Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 26.06.1991) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. Juni 1991 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
In dem Rechtsstreit um Verletztenrente streiten die Beteiligten sowohl um das Vorliegen einer zusätzlichen Arbeitsunfallfolge als auch um die Höhe der unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).
Der Kläger war bei der Beklagten als selbständiger Schreinermeister freiwillig versichert. Er war 54 Jahre alt, als er am 25. November 1988 auf dem Weg zum Ort seiner Betriebstätigkeit ausrutschte, auf den Rücken fiel und sich dabei Frakturen des zweiten und dritten Lendenwirbelkörpers (LWK) mit Impression der Deckplatte zuzog.
Die Beklagte gewährte ihm wegen der Unfallfolgen „Knöchern fest verheilter Deckplatteneinbruch des zweiten und dritten LWK, Bewegungseinschränkung des Oberkörpers” für die Zeit ab 15. April 1989 Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH als vorläufige Rente. Als unfallunabhängige Gesundheitsstörung stellte sie „spondylarthrotische Veränderungen der Lendenwirbelsäule (LWS) und Brustwirbelsäule (BWS) und hierdurch bedingte Bewegungseinschränkung” fest (erster angefochtener Bescheid vom 17. Oktober 1989).
Im anschließenden Widerspruchsverfahren legte der Kläger ein von ihm eingeholtes chirurgisches Gutachten des Arztes für Chirurgie Prof. Dr. M. … aus Siegen vom 19. Februar 1990 aufgrund einer Untersuchung des Klägers am 18. Dezember 1989 vor. Darin führte der Gutachter aus, die Wirbelsäule des Klägers sei zwar durch Osteoporose und Spondylarthrosis deformans vorgeschädigt gewesen, aber der Arbeitsunfall habe zu einer richtunggebenden Verschlimmerung des Wirbelsäulenleidens geführt. Er habe ein Schmerzsyndrom ausgelöst, das als Facettensyndrom bezeichnet werde. Durch den Unfall sei besonders das Facettensyndrom L 1 bis L 3 manifest geworden. Die MdE wegen der chirurgischen Unfallfolgen sei mit 40 vH zu bewerten und im Zusammenhang mit den unfallbedingten neurologischen Ausfällen auf insgesamt 50 vH einzuschätzen. Aufgrund einer aktenmäßigen Stellungnahme der Dres. W. … und C. … vom 22. März 1990 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück (Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 1990) und kündigte außerdem eine weitere Nachuntersuchung zur Feststellung der Dauerrente an.
Während des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht (SG) Koblenz hat die Beklagte zur Feststellung der Dauerrente ein weiteres medizinisches Gutachten vom 6. August 1990 aus dem Bundeswehrzentralkrankenhaus in K. … durch Dr. K. …, Sportmedizin/Chirotherapie, und Prof. Dr. R. …, Arzt für Orthopädie, Sportmedizin, nach einer ambulanten Untersuchung des Klägers am 6. Juni 1990 eingeholt. Aufgrund dessen hat die Beklagte die Verletztenrente des Klägers mit Ablauf des Monats November 1990 entzogen (zweiter angefochtener Bescheid vom 23. Oktober 1990). In dem in das Gerichtsverfahren von der Beklagten eingeführten medizinischen Gutachten vom 6. August 1990 haben die Gutachter die Ansicht vertreten, die degenerativen Veränderungen der BWS und LWS gingen mit Bewegungseinschränkungen und Schmerzhaftigkeit der BWS- und LWS-Weichteile einher. Die Beschwerden hätten schon seit Jahren vor dem Arbeitsunfall bestanden. Diese Gesundheitsstörungen am Stützapparat seien unfallunabhängig. Unfallbedingt seien ein knöchern fest verheilter Deckplatteneinbruch des zweiten und dritten LWK, Zerrüttung der Bandscheiben L 1/2 und L 2/3 mit Herniation im Bandscheibengewebe in die Deckplatte von LWK 2 und LWK 3 ohne neurologische Symptomatik; teilweise Einschränkung der Beweglichkeit der LWS; teilweise statische Minderbelastbarkeit der Wirbelsäule. Neurologische Ausfälle lägen nicht vor. Die gegenteiligen Ausführungen von Prof. Dr. M. …, daß neurologische Ausfälle bzw Schädigungen als Unfallfolgen vorlägen, träfen nicht zu. Die unfallbedingte MdE auf Dauer sei mit 10 vH einzuschätzen.
Daraufhin hat der Kläger dem SG ein erneutes chirurgisches Gutachten des Prof. Dr. M. … vom 12. November 1990 vorgelegt, das zu dem Gutachten durch Dr. K. … und Prof. Dr. R. … vom 6. August 1990 ausführlich unter Diskussion der gefertigten Röntgenbilder und Vorgutachten Stellung nimmt und auf einer ambulanten Untersuchung des Klägers am 9. November 1990 einschließlich neurologischer Befunderhebung beruht. Darin ist Prof. Dr. M. … aufgrund der vorliegenden Befunde und unter Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Schrifttum zu dem Ergebnis gekommen, die unfallbedingte MdE sei mit 40 vH einzuschätzen. Entscheidend sei die Beurteilung des Facettensyndroms im Bereich der unfallbedingten Schädigungsgebiete L 1/2 und L 2/3.
Vor dem SG hat der Kläger keinen Erfolg gehabt (Urteil vom 28. Januar 1991).
In seiner Berufungsbegründung hat sich der Kläger auf das Gutachten des Prof. Dr. M. … vom 12. November 1990 berufen und beantragt, ein weiteres Gutachten von Amts wegen einzuholen, falls das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz dem nicht folgen wolle. Der Berichterstatter des LSG hat einen Vermerk vom 14. Juni 1991 zu den Akten genommen, wonach er Dr. K. … im Bundeswehrzentralkrankenhaus in K. … angerufen und um Klarstellung gebeten habe, ob das Gutachten vom 6. August 1990 dahin zu verstehen sei, daß bei dem Kläger ein unfallbedingtes Facettensyndrom vorliege. Der Berichterstatter hat hinzugefügt, eine schriftliche Anfrage sei im Hinblick auf die kurze Zeit bis zum Termin am 26. Juni 1991 unterblieben.
In ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 17. Juni 1991 erläutern Dr. K. … und Prof. Dr. R. … ihr Gutachten vom 6. August 1990 unter Berücksichtigung des Gutachtens des Prof. Dr. M. … vom 19. Februar 1990. Sie stellen voran, daß eine adäquate neurologische Untersuchung seitens des Prof. Dr. M. … nicht dokumentiert worden sei. Vielmehr müsse aufgrund ihres Gutachtens vom 6. August 1990 davon ausgegangen werden, daß radikuläre neurogene Schäden beim Kläger nicht vorlägen, auch keine Schädigung spinaler Strukturen. Trotzdem könne ein Beschwerdebild bestehen, welches solche Schädigungen vortäusche. Diese sogenannten pseudoradikulären Schmerzsyndrome könnten „durchaus durch eine Schädigung der paravertebralen Weichteile oder spondylarhrotischen Veränderungen bzw Facettensyndrome auftreten”. Sie, die Gutachter, hätten beim Kläger keine Hinweiszeichen für pseudoradikuläre Schmerzausstrahlungen, zB infolge eines Facettensyndroms, feststellen können. Im übrigen seien solche Schmerzsyndrome auch im Rahmen der allgemeinen Beurteilungskriterien berücksichtigt. Sie blieben bei ihrer Bewertung, daß die unfallbedingte MdE zunächst für sechs Monate mit 20 vH und danach auf Dauer mit 10 vH zu bewerten sei.
Das LSG ist dem noch in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll wiederholten Antrag des Klägers, ein Sachverständigengutachten von Amts wegen einzuholen, nicht nachgekommen und hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 26. Juni 1991). Es hat in seinen Entscheidungsgründen ausgeführt, aus dem Gutachten vom 6. August 1990 durch Dr. K. … und Prof. Dr. R. … ergebe sich, daß die unfallbedingte Symptomatik bei Berücksichtigung der unfallunabhängigen Vorschädigungen allenfalls bis zum 30. November 1990 eine MdE rentenberechtigenden Grades rechtfertige. Prof. Dr. M. … habe ohne überzeugende Begründung die Diagnose eines sogenannten Facettensyndroms gestellt, das auf eine unfallbedingte Verschlimmerung einer Arthrose der zu den LWK L 1 bis L 3 gehörenden Wirbelbogengelenken (kleine Wirbelgelenke) zurückgehe. Dr. K. … und Prof. Dr. R. … (klarstellende Stellungnahme vom 17. Juni 1991) zufolge seien demgegenüber Hinweiszeichen für ein Facettensyndrom nicht vorhanden.
Der Senat hat die Revision gegen dieses Urteil zugelassen (Beschluß vom 24. Januar 1992).
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Er rügt hauptsächlich die Verletzung des Verfahrensrechts. Auch vom Rechtsstandpunkt des LSG aus gesehen, sei der entscheidungserhebliche medizinische Sachverhalt noch nicht aufgeklärt. Er habe bereits in der Berufungsbegründung unter Bezugnahme auf das zweite fachchirurgische Gutachten des Prof. Dr. M. … vom 12. November 1990, der ihn am 9. November 1990 erneut untersucht habe, dargelegt, warum sein Anspruch begründet und das Gutachten von Dr. K. … und Prof. Dr. R. … unzutreffend sei. Da das LSG dem gleichwohl nicht habe folgen wollen, hätte es sich gedrängt fühlen müssen, seinem Antrag auf Einholung eines weiteren medizinischen Gutachtens zu folgen. Die telefonisch in Auftrag gegebene schriftliche Stellungnahme vom 17. Juni 1991 durch Dr. K. … und Prof. Dr. R. … trage zur weiteren Aufklärung des entscheidungserheblichen medizinischen Sachverhalts nichts bei, weil diesen Gutachtern nicht erneut die Aktenunterlagen zur Verfügung gestanden hätten. So hätten sie insbesondere auch keine Kenntnis von dem zweiten Gutachten des Prof. Dr. M. … gehabt; es wiederhole nur ihre bereits bekannten Einwände gegen das erste Gutachten des Prof. Dr. M. … vom 19. Februar 1990. Das weitere von ihm beantragte medizinische Gutachten hätte die Meinung von Prof. Dr. M. … bestätigt, daß er infolge des Arbeitsunfalls an einem Facettensyndrom leide und die unfallbedingte MdE zumindest mit mehr als 20 vH ausmache.
Der Kläger beantragt,
die angefochtenen Urteile aufzuheben, die angefochtenen Bescheide abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Verletztenrente nach einer MdE von mehr als 20 vH zu gewähren,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, bei der ergänzenden Stellungnahme vom 17. Juni 1991 durch Dr. K. … und Prof. Dr. R. … habe es sich lediglich um eine Klarstellung ihrer früheren Ausführungen zum Facettensyndrom gehandelt. Dafür sei es nicht erforderlich gewesen, diesen Gutachtern die gesamten Vorgänge erneut zu übersenden, insbesondere auch nicht das zweite Gutachten des Prof. Dr. M. … vom 12. November 1990. Neue Befunde oder Erkenntnisse, die dem LSG Veranlassung gegeben hätten, Prof. Dr. R. … und Dr. K. … damit zu konfrontieren, habe dieses Gutachten nicht enthalten. Auch die Tatsache, daß Dr. K. … und Prof. Dr. R. … nicht sämtliche Röntgenaufnahmen vorgelegen hätten, habe das LSG noch nicht zu einer weiteren Beweiserhebung drängen müssen, da der medizinische Streit auf einer unterschiedlichen Bewertung der im wesentlichen übereinstimmenden Befunde beruhe.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers hat insoweit Erfolg, als sie zu einer Zurückverweisung der Sache an das LSG führt.
Es genügt, daß nur eine der Rügen des Klägers durchgreift; auf weitere Rügen, die ebenfalls zur Begründetheit der Revision im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG führen können, braucht dann nicht mehr eingegangen zu werden.
Das Urteil beruht auf dem gerügten Verfahrensfehler, daß das LSG unter Verletzung seiner Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 Sozialgerichtsgesetz – SGG –), medizinisch entscheidungserhebliche Tatsachen nur unzureichend aufgeklärt hat. Es fehlen ausreichende Tatsachenfeststellungen, um den Rechtsstreit zugunsten des einen oder des anderen Beteiligten in der Sache entscheiden zu können.
Zutreffend rügt der Kläger, daß das LSG den medizinischen Sachverhalt nur unzureichend erforscht hat (§ 103 SGG). Für seine Feststellung, ob der Kläger an einem sogenannten Facettensyndrom leidet, das wesentlich durch den Arbeitsunfall mitbedingt sei, fehlt es an rechtlich einwandfreien Beweisen. Das LSG stützt sich für seine Feststellung vor allem auf die „klarstellende Stellungnahme vom 17. Juni 1991” durch Dr. K. … und Prof. Dr. R. …, mit der es die vom Kläger vorgelegten beiden fachchirurgischen Gutachten des Prof. Dr. M. … als widerlegt ansieht. Diese Stellungnahme ist jedoch lückenhaft und deshalb nicht geeignet, dem Gericht eine abschließende Sicht des entscheidungserheblichen medizinischen Sachverhalts zu vermitteln (s BSG vom 27. Juni 1969 – 2 RU 158/66 – in VersR 1969, 1092; BSG vom 16. Oktober 1974 – 10 RV 641/73 – auszugsweise mitgeteilt in KOV 1975, 143; s a Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, III Rdnr 54). Aus den Gerichtsakten geht hervor, daß es der Senatsvorsitzende des LSG vor der Ernennung eines Berichterstatters (§ 155 SGG) unterlassen hatte, den Sachverhalt so aufzuklären, daß der Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung erledigt wird (§ 106 Abs 2 SGG). Indem er nicht nur diese Aufgabe des Vorsitzenden nach § 106 SGG am 28. Mai 1991 auf einen Berichterstatter übertrug, sondern bereits unter dem 4. Juni 1991 Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 26. Juni 1991 anberaumte, entstand für den Berichterstatter ein besonderer Termindruck. In dieser Situation unterließ es dann der Berichterstatter, Dr. K. … und Prof. Dr. R. … die Aktenunterlagen zu übersenden. Daraus folgt, daß diese medizinischen Sachverständigen unter anderem auch keine Kenntnis von dem zweiten Gutachten des Prof. Dr. M. … hatten. Das wird auch durch den Inhalt der Stellungnahme vom 17. Juni 1991 mit langen Zitaten – nur – aus dem ersten Gutachten des Prof. Dr. M. … bestätigt. Das zweite Gutachten des Prof. Dr. M. … enthält aber neue medizinische Befundtatsachen sowohl an Röntgenbefunden als auch an Ergebnissen der körperlichen Untersuchung des Klägers am 9. November 1990 sowie eine medizinische Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten von Dr. K. … und Prof. Dr. R. … anhand des wissenschaftlichen Schrifttums. Dazu konnte die Stellungnahme vom 17. Juni 1991 zwangsläufig nichts aussagen. Angesichts des auf die beiden Gutachten von Prof. Dr. M. … bezogenen substantiierten Berufungsvortrags durch den Kläger hätte sich das LSG daher gedrängt fühlen müssen, seinem Beweisantrag zu folgen und zumindest eine zweite Gutachtenergänzung oder ein weiteres Gutachten zur Frage des Facettensyndroms einzuholen, bevor es sich anschickt, eine Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG vorzunehmen (s a BSG SozR 1500 § 128 Nr 31). Zu keiner Zeit ist in das Verfahren rechtlich einwandfrei eingeführt worden, daß das LSG eigenen medizinischen Sachverstand besitze, um zu diesen Fragen rechtlich einwandfreie Feststellungen treffen zu können. Auch die Bezugnahmen des LSG auf medizinisches Schrifttum führen insoweit nicht weiter, weil hier neue medizinische Befundtatsachen in Frage stehen, die sowohl der fachärztlichen Bestätigung als auch der Auswertung bedürfen.
Damit fehlt es im vorliegenden Falle an rechtlich einwandfreien Feststellungen, ob der Kläger an einem Facettensyndrom leidet, ob eine solche Gesundheitsstörung ggf durch den Arbeitsunfall und seine Folgen wesentlich mitbedingt ist, und in welcher Höhe dann die Erwerbsfähigkeit des Klägers unfallbedingt gemindert ist.
Das LSG wird diese Feststellungen nachzuholen und auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen