Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 2. Juni 1992 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU-Rente). Im Mittelpunkt steht die Frage, ob es für die der Klägerin zumutbare Tätigkeit als Rezeptionistin eine nennenswerte Zahl von Arbeitsplätzen gibt.
Die Klägerin (geboren am 7. Juli 1937) ist gelernte Friseurin und hat diesen Beruf mit Unterbrechungen bis zur Aufgabe der Tätigkeit im April 1987 ausgeübt. Im Jahre 1986 traten akute Schmerzen an der Lendenwirbelsäule auf. Nachdem Heilmaßnahmen nicht den gewünschten Erfolg brachten, stellte die Klägerin am 29. Mai 1987 bei der Beklagten einen Antrag auf Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit (EU/BU). Dieser wurde jedoch abgelehnt (Bescheid vom 21. Juli 1987; Widerspruchsbescheid vom 16. März 1988).
Die Klage, die auf BU-Rente beschränkt war, hatte zunächst Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Schleswig ≪SG≫ vom 22. März 1990). Auf die Berufung der Beklagten ist aber die sozialgerichtliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen worden (Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 2. Juni 1992). Das LSG ist aufgrund seiner Ermittlungen zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klägerin den Beruf der Friseurin nicht mehr ausüben könne. Die begehrte BU-Rente stehe ihr dennoch nicht zu, da sie noch als Rezeptionistin (Empfangsdame) in größeren Fachbetrieben des Friseurhandwerks einsetzbar sei und hierfür auch Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl zur Verfügung stünden. Das LSG interpretiert seine Ermittlungsergebnisse in diesem Zusammenhang dahin, daß in der Bundesrepublik etwa 3000 Arbeitsplätze der genannten Art bestünden. Stellen gebe es überwiegend in Betrieben mit mehr als 20 Mitarbeitern (469 Betriebe in den alten Bundesländern) und ausnahmsweise in Betrieben von 11 bis 20 Mitarbeitern (2109 Betriebe im Gebiet der alten Bundesländer).
Mit der Revision macht die Klägerin weiterhin BU-Rente geltend. Sie entnimmt dem Urteil des LSG die Feststellung, daß für sie nur noch eine Tätigkeit als Rezeptionistin in Betracht komme, wendet sich aber gegen die Feststellung, daß Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl vorhanden seien. Die vom LSG angenommene Zahl von Stellen lasse sich aus dem Beweisergebnis schon deshalb nicht herleiten, weil sie bereits rechnerisch nicht stimmen könne. Nehme man die festgestellte Zahl von Betrieben (469 und 2109) und berücksichtige man die weitere Feststellung, daß von den 2109 Betrieben mit weniger als 21 Mitarbeitern nur ein kleiner Teil Rezeptionistinnen beschäftige, so könne niemals die Zahl 3000 erreicht werden. Ferner rügt die Klägerin, daß kein Arbeitsplatz benannt worden sei. Der Beruf der Rezeptionistin sei in keinem Tarifvertrag genannt und zumindest selten vorhanden, so daß hier eine konkrete Benennung erforderlich gewesen sei.
Verkannt habe das LSG auch die Beweislast. Nach dem Urteil des 13. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. August 1991 – 13/5 RJ 47/90 – könne eine Versicherte nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, deren Vorhandensein auf dem Arbeitsmarkt nachgewiesen sei.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie beruft sich im wesentlichen auf das Urteil des LSG. Im übrigen vertritt sie die Auffassung, daß auch bei einer Zahl von 550 bis 600 Arbeitsplätzen der Arbeitsmarkt für Rezeptionistinnen nicht verschlossen sei. Dies zeige auch die Aussage des Sachverständigen W., der ausgeführt habe, daß Rezeptionistinnen oder Salonleiterinnen auf dem Arbeitsmarkt gesucht würden und das Friseurhandwerk solche erfahrenen Kräfte (Friseurinnen, die in ihrem Leistungsvermögen aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkt sind) brauche.
Beide Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 124 Abs 2, 153 Abs 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) entschieden wird.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Das LSG muß noch weitere Feststellungen zum Arbeitsmarkt für Rezeptionistinnen treffen.
Der Anspruch der Klägerin auf BU-Rente richtet sich noch nach den bis zum Inkrafttreten des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) geltenden Vorschriften, denn der Rentenantrag ist vor dem 1. April 1992 gestellt worden und bezieht sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 (§ 300 Abs 2 SGB VI; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 29).
Nach dem danach anzuwendenden § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist eine Versicherte berufsunfähig (bu), wenn ihre Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche ihrer körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen einer körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit der Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt dabei alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihr unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Ausgangspunkt ist dementsprechend bei der Prüfung der BU der bisherige Beruf der Versicherten. Dieser ist zuerst zu ermitteln und sodann zu prüfen, ob die Versicherte ohne wesentliche Einschränkungen zu dessen Ausübung in der Lage ist. Ist die Versicherte nämlich in ihrem Beruf noch ausreichend erwerbsfähig iS des § 1246 Abs 2 Satz 1 und 2 RVO, so ist sie nicht bu, ohne daß es auf ihre Erwerbsfähigkeit in weiteren sog Verweisungstätigkeiten ankommt.
Der bisherige Beruf der Klägerin ist der der Friseurin. Diesen hat sie auch bis zuletzt ausgeübt. Nach den Feststellungen des LSG ist die Klägerin wegen ihres Wirbelsäulenleidens als Friseurin nicht mehr einsetzbar, da sie nicht längere Zeit stehen kann. Sie kann nur noch im Wechsel von Stehen, Gehen und Sitzen arbeiten, wobei jede dieser Haltungen eine halbe Stunde nicht überschreiten sollte.
Daraus allein kann jedoch noch nicht auf eine BU der Klägerin geschlossen werden. Es kommt außerdem noch darauf an, ob sie auf eine ihr zumutbare Erwerbstätigkeit verwiesen werden kann.
Zur Abgrenzung des Verweisungsspektrums iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO hat die Rechtsprechung des BSG ein Mehrstufenschema entwickelt, das die Berufstätigkeiten in die Leitberufe der Vorarbeiterin mit Vorgesetztenfunktion bzw der besonders hochqualifizierten Facharbeiterin, der Facharbeiterin (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), der angelernten Arbeiterin (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren) und der ungelernten Arbeiterin unterteilt. Verwiesen werden kann grundsätzlich nur auf Tätigkeiten der jeweils nächsten (niedrigeren) Stufe (BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 2 und Nr 17; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 107 und Nr 138).
Das LSG hat als einzige in Betracht kommende Verweisungstätigkeit den Beruf der Rezeptionistin genannt und festgestellt, daß die Klägerin diesen Beruf trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen ausüben kann. Es hat den typischen Arbeitsplatz einer Rezeptionistin im einzelnen beschrieben und festgestellt, daß die Klägerin den Anforderungen an Kenntnisse, Erscheinungsbild und Gewandtheit entspricht, die an diesen Beruf gestellt werden.
Mit Recht hat das LSG weiterhin geprüft, ob es für solche Tätigkeiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl gibt, auf denen die Klägerin tätig werden könnte. Dies war erforderlich, weil die Tätigkeit der Rezeptionistin in den einschlägigen Tarifverträgen nicht ausdrücklich erfaßt ist. Die Leistungsgeminderte muß eine – wenn auch schlechte – Chance haben, in einer zumutbaren Verweisungstätigkeit unterzukommen. Das ist nicht der Fall, wenn für sie grundsätzlich zugängliche Arbeitsplätze nur in nicht nennenswerter Zahl vorhanden sind (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 101; BSGE 30, 167, 182; BSG SozR 2200 § 1241d Nr 5). Dann ist die Verschlossenheit des Arbeitsmarkts Folge des Absinkens ihrer Leistungsfähigkeit und begründet einen Rentenanspruch (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 110, 137, 139). Die Möglichkeit, das Restleistungsvermögen auf dem Arbeitsmarkt zu verwerten, muß der Versicherten nachgewiesen werden (BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 8).
Welche Zahl von Arbeitsplätzen im konkreten Fall erforderlich ist, um eine – wenn auch schlechte – Chance zu begründen, einen Arbeitsplatz zu erhalten, ist eine Tatfrage. Dabei genügen wegen der Schwierigkeit genauer Ermittlungen Schätzungen, die allerdings auf die Aussagen kompetenter Sachverständiger oder Stellen gegründet werden müssen.
Im einzelnen ist es nicht erforderlich und auch nicht möglich, zur Feststellung der erforderlichen Zahl von Arbeitsplätzen die Zahl der Stellen und der Bewerber gegenüberzustellen (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 137 und 139). Es ist lediglich zu berücksichtigen, ob auf dem Arbeitsmarkt eine große Zahl von Personen über die für bestimmte Stellen geforderten Qualifikationen verfügt; je weniger Versicherte vermutlich die Anforderungen erfüllen, um so geringer darf die Zahl der vorhandenen Stellen sein, um eine Chance zu eröffnen (BSG, Urteil vom 8. September 1982 – 5b RJ 28/81 –; BSG, Urteil vom 21. Februar 1985 – 4 RJ 29/84 –). Unter Beachtung solcher Grundsätze wurden in einer Entscheidung 60 Arbeitsplätze als Offset-Vervielfältiger allein im Ruhrbergbau und in den Saar-Bergwerken (BSG, Urteil vom 4. August 1981 – 5a/5 RKn 22/79 –) oder 50 Arbeitsplätze im Raum Stuttgart für Facharbeiter in einem Fertigteilbetrieb (BSG, Urteil vom 21. Februar 1985 – 4 RJ 29/84 –) als Anhaltsgrößen für eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen im Bundesgebiet angesehen.
Darüber hinaus ist jedoch auch zu berücksichtigen, inwieweit derartige Arbeitsplätze entweder als Schonarbeitsplätze für erwerbsgeminderte Betriebsangehörige (BSG SozR 2600 § 46 Nr 20; SozR 2200 § 1246 Nrn 137, 139) oder als Aufstiegspositionen für verdiente Mitarbeiter (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 71) nur betriebsintern vergeben werden.
Das LSG hat eine Zahl von 3000 Arbeitsplätzen im Bundesgebiet als nennenswerte Zahl angesehen. Dies ist für sich genommen nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat jedoch zu Recht gerügt, daß diese Feststellung durch das Beweisergebnis nicht gedeckt ist. Wenn es – wie das LSG feststellt – im Gebiet der alten Bundesländer 469 Betriebe gibt, in denen voraussichtlichtlich eine Rezeptionistin beschäftigt wird, und 2109 Betriebe, von denen nur ein kleiner Teil Rezeptionistinnen einstellt, so kann sich allein schon rechnerisch daraus allenfalls eine Zahl von 550 bis 600 Arbeitsplätzen für den Bereich der alten Bundesrepublik ergeben. Dementsprechend müßten in den neuen Bundesländern dann weit über 2000 Rezeptionistinnen beschäftigt werden, wofür jeder tatsächliche Anhalt fehlt.
Es kann aber auch nicht ohne weiteres die während des Verfahrens genannte Zahl von 550 bis 600 Arbeitsplätzen angenommen werden. Bei dieser Größenordnung bedurfte es genauerer Prüfung, inwieweit diese Arbeitsplätze als Schonarbeitsplätze oder Aufstiegspositionen nur betriebsintern vergeben werden. Das LSG hat hierzu lediglich festgestellt, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, daß Arbeitsplätze für Rezeptionistinnen nur aus den Betrieben heraus besetzt werden. Diese pauschale Erwägung reicht zwar bei einer Zahl von 3000 Arbeitsplätzen aus, nicht jedoch, wenn lediglich 550 bis 600 Arbeitsplätze in Betracht kommen.
Des weiteren wird das LSG auch prüfen müssen, ob alle diese Arbeitsplätze dem Berufsbild der Rezeptionistin, wie es das LSG beschrieben hat, entsprechen (telefonische Terminabsprachen, Empfang von Kunden, Steuerung des Salondurchlaufs, Kassieren, Verabschiedung von Besuchern, einfachere kaufmännische Arbeiten, gelegentliche Beratung beim Verkauf von Haarpflege- und Kosmetikartikeln, Entgegennahme von Reklamationen). Es muß in Betracht gezogen werden, daß nach den dem LSG vorliegenden Beweisergebnissen teilweise einerseits Salonleiterinnen, andererseits Helferinnen diese Aufgaben mit übernehmen.
Das LSG wird dementsprechend seine Beweiserhebung ergänzen und die Ermittlungsergebnisse neu bewerten müssen. Dabei muß es auch berücksichtigen, daß die Beweislast für das Vorhandensein von Stellen auf dem Arbeitsmarkt nicht vom Versicherten, sondern von der Beklagten zu tragen ist; denn nach dem vom LSG zitierten Urteil des erkennenden Senats (SozR 3-2200 § 1247 Nr 8) kann ein Versicherter nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die auf dem Arbeitsmarkt konkret feststellbar sind. Das gleiche gilt für eine ausreichende Zahl von Stellen, weil insoweit zwischen dem Nichtvorhandensein von Arbeitsplätzen und einer unzureichenden Zahl von Arbeitsplätzen kein rechtserheblicher Unterschied besteht.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen