Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 24.06.1992) |
SG München (Urteil vom 07.08.1991) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. Juni 1992 aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 7. August 1991 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt den Nachteilsausgleich „RF”. Bei ihr sind nach dem Bescheid vom 7. Juli 1989 ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 und die gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche „B” und „G” anerkannt. Die zugrundeliegenden Behinderungen sind wie folgt bezeichnet: „armbetonte Halbseitenschwäche rechts mit zentraler Seh-, Hör-, Sprach-, Lese- und Rechenstörung sowie mit depressiver Verstimmung nach Entfernung eines vom linken Schläfenbein ausgehenden Epidermoids und postoperativer Hirnblutung, Trigeminus-Neuralgie, Schuppenflechte”. Der Nachteilsausgleich „RF” wurde abgelehnt. Die Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ München vom 7. August 1991). Das Landessozialgericht (LSG) hat den Beklagten verurteilt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht anzuerkennen (Urteil vom 24. Juni 1992). Die Klägerin könne – wie nach § 1 Abs 1 Nr 3 der Verordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 24. März 1981 – RGVO – (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1981, S 74) gefordert – wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen. Aus dem vom SG eingeholten Gutachten des ärztlichen Sachverständigen Dr. G. … ergebe sich, daß die Sprach- und Verständnisfähigkeit der Klägerin durch Aphasie erheblich eingeschränkt sei. Eine Unterhaltung habe der Sachverständige mit ihr nur führen können, indem er sehr langsam gesprochen und manche Worte mehrmals wiederholt habe. Solche Rücksichtnahme sei bei öffentlichen Veranstaltungen von vornherein ausgeschlossen. Nach Sinn und Zweck der Vorschriften über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht gehöre die Klägerin deshalb zum anspruchsberechtigten Personenkreis.
Der Beklagte rügt mit der vom Senat zugelassenen Revision, das LSG habe § 1 Abs 1 Nr 3 RGVO verletzt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) komme es nur auf die Möglichkeit körperlicher Teilnahme, nicht darauf an, ob der Behinderte in der Lage sei, öffentlichen Veranstaltungen geistig zu folgen (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 2).
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. Juni 1992 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 7. August 1991 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig, weil sie wie eine Hörgeschädigte zu behandeln sei, die nach § 1 Abs 1 Nr 2b RGVO von der Rundfunkgebührenpflicht befreit werde.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist begründet.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Feststellung, daß die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des begehrten Nachteilsausgleichs, die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht, bei ihr vorliegen (§ 4 Abs 4 des Schwerbehindertengesetzes ≪SchwbG≫ idF der Bekanntmachung vom 26. August 1986, BGBl I 1421, berichtigt 1550). Sie erfüllt nicht die Voraussetzungen, unter denen eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vorgesehen ist. Über die Auslegung und Anwendung des – durch die Neufassung der RGVO (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1992, 254) zum 1. August 1992 unveränderten -§ 1 Abs 1 Nrn 2b und 3 kann das Revisionsgericht entscheiden, weil diese Vorschrift des Bayerischen Landesrechts mit den landesrechtlichen Bestimmungen anderer Bundesländer inhaltsgleich ist (BSGE 52, 168; 53, 175).
Behinderte sind nach § 1 Abs 1 Nr 3 RGVO von der Rundfunkgebührenpflicht zu befreien, wenn sie nicht nur vorübergehend um wenigstens 80 vH in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert sind und wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Das LSG hat eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen auch dann für ausgeschlossen gehalten, wenn der Behinderte in seiner Verständnisfähigkeit beschränkt ist und deshalb den Darbietungen und Ausführungen bei Vortragsabenden, öffentlichen Diskussionen, im Theater, Kino oder in der Oper nicht zu folgen vermag. Das LSG hat damit den Begriff der Teilnahme nicht so ausgelegt, wie es für die Vorschriften über eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht allgemein zu fordern ist. Sie sind eng auszulegen und einer analogen Anwendung nicht zugänglich. Das ergibt sich aus den kasuistisch in § 1 RGVO geregelten Gründen für eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht aus sozialen Gründen sowie aus der Regelung des § 2 RGVO, die als Auffangtatbestand weitere Befreiungen nur in besonderen Härtefällen und nur durch die Rundfunkanstalt erlaubt (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 2). An der vom Senat vertretenen engen Auslegung ist auch deshalb festzuhalten, weil es wegen der nahezu vollständigen Ausstattung aller Haushalte in Deutschland mit Rundfunk- und Fernsehgeräten zunehmend zweifelhaft erscheint, daß durch den Nachteilsausgleich „RF” tatsächlich ein behinderungsbedingter Mehraufwand ausgeglichen wird (BSG, Urteile vom 10. August 1993 – 9/9a RVs 7/91 – und – zum gleichgelagerten Problem bei der behinderungsgerechten Ausstattung von Kraftfahrzeugen – vom 29. September 1993 – 9 RV 12/93 – beide zur Veröffentlichung vorgesehen).
Bei der gebotenen engen Auslegung unterliegt es nach der Systematik der Verordnung, nach dem erkennbaren Bestreben des Verordnungsgebers, die Befreiungstatbestände klar und in ihren tatsächlichen Voraussetzungen leicht feststellbar zu gestalten und nach dem auf Nachteilsausgleich gerichteten Zweck der Vorschrift keinem Zweifel, daß in § 1 Abs 1 Nr 3 RGVO nur solche Behinderten mit einem GdB von 80 gemeint sind, die allein physisch nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen können. Der Wortsinn ließe es zwar durchaus zu, unter Teilnahme nicht nur die körperliche Anwesenheit zu verstehen. Diesen Gesichtspunkt läßt die RGVO aber vollständig außer acht: Geistig-seelische Teilnahmehindernisse erfüllen die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „RF” nicht, sie schließen eine Gebührenbefreiung aber auch nicht aus.
Das ergibt sich aus dem Grundgedanken des Befreiungstatbestandes in § 1 Abs 1 Nr 3 RGVO: Behinderte, denen wegen ihres Leidens öffentliche Veranstaltungen nicht zugänglich sind, hören statt dessen zu Hause Rundfunk und sehen fern. Die dafür zu zahlenden Gebühren sind behinderungsbedingter Nachteil, von dem die RGVO befreit. Der Zweck dieser Regelung wird danach verfehlt, wenn auch solche Behinderten von Gebühren befreit werden, die wegen ihres Leidens trotz körperlicher Anwesenheit weder öffentlichen Veranstaltungen zu folgen vermögen, noch Rundfunk- und Fernsehsendungen in ihrer privaten Umgebung. In solchen Fällen kann der häusliche Fernseh- und Rundfunkempfang kein Ersatz für sonst besuchte öffentliche Veranstaltungen sein. So liegt es bei der Klägerin. Sie versteht wegen Aphasie öffentlich Dargebotenes nicht. Ebensowenig vermag sie zu Hause Rundfunk- und Fernsehsendungen zu folgen.
Dem Grundgedanken des § 1 Abs 1 Nr 3 RGVO könnte es wohl entsprechen, körperlich Behinderte von der Gebührenpflicht nicht zu befreien, wenn sie zusätzlich durch geistig-seelische Leiden gehindert sind, öffentlichen Veranstaltungen zu folgen. Diese Konsequenz hat der Verordnungsgeber aber nicht gezogen, weil damit kaum überwindbare Beweisschwierigkeiten verbunden wären. Schon die Schwelle, von der an geistige und seelische Behinderungen dazu führen könnten, die Gebührenbefreiung zu versagen, ließe sich nur schwer bestimmen. Auch bei körperlich und geistig gesunden Personen ist das Konzentrationsvermögen unterschiedlich und nicht unbegrenzt. Je nach der Art der Veranstaltung wird es in mehr oder weniger starkem Maße gefordert und aufgebraucht. Allgemein läßt sich für öffentliche Veranstaltungen nichts darüber sagen, wie viele der Anwesenden überhaupt und ggf wie lange dem Geschehen aufmerksam folgen, welches Maß an geistiger Anteilnahme also durchschnittlich aufgebracht wird. Damit läßt sich auch nicht allgemein sagen, wo das Mindestmaß der geistigen Anteilnahme liegt, unterhalb dessen von einer „Teilnahme” sinnvollerweise nicht mehr gesprochen werden kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 2). Selbst wenn es gelänge, ein allgemein gültiges Maß zu finden, so fehlte es doch häufig an Mitteln, um im Einzelfall sicher feststellen zu können, ob ein Behinderter dieses Maß wegen seiner geistig-seelischen Leiden nicht mehr erfüllt.
Zur erstrebten Gebührenbefreiung vermag auch der Hinweis der Klägerin auf § 1 Abs 1 Nr 2b RGVO nicht zu führen. Unter diesen Tatbestand fallen „Hörgeschädigte, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist”. Zu diesem Personenkreis zählt die Klägerin nicht. § 1 Abs 1 Nr 2b RGVO stellt auf eine Schädigung des Hörorgans ab, die bei der Klägerin nicht vorliegt. Eine Erweiterung dieses Tatbestandes auf alle in der Verständnisfähigkeit trotz intakten Hörorgans in gleicher Weise wie Hörgeschädigte beeinträchtigten Personen wäre mit dem Wortlaut der Vorschrift unvereinbar und würde dem Gebot enger Auslegung der Regelungen über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht widersprechen.
Die gesundheitlichen Voraussetzungen für eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht liegen auch nicht schon deshalb vor, weil die Klägerin gehbehindert ist und ständiger Begleitung bedarf – Merkzeichen „B” und „G” (BSG SozR 3870 § 3 Nr 25). Das LSG hat zwar nicht festgestellt, daß die Klägerin körperlich noch in der Lage sei, öffentliche Veranstaltungen zu erreichen und dort zu verbleiben. Aus der Bezeichnung der Behinderungen ergibt sich aber kein Anhaltspunkt für Teilnahmehindernisse körperlicher Art.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen