar 1987 wurde abschlägig beschieden (Bescheid vom 10. April 1987; Widerspruchsbescheid vom 17. September 1987). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) diese Bescheide aufgehoben und das beklagte Land verurteilt, dem Kläger das Merkzeichen „RF” zuzuerkennen (Urteil vom 18. Juli 1988). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil bestätigt (Urteil vom 21. August 1989): Der Kläger könne zwar mit Hilfe eines Rollstuhls und einer Begleitperson noch öffentliche Veranstaltungen erreichen, er sei jedoch wegen eines organischen Psychosyndroms spätestens nach 30 Minuten geistig nicht mehr aufnahmefähig und deshalb bei der überwiegenden Zahl der öffentlichen Veranstaltungen nicht in der Lage, diese bis zu ihrem Ende zu verfolgen. Damit sei er wegen seines Leidens ständig nicht in der Lage, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Dagegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Beklagten. Er rügt eine fehlerhafte Auslegung der Schleswig-Holsteinischen Landesverordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht, die nur für solche Behinderte gelte, die körperlich nicht in der Lage seien, öffentliche Veranstaltungen zu erreichen und dort zu verbleiben. Im übrigen habe das LSG zu Unrecht gemeint, daß mit einer geistigen Aufnahmefähigkeit von höchstens 30 Minuten die meisten öffentlichen Veranstaltungen für den Kläger nicht in Betracht kämen.
Der Beklagte beantragt,
die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Der Kläger hat gegenüber der Versorgungsverwaltung keinen Anspruch auf die Feststellung, daß die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des begehrten Nachteilsausgleichs, die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht, bei ihm vorliegen (§ 4 Abs 4 iVm Abs 1 Schwerbehindertengesetz ≪SchwbG≫ – idF der Bekanntmachung vom 26. August 1986 BGBl I 1421 berichtigt 1550 –). Diese Feststellung ist die Grundlage für die Eintragung des Merkmals „RF” im Schwerbehindertenausweis (§ 4 Abs 5 Satz 1 und 5 SchwbG, § 1 Abs 1 Satz 1 und Abs 4, § 3 Abs 1 Nr 4 Ausweisverordnung-Schwerbehindertengesetz ≪SchwbAwV≫ – idF der Bekanntmachung vom 3. April 1984 BGBl I 509 –). Der Kläger erfüllt nach wie vor nicht die Voraussetzungen der Schleswig-Holsteinischen Landesverordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (RGVO) vom 13. Februar 1980 (GVOBl S 71), so daß der Beklagte den früheren Bescheid von 1986 nicht zurückzunehmen hat. Da die landesrechtliche Verordnung in den alten Bundesländern inhaltsgleich gilt (Rundfunkgebührenvertrag vom 31. März 1975, GVOBl Schleswig-Holstein S 56), hat das Revisionsgericht über ihre Auslegung und Anwendung zu entscheiden (§ 162 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫; BSGE 53, 175, 177 = SozR 3870 § 3 Nr 15; BSG ZfSH/SGB 1987, 318).
Nach § 1 Abs 1 Nr 3 RGVO werden Behinderte von der Rundfunkgebührenpflicht befreit, wenn sie nicht nur vorübergehend um wenigstens 80 vH in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert sind und wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Das LSG hat insoweit unangegriffen und damit bindend (§ 163 SGG) festgestellt, daß der Kläger mit technischen Hilfsmitteln und einer Begleitperson, deren Notwendigkeit mit dem Merkzeichen „B” anerkannt ist, noch in der Lage ist, öffentliche Veranstaltungen zu erreichen und dort zu verbleiben, ohne durch körperliche oder geistige Auffälligkeiten abstoßend oder störend auf seine Umgebung einzuwirken. Allein wegen der körperlichen Behinderungen ist er deshalb nicht ständig von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen (vgl BSG SozR 3870 § 3 Nrn 24 und 25 mwN).
Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen ist dem Kläger das Merkzeichen „RF” auch nicht deshalb zuzuerkennen, weil er infolge rascher Erschöpfung der geistigen Aufnahmefähigkeit öffentlichen Veranstaltungen in der Regel nicht mehr bis zu ihrem Ende folgen kann. Das LSG hat sich für diese Einschätzung auf das Gutachten einer psychiatrischen Sachverständigen gestützt und als allgemeinkundige Tatsache angenommen, daß öffentliche Veranstaltungen in der überwiegenden Mehrzahl länger als 30 Minuten dauern. Dem Beklagten ist einzuräumen, daß es zweifelhaft sein kann, ob nach allgemeiner Erfahrung öffentliche Veranstaltungen regelmäßig länger als 30 Minuten dauern und ob für sie das von der Sachverständigen vorausgesetzte Maß an Konzentrationsfähigkeit erforderlich ist. Dies braucht aber nicht entschieden zu werden.
Selbst wenn die Feststellungen des Berufungsgerichts als zutreffend unterstellt werden, hat der Kläger keinen Anspruch auf Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht. Die körperliche Teilnahme ist allein maßgebend; es wird nicht zusätzlich eine ständige geistige Anteilnahme an der Veranstaltung verlangt.
Die von der Landesregierung auf der Ermächtigungsgrundlage des Art 7 des Staatsvertrages iVm § 1 des Zustimmungsgesetzes vom 31. März 1975 (GVOBl S 56) erlassene Verordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht ist eng auszulegen und damit auch keiner analogen Anwendung zugänglich. Das ergibt sich aus den kasuistisch in § 1 RGVO geregelten Gründen für eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht aus sozialen Gründen sowie aus der Regelung des § 2, die als Auffangtatbestand weitere Befreiungen nur in besonderen Härtefällen und nur durch die Rundfunkanstalt erlaubt. Die Befreiungstatbestände knüpfen durchweg an bereits festgestellte Leistungsvoraussetzungen anderer Sozialleistungsgesetze (§ 1 Abs 1 Nrn 1, 4 bis 6 RGVO) oder an nach Maßgabe solcher Gesetze leicht zu ermittelnden Einkommensgrenzen an (Nrn 7 und 8). Soweit allein körperliche Behinderungen zur Gebührenbefreiung berechtigen sollen, sind mit Blinden und Hörgeschädigten in § 1 Abs 1 Nr 2 Buchst a und b ebenfalls Personenkreise erfaßt, die sich nach äußerlich erkennbaren oder relativ leicht feststellbaren Merkmalen von anderen Behinderten unterscheiden lassen. Der Verordnungsgeber hat sich bemüht, die Befreiungstatbestände klar und in ihren tatsächlichen Voraussetzungen leicht feststellbar zu gestalten, auch um den Kreis der von der Rundfunkgebührenpflicht Befreiten überschaubar zu halten (vgl Runderlaß des Sozialministers Schleswig-Holstein vom 18. September 1980 – Amtsbl für Schleswig-Holstein 1980, S 639, sowie die den Beteiligten bekanntgegebene Stellungnahme der Hessischen Staatskanzlei vom 23. Februar 1990 in der Revisionssache 9 RVs 9/89). Nach der Systematik der Verordnung und dem erkennbaren Bestreben des Verordnungsgebers kann es keinem Zweifel unterliegen, daß in § 1 Abs 1 Nr 3 RGVO nur solche Behinderte mit einer MdE (allgemein jetzt: GdB) um wenigstens 80 vH gemeint sind, die allein physisch nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen können, sei es wegen körperlicher Behinderung, sei es wegen Unzumutbarkeit für ihre Umgebung. Solche Gründe sind leicht erkennbar und in ihrer Auswirkung sicher zu beurteilen. Für geistige und seelische Beeinträchtigungen gilt das nicht, wie die Tatsachenfeststellungen des LSG anschaulich beweisen (zum Erfordernis der eindeutigen Abgrenzbarkeit vgl auch BSGE 53, 175). Auch bei körperlich und geistig gesunden Personen ist das Konzentrationsvermögen unterschiedlich und nicht unbegrenzt. Je nach der Art der Veranstaltung wird es in mehr oder weniger starkem Maße gefordert und aufgebraucht. Allgemein läßt sich für öffentliche Veranstaltungen nichts darüber sagen, wieviele der Anwesenden wielange dem Geschehen aufmerksam folgen, welches Maß an geistiger Anteilnahme also durchschnittlich aufgebracht wird. Damit läßt sich auch nicht allgemein sagen, wo das Mindestmaß der geistigen Anteilnahme liegt, unterhalb dessen von einer „Teilnahme” sinnvollerweise nicht mehr gesprochen werden kann.
Aus den mehrfachen Änderungen der Wortfassung des § 1 Abs 1 Nr 3 RGVO ergibt sich entgegen der Auffassung des LSG kein Hinweis darauf, daß unter „Teilnehmen” neben der körperlichen Anwesenheit auch die geistige Aufnahmefähigkeit zu verstehen ist. Die Änderungen betrafen jeweils nur körperliche Merkmale oder Fähigkeiten, wie zB das in der Verordnung vom 14. Januar 1970 (GVOBl S 15) noch enthaltene Merkmal „ständig an die Wohnung gebunden” (vgl dazu BSGE 53, 175) oder die in der Verordnung vom 21. Dezember 1972 (GVOBl S 260) enthaltenen Merkmale der Beeinträchtigung des Stütz- und Bewegungssystems oder der körperlichen Entstellung. Der Wegfall der genannten Einschränkungen mag eine gewisse Ausdehnung des für eine Gebührenbefreiung in Frage kommenden Kreises der Körperbehinderten mit sich gebracht haben, läßt aber keine Tendenz zur Ausweitung auch auf solche Behinderte erkennen, die in der geistigen Aufnahmefähigkeit beeinträchtigt sind.
Für eine erweiternde Auslegung des Gebührenbefreiungstatbestandes zugunsten des Klägers kann auch nicht § 2 Abs 2 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) herangezogen werden. Nach dieser Vorschrift ist bei der Auslegung der Vorschriften des SGB sicherzustellen, daß die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Die RGVO gilt aber im Unterschied etwa zum SchwbG (vgl Art 2 § 1 Nr 3 SGB I) nicht als Teil des SGB und unterliegt deshalb nicht dem Anwendungsbereich der Auslegungsvorschrift. Soweit die RVGO eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht aus sozialen Gründen vorsieht, kann sie zwar zum materiellen Sozialrecht im weiteren Sinne gezählt werden. Eine deshalb zu erwägende analoge Anwendung der Auslegungsvorschrift (vgl dazu Seewald in KassKomm SGB I, § 2 RdNr 13) scheidet aber aus. Die Gebührenbefreiungstatbestände sind gleichzeitig auch dem öffentlichen Gebührenrecht zuzuordnen, und jede Ausweitung des von der Gebührenentrichtung befreiten Personenkreises berührt den gebührenrechtlichen Grundsatz der verhältnismäßigen Gleichbehandlung der Nutzer (vgl BVerfGE 50, 217, 227). Selbst wenn dem Gebührengesetzgeber grundsätzlich erlaubt ist, mit dem Gebührenrecht neben der Kostendeckung auch andere Zwecke zu verfolgen (vgl BVerfGE aaO), bedarf dies einer besonderen Rechtfertigung. Das gilt besonders dann, wenn der finanzielle Ausfall durch eine Gebührenbefreiung aus sozialen Gründen nicht aus allgemeinen Steuermitteln, sondern allein von den verbleibenden Gebührenzahlern getragen wird. Wenn aber schon für die eindeutig geregelten Befreiungstatbestände eine solche Rechtfertigung nur schwer zu erkennen ist, gilt dies erst recht für ihre zusätzliche Ausdehnung.
Selbst wenn von gebührenrechtlichen Bedenken gegen eine erweiternde Auslegung abgesehen wird, wird sie von § 2 Abs 2 SGB I deshalb nicht getragen, weil die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht zur sozialen Eingliederung, dem übergeordneten Ziel des Schwerbehindertenrechts (vgl §§ 10, 29 Abs 1 Nr 3 Buchst i SGB I), derartig Behinderter weder erforderlich noch geeignet ist. Der kostenlose Rundfunk- und Fernsehempfang ermöglicht oder erleichtert die durch die verminderte geistige Aufnahmefähigkeit beeinträchtigte Teilnahme des Klägers am Gemeinschaftsleben nicht. Denn die Beeinträchtigung der geistigen Aufnahmefähigkeit wirkt sich bei öffentlichen Veranstaltungen und beim häuslichen Rundfunkempfang in gleicher Weise aus. Der Rundfunk kann insoweit keinen Ersatz für nicht mehr erreichbare öffentliche Veranstaltungen bieten. Der Hinweis des LSG darauf, daß nach § 1 Abs 1 Nr 2 RGVO auch Blinde und Hörgeschädigte von der Gebührenpflicht befreit werden, obwohl sich hier die Behinderung bei öffentlichen Veranstaltungen und dem häuslichen Rundfunkempfang ebenfalls in gleicher Weise auswirkt, betrifft einen Sonderfall. Die darin liegende mögliche Begünstigung beruht auf der herkömmlichen besonderen Bewertung dieser Behinderungen und kann deshalb nicht verallgemeinert werden (vgl zur Sonderstellung von Blinden auch BSG SozR 3870 § 3 Nrn 18 und 28).
Der Kläger erfüllt schließlich auch nicht deshalb die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht, weil ihm das Merkzeichen „H” (hilfslos) bereits zuerkannt worden ist. Die Anspruchsvoraussetzungen für das Merkzeichen „RF” und das Merkzeichen „H” stimmen nicht überein; „H” schließt auch nicht „RF” denknotwendig ein. Das Merkzeichen „H” ist demjenigen zu gewähren, der für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange dauernd fremder Hilfe bedarf (vgl § 3 Abs 1 Nr 2 SchwbAwV iVm § 33b Einkommensteuergesetz ≪EStG≫ oder entsprechenden Vorschriften; BSGE 59, 103, 104 = SozR 3875 § 3 Nr 2; SozR 3100 § 35 Nr 16). Auch wer in einem solchen Ausmaß hilfebedürftig ist, ist damit nicht zwingend von der Teilnahme am öffentlichen Gemeinschaftsleben ausgeschlossen. Der Verordnungsgeber hat wohl in § 1 Abs 1 Nrn 4 und 5 RGVO Gebührenbefreiungen für bestimmte Pflegebedürftige vorgesehen, ohne daß zusätzlich geprüft werden muß, ob die betroffenen Personen aus gesundheitlichen Gründen gehindert sind, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Der Kreis der solchermaßen Begünstigten, der auf die Empfänger bestimmter Arten von Pflegeleistungen beschränkt ist, muß aber außer den gesundheitlichen Beeinträchtigungen noch ein geringes Einkommen aufweisen, was den Besuch öffentlicher Veranstaltungen zusätzlich erschweren kann. Zu diesem Personenkreis gehört der Kläger nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen