Orientierungssatz
Zur Frage der Zugehörigkeit und Abwendung vom deutschen Sprach- und Kulturkreis (vgl BSG vom 28.6.1990 - 4 RA 40/88).
Normenkette
WGSVG § 20 Abs 2 Fassung: 1989-12-18; FRG § 15 Abs 1, §§ 16, 17a Fassung: 1989-12-18
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 07.10.1988; Aktenzeichen L 14 J 207/86) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 13.05.1986; Aktenzeichen S 12 J 189/84) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der beklagten Landesversicherungsanstalt die Anerkennung von in Rumänien zurückgelegten Beschäftigungszeiten einschließlich einer verfolgungsbedingten Ersatzzeit sowie die Zulassung zur Beitragsnachentrichtung gemäß §§ 9 und 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung national-sozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG).
Die 1917 in R. bei S. (bis 1919 zu Österreich/Ungarn gehörend, jetzt Rumänien) geborene Klägerin lebte bis 1941 in ihrem Geburtsort. Von 1941 bis 1944 hielt sie sich in T. (Tschechoslowakei) auf. Von 1944 bis 1945 wurde sie als Jüdin verfolgt. Für die Zeit ihrer Freiheitsentziehung hat sie als anerkannte Verfolgte eine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) erhalten. Von 1945 bis 1948 lebte sie erneut in ihrem Geburtsort R. . Sie heiratete 1946 ihren zweiten Ehemann. Von 1948 bis 1950 wohnte sie in K. . 1946 und 1948 gingen aus der Ehe zwei Kinder hervor. 1951 siedelte sie mit ihrer Familie nach P. -N. (Rumänien) über. Dort legte sie die von ihr behaupteten Beschäftigungszeiten zurück, deren Anerkennung sie nun begehrt. Ihr zweiter Ehemann verstarb 1958. Sie wanderte 1962 nach Israel aus, wo sie als israelische Staatsangehörige heute noch lebt. Frühere Ausreiseanträge 1951 und 1952 hatten nicht zum Erfolg geführt.
Im Dezember 1975 beantragte die Klägerin die Anerkennung der von ihr in Rumänien zurückgelegten Versicherungszeiten und einer verfolgungsbedingten Ersatzzeit sowie die Zulassung zur Beitragsnachentrichtung nach § 10 WGSVG. Die Beklagte lehnte diesen Antrag ab (Bescheid vom 28. Februar 1983; Widerspruchsbescheid vom 2. August 1984).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 13. Mai 1986). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 7. Oktober 1988). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Der Senat sehe sich außerstande festzustellen, ob mehr für die Zugehörigkeit der Klägerin zum deutschen Sprach- und Kulturkreis spräche als dagegen. Es sei auch nicht glaubhaft gemacht, daß die Klägerin wegen ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis Rumänien verlassen habe.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 13. Mai 1986 sowie die angefochtenen Bescheide zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, die von ihr in Rumänien zurückgelegten Beschäftigungszeiten vom 1. Juni 1953 bis 31. Oktober 1954, vom 1. November 1955 bis Ende Februar 1956, vom 1. April 1956 bis 15. Dezember 1958 und vom 15. Dezember 1958 bis 23. Januar 1962 sowie die auf Verfolgung beruhende Ersatzzeit anzuerkennen und die Klägerin gemäß § 10 WGSVG zur Beitragsnachentrichtung zuzulassen.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichtes reichen für eine abschließende Sachentscheidung nicht aus.
Da die Klägerin nicht zum Personenkreis des § 1 des Fremdrentengesetzes (FRG) gehört und da der zum 1. Juli 1990 in Kraft getretene § 17a FRG (Art 15 Abschn A Nr 4 iVm Art 85 Abs 6 des Rentenreformgesetzes 1992 - RRG 1992 - vom 18. Dezember 1989 - BGBl I 2261 -) im Verhältnis zu § 20 WGSVG nachrangig ist (vgl Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 28. Juni 1990 - 4 RA 40/88 -), können Versicherungszeiten, die die Klägerin in Rumänien zurückgelegt hat oder haben soll, nach den §§ 15 und 16 FRG nur dann Zeiten gleichstehen, die im Bundesgebiet zurückgelegt sind, wenn die Voraussetzungen des § 20 WGSVG erfüllt sind. Nach dessen Satz 1 (ab 1. Januar 1990 Abs 1 Satz 1 - vgl Art 21 Nr 4c iVm Art 85 Abs 5 RRG 1992 -) stehen bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen iS des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) "vertriebene Verfolgte" gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Das FRG ist damit dann zugunsten der Klägerin anzuwenden, wenn sie zwar "vertrieben" ist, jedoch lediglich mangels Bekenntnisses zum deutschen Volkstum nicht als Vertriebene anerkannt werden kann. Nach § 1 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 BVFG ist Vertriebener auch, wer "als deutscher Volkszugehöriger" nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen Rumänien verlassen hat. Deutscher Volkszugehöriger iS des BVFG ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird (§ 6 BVFG). Dazu wird in § 20 Satz 2 (seit 1. Januar 1990: Abs 1 Satz 2) WGSVG (Art 21 Nr 4 RRG 1992) angeordnet, daß § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2 WGSVG entsprechend gilt. Nach dieser Vorschrift genügt es, soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, daß der Verfolgte im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes, dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat. Vertrieben iS des § 20 Abs 1 Satz 1 WGSVG kann nur sein, wer "im Zusammenhang mit den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges infolge Vertreibung" (§ 1 Abs 1 BVFG) seinen Wohnsitz verloren hat, also deshalb, weil er dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat und daher mit dieser Volksgruppe das Schicksal der Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt hat. Nach § 20 Abs 2 WGSVG idF des RRG 1992 wird vermutet, daß die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis eine wesentliche Ursache für das Verlassen des Vertreibungsgebietes ist. Dies gilt nicht, wenn das Vertreibungsgebiet nachweislich im wesentlichen aus anderen Gründen verlassen worden ist, weil der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht annähernd das gleiche Gewicht zukommt. Eine verfolgungsbedingte Abwendung vom deutschen Sprach- und Kulturkreis oder eine Wohnsitznahme in einem nicht deutschsprachigen Land widerlegt allein die Vermutung nicht.
Entscheidend ist es damit, ob die Klägerin beim Verlassen Rumäniens 1962 dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat. Das Urteil des LSG läßt dies offen, weil es überdies zu dem Ergebnis kommt, jedenfalls sei der Zusammenhang zwischen deutschem Sprach- und Kulturkreis und dem Verlassen Rumäniens von der Klägerin nicht dargetan, wobei aber das letztere Ergebnis bei der vom LSG angenommenen Sachlage mit dem mittlerweile in Kraft getretenen § 20 Abs 2 WGSVG nicht mehr zu vereinbaren ist, der eine Vermutung für diesen Ursachenzusammenhang aufstellt. Im Urteil des LSG heißt es weiter, daß die Klägerin zwar ursprünglich dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört habe. Gleichwohl bestünden aber starke Zweifel, ob die Klägerin in ihrem persönlichen Lebensbereich - der Ehe und Familie - überwiegend und regelmäßig deutsch gesprochen habe und ob sie sich nicht vielmehr vom deutschen Sprach- und Kulturkreis abgewandt habe. Steht aber fest, daß die Klägerin dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hatte, so genügen für die Verneinung ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht mehr bloße Zweifel, ob sie sich von diesem abgewandt hatte. Um sie aus dem Kreis der Berechtigten auszuscheiden, muß die Abwendung vom deutschen Sprach- und Kulturkreis zur Überzeugung des Tatsachengerichts feststehen. Denn nur so konnte die Klägerin die einmal erworbene Eigenschaft als Angehörige des deutschen Sprach- und Kulturkreises verloren haben.
Dem Urteil des LSG ist auch nicht zu entnehmen, ob es in rechtlicher Hinsicht von einem richtigen Begriff der "Abwendung vom deutschen Sprach- und Kulturkreis" ausgegangen ist. Nach ständiger Rechtsprechung kommt dem Gebrauch der deutschen Sprache für die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis eine "im Regelfall" ausschlaggebende Bedeutung zu (BSGE 50, 279 = SozR 5070 § 20 Nr 3; vgl auch SozR aaO Nrn 2, 4, 5 jeweils mwN). Wer eine Sprache im persönlichen Bereich ständig gebraucht, gehört nicht nur diesem Sprachkreis, sondern auch dem durch die Sprache vermittelten Kulturkreis an, weil sie ihm den Zugang zu dessen Weltbild und Denkwelt erschließt. Die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis ergibt sich daher "im Regelfall" aus dem zumindest überwiegenden Gebrauch der deutschen Muttersprache im persönlichen Lebensbereich, der in erster Linie die Sphäre von Ehe und Familie, aber auch den Freundeskreis umfaßt. Eine Mehrsprachigkeit steht der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis dann nicht entgegen, wenn der Verfolgte die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und sie in seinem persönlichen Bereich überwiegend gebraucht hat. Wer allerdings freiwillig, nicht verfolgungs- oder vertreibungsbedingt, sich von dem Gebrauch der deutschen Sprache im persönlichen Bereich auf Dauer abwendet, gehört nicht mehr dem deutschen Sprach- und Kulturkreis an.
Auch wer bloß den Umständen gehorchend den Gebrauch der deutschen Sprache aufgibt, kann die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis verlieren. Das wird aber erst nach einer Übergangszeit der Fall sein (BSGE 50, 279, 281 = SozR 5070 Nr 3 S 9; Nr 13 S 48; SozR 5070 § 20 Nr 13). Wenn neben einer zweiten Sprache im gleichen Umfang deutsch gesprochen worden ist, steht in Frage, ob überhaupt eine die Übergangsfrist in Lauf setzende Distanzierung vom deutschen Sprach- und Kulturkreis erfolgt ist (BSG SozR 5070 Nr 13 S 51, BSG-Urteil vom 28. Juni 1990 - 4 RA 40/88 - S 7). Das LSG hat aber weder eine derartige Übergangszeit noch die Frage geprüft, in welchem Umfang nach der 2. Eheschließung von der Klägerin noch deutsch gesprochen wurde.
Sind die objektiven Lebensverhältnisse, die den Verfolgten oder Vertriebenen dazu gebracht haben, vom Gebrauch der deutschen Sprache abzusehen, wesentlich von Verfolgung oder Vertreibung geprägt, so führt das dazu, daß erst nach einer verlängerten Übergangszeit die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis endet. Ein unter solchen Bedingungen geändertes Sprachverhalten läßt Rückschlüsse auf eine Abwendung vom deutschen Sprach- und Kulturkreis, die neben der Integration in einen anderen Sprach- und Kulturkreis auch die Akzeptanz einer solchen neuen Identität voraussetzt, nicht ohne weiteres und insbesondere nicht allein deshalb zu, weil auch persönliche Gründe mitgewirkt haben. Da dem Verlust der eigenen, mit der Muttersprache erworbenen Identität unter derartigen Bedingungen erhebliche innere Hemmnisse entgegenstehen, wird in solchen Fällen der Prozeß der Ablösung vom deutschen Sprach- und Kulturkreis im Regelfall eine längere Übergangszeit in Anspruch nehmen als in Fällen, in denen die Abwendung vom deutschen Sprach- und Kulturkreis bereits unter "regulären" Lebensverhältnissen - etwa durch Heirat mit einem anders sprechenden Ehepartner in der Zeit vor der Verfolgung - eingeleitet worden ist. Wird eine Ehe nach oder während der Verfolgung in einem verfolgungsbedingt fremdsprachigen Lebenskreis mit einem ausschließlich fremdsprachigen Ehepartner eingegangen, wird auch eine ca 10 Jahre überschreitende Übergangszeit in Betracht zu ziehen sein (vgl BSG SozR 5070 § 20 Nr 13; BSG-Urteil vom 28. Juni 1990 - 4 RA 40/88 - S 8).
Sollten die Voraussetzungen des § 20 WGSVG im Falle der Klägerin gleichwohl nicht erfüllt sein, wird das LSG nunmehr auch diejenigen des § 17a FRG (Art 15 Abschn A Nr 4 RRG 1992) zu prüfen haben, der am 1. Juli 1990 in Kraft getreten ist (Art 85 Abs 6 RRG 1992). Nach § 17a Buchst a FRG sind nun die für die gesetzliche Rentenversicherung maßgebenden Vorschriften dieses Gesetzes - also auch § 15 Abs 1 FRG - auf Personen anzuwenden, die die Vertreibungsgebiete nach § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG verlassen haben. Dazu gehört auch Rumänien. Voraussetzung ist, daß die Betreffenden bis zu dem Zeitpunkt, in dem der nationalsozialistische Einflußbereich sich auf ihr Heimatgebiet erstreckt hat, dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben, das 16. Lebensjahr vollendet hatten und sich wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum, nicht zum deutschen Volkstum bekannt haben. Der Sinn dieser Regelung ergibt sich aus dem Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (BT-Drucks 11/5530 S 65 zu Nr 3a § 17a FRG), auf dessen Betreiben die Vorschrift entstanden ist: Personen, die bis zum Beginn der allgemeinen Verfolgungsmaßnahmen durch den Nationalsozialismus zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gehört hatten, werden nur deshalb nicht vom FRG erfaßt, weil sie sich nicht zum deutschen Volkstum, sondern zum Judentum bekannt hatten. Diesen Personen sind durch die Auswirkungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft das familiäre Umfeld und die soziale Großgruppe entzogen worden und sie können im Verlauf der Zeit bis zur Ausreise aus ihren Heimatgebieten auch die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis verloren haben. Durch die Neuregelung soll dieser Personenkreis in das FRG einbezogen werden. Maßgebend für die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis ist damit der Zeitpunkt, zu dem der nationalsozialistische Einflußbereich sich auf das Heimatgebiet der Klägerin erstreckt hat.
Die Frage, ob die Klägerin in Rumänien Versicherungszeiten zurückgelegt hat, die inländischen Zeiten gleichstehen, kann auch von Bedeutung sein für das von ihr geltend gemachte Recht zur Nachversicherung nach den §§ 9 und 10 WGSVG sowie für die Frage, ob und welche Ersatzzeiten gegeben sind (§ 1251 Reichsversicherungsordnung).
Das LSG wird damit die - wie dargelegt für eine abschließende Entscheidung noch erforderlichen - Feststellungen nachzuholen haben. Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen