Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 03.03.1994) |
SG Detmold (Urteil vom 21.11.1991) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. März 1994 und das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 21. November 1991 insoweit abgeändert, als der Beklagte zur Gewährung von Versorgungsleistungen nach einer wegen besonderer beruflicher Betroffenheit erhöhten Minderung der Erwerbsfähigkeit verurteilt worden ist. Insoweit wird die Klage abgewiesen.
Im übrigen wird die Revision des Beklagten zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten sämtlicher Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand
I
Der im Juli 1927 geborene Kläger bezieht seit August 1987 wegen Schwerbehinderung vorzeitiges Altersruhegeld (ARG) von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Die Beteiligten streiten sich um seinen Anspruch auf Berufsschadensausgleich (BSchA) und um die Höherbewertung seiner Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wegen besonderer beruflicher Betroffenheit.
Wegen der Folgen einer 1944 erlittenen Kopfverletzung bezieht der Kläger seit 1950 eine Beschädigtengrundrente nach einer MdE um 70 vH. Zum 30. April 1987 schied er im Einvernehmen mit seinem Arbeitgeber aus seiner Angestelltentätigkeit als Konstrukteur in einem Maschinenbauunternehmen aus. Anschließend bezog er nach Ablauf einer sechswöchigen Sperrzeit Arbeitslosengeld (Alg) bis Ende Juli 1987. Seine im März 1988 gestellten Anträge auf BSchA und berufsbezogene Erhöhung der MdE (§ 30 Abs. 2 Bundesversorgungsgesetz ≪BVG≫) lehnte der Beklagte ab. Das Sozialgericht verurteilte den Beklagten zur Zahlung von Versorgungsleistungen unter Berücksichtigung besonderer beruflicher Betroffenheit nach einer MdE um 80 vH und zur Zahlung von BSchA. Die Berufung des Beklagten blieb erfolglos. Im Berufungsurteil führte das Landessozialgericht (LSG) im wesentlichen aus, dem Kläger stehe BSchA zu, weil er schädigungsbedingt aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei. Davon sei ohne weitere Motivforschung schon deswegen auszugehen, weil seine vorzeitige Berentung aufgrund schädigungsbedingter Schwerbehinderung erfolgt sei. Dieselben Grundsätze müßten für die Erhöhung der MdE wegen besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a BVG gelten. Das ergebe sich schon aus dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Beurteilung versorgungsrechtlicher Ansprüche.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Beklagten, die wie folgt begründet wird: Dem Kläger stehe ein Anspruch weder auf BSchA noch auf Erhöhung der MdE wegen besonderen beruflichen Betroffenseins zu. Seine Schädigungsfolgen seien nicht wesentliche Bedingung für seine Berufsaufgabe gewesen. Der Kläger sei vielmehr aus seinem letzten Beschäftigungsverhältnis betriebsbedingt, außerdem schon ein Vierteljahr vor Erwerb seines Anspruchs auf vorzeitiges ARG ausgeschieden. Selbst wenn ihm aber Anspruch auf BSchA zustehen sollte, so habe er jedenfalls keinen Anspruch auf Erhöhung seiner MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit. Denn die Beweiserleichterung, die das Bundessozialgericht (BSG) für die Feststellung der Ursächlichkeit zwischen Schädigung und vorzeitiger Berufsaufgabe bei vorzeitig berenteten Schwerbeschädigten entwickelt habe, gelte allenfalls für die Voraussetzungen des Anspruchs auf BSchA, nicht aber für die Voraussetzungen der besonderen beruflichen Betroffenheit. § 8 Abs. 1 Satz 3 der Berufsschadensausgleichsverordnung (BSchAV) erleichtere nur den Nachweis eines schädigungsbedingten Einkommensverlustes i.S. der Regelung über den BSchA, während die Ursächlichkeit der Schädigung für die beruflichen und wirtschaftlichen Nachteile, aus denen ein besonderes berufliches Betroffensein hergeleitet werde, nach ständiger Rechtsprechung des Senats individuell und konkret festgestellt werden müßten.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. März 1994 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 23. November 1995 die Zurückweisung der Revision beantragt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist teilweise begründet.
Soweit die Vorinstanzen den Beklagten zur Gewährung von BSchA nach einem bestimmten – hier unstreitigen Vergleichseinkommen – verurteilt haben, ist die Revision nicht begründet. Wie der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, sind die Schädigungsfolgen in diesem Zusammenhang schon dann für das vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und einen dadurch eingetretenen Einkommensverlust als wesentlich ursächlich anzusehen, wenn sich der Beschädigte zur gleichzeitigen Erlangung einer Altersversorgung auf eine wesentlich durch Schädigungsfolgen bedingte Schwerbehinderung berufen muß (vgl zuletzt BSGE 74, 195 ff m.w.N.). Auf die in den betreffenden Entscheidungen des Senats gegebene nähere Begründung wird verwiesen. Ob die vom Senat a.a.O. entwickelte Kausalitätsvermutung auch dann gilt, wenn der Beschädigte nicht unmittelbar zu dem Zeitpunkt, in welchem die Voraussetzungen für die Erlangung der vorzeitigen Altersversorgung aufgrund der Schwerbeschädigung erfüllt sind, sondern bereits einige Zeit zuvor aus dem Erwerbsleben ausscheidet, braucht nicht entschieden zu werden. Denn hier ist der Kläger erst zum 31. Juli 1987, also mit Erfüllung der Voraussetzungen des vorzeitigen Altersruhegeldes, aus dem Erwerbsleben ausgeschieden. Darauf weist der Bezug von Alg in der Zeit vom 13. Juni bis zum 31. Juli 1987 hin. Denn Alg wird nur gewährt, wenn der Beschädigte dem Arbeitsmarkt – auch subjektiv – zur Verfügung steht (§§ 100, 103 Abs. 1 Satz 1 N r 2 Arbeitsförderungsgesetz), dh noch weiterhin bereit und fähig ist, am Erwerbsleben teilzunehmen. Davon ist beim Kläger bis zum 31. Juli 1987 auszugehen.
Soweit die Vorinstanzen das Vorliegen besonderer beruflicher Betroffenheit gemäß § 30 Abs. 2 BVG bejaht und dem Kläger deswegen Beschädigtengrundrente nach einer um 10 vH auf 80 vH erhöhten MdE zugesprochen haben, ist die Revision des Beklagten begründet. Der Kläger ist durch die Art der Schädigungsfolgen beruflich nicht besonders betroffen. Das folgt daraus, daß ein 60 Jahre alter Beschädiger, wie der Kläger, sich regelmäßig nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg darauf berufen kann, er sei durch die Schädigungsfolgen beruflich besonders betroffen, weil sie ihn gezwungen hätten, sein Erwerbsleben zu beenden und somit den bisher ausgeübten Beruf aufzugeben (§ 30 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a BVG).
Die in § 30 Abs. 1 BVG geregelte MdE hängt nach Grund und Höhe nicht vom Lebensalter des Beschädigten und nicht von der Beeinträchtigung in seinem ausgeübten oder angestrebten Beruf, sondern nur von der Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben ab. Eine solche von den persönlichen Verhältnissen unabhängige, sog medizinische MdE kann auch einem Kleinkind zuerkannt werden, das lange vor Eintritt in das Schul- und Berufsleben geschädigt wird. § 30 Abs. 1 Satz 5 BVG stellt klar, daß die MdE bei jugendlichen Beschädigten nach dem Grad zu bemessen ist, der sich bei Erwachsenen mit gleicher Gesundheitsstörung ergibt. Die medizinische MdE verbleibt auch alten Menschen und wird ihnen auch dann erstmals zuerkannt, wenn sie lange nach Ende des Berufslebens als bereits Erwerbsunfähige geschädigt werden. § 31 Abs. 1 Satz 2 BVG sieht für Schwerbeschädigte, die das 65. Lebensjahr bereits vollendet haben, sogar eine – nach MdE-Graden gestaffelte – Erhöhung der Grundrente vor.
Anders als bei Beurteilung der medizinischen MdE nach § 30 Abs. 1 BVG können bei ihrer Höherbewertung wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nach § 30 Abs. 2 BVG Beginn und Ende des Berufslebens nicht unberücksichtigt bleiben. Schon aus dem Begriff der besonderen beruflichen Betroffenheit ergibt sich, daß eine Höherbewertung grundsätzlich nur für die Zeit beruflicher Tätigkeit, also während des Erwerbslebens in Betracht kommt. Die MdE ist deshalb noch nicht höher zu bewerten, so lange noch kein Beruf ausgeübt wird oder auch ohne Schädigungsfolgen noch nicht hätte ausgeübt werden können; sie ist nicht mehr höher zu bewerten, nachdem die Berufsausübung mit dem Ende der Erwerbstätigkeit geendet hat. Lediglich der Vorteil einer schon während des Erwerbslebens wegen besonderer beruflicher Betroffenheit erhöhten MdE bleibt dem Beschädigten als Besitzstand auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben regelmäßig erhalten. Die Voraussetzungen für die Entziehung des auf die berufliche Betroffenheit entfallenden MdE-Anteils sind durch die Beendigung des Berufslebens allein nicht erfüllt (vgl BSGE 14, 71 = SozR § 62 BVG Nr. 11; BSGE 36, 21 = SozR § 30 BVG Nr. 66; BSGE 55, 292 = SozR 3-1300 § 48 Nr. 6).
Das BSG hat in diesen Urteilen im einzelnen begründet, daß sich die Folgen einer im Berufsleben oft jahrzehntelang erduldeten beruflichen Betroffenheit noch im Ruhestand auswirken können, so daß nicht ohne weiteres erkannt werden kann, daß das Ende jeder beruflichen Tätigkeit auch das Ende der beruflichen Betoffenheit bedeutet. Das Ende der beruflichen Tätigkeit kommt als Grund für die erstmalige Zuerkennung einer beruflichen Betroffenheit aber nur dann in Betracht, wenn es durch die Schädigungsfolgen erzwungen worden ist.
Diese Voraussetzung liegt hier nicht vor. Beruflich besonders betroffen ist nur, wessen Berufs- und Erwerbsleben durch die Art der Schädigungsfolgen verkürzt wird. Nicht besonders betroffen ist, wer die Erwerbsphase trotz der Schädigungsfolgen voll ausschöpft. Wie lange diese Phase dauern soll, ist zwar eine individuelle Entscheidung. Sie ist in der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft durch äußere Vorgaben aber weitgehend standardisiert. Das Berufs- und Erwerbsleben endet allgemein spätestens mit Vollendung des 65. Lebensjahres. Wer zu diesem Zeitpunkt ausscheidet, kann sich nicht darauf berufen, an weiterer Erwerbstätigkeit durch die Schädigungsfolgen gehindert und deshalb beruflich besonders betroffen zu sein. Die Erhöhung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG ist keine Prämie für schädigungsbedingten Verzicht auf weitere Berufstätigkeit am Ende eines durch Schädigungsfolgen unbeeinflußten und nach allgemein geltenden Maßstäben vollendeten Berufs- und Erwerbslebens. Dieses endet in einer großen Zahl von Fällen bereits um Jahre vor der allgemeinen Altersgrenze mit einem Alter von Ende 50 oder Anfang 60. Das ergibt sich aus den Rentenstatistiken für Arbeiter und Angestellte. Bei Beginn der Altersversorgung aus der gesetzlichen Rentenversicherung waren danach 1993 etwa ebenso viele Versicherte 60 bis 63 Jahre alt wie 65 Jahre und älter (vgl Statistisches Jahrbuch 1995 für die Bundesrepublik Deutschland, S 467). Je älter der Beschädigte wird, um so schwieriger wird es, den Nachweis schädigungsbedingten Ausscheidens zu erbringen, weil mit zunehmendem Lebensalter auch Nichtbeschädigte aus unterschiedlichen, auch für Beschädigte geltenden Gründen in immer größerer Zahl das Erwerbsleben verlassen. Etwa mit Erreichen des 60. Lebensjahres verschlechtert sich die Beweislage entscheidend zu Lasten des Beschädigten. Anders als bei einem Beschädigten mittleren Lebensalters fehlen ab dann regelmäßig äußere Anhaltspunkte dafür, daß der schädigungsbedingte Motivanteil für das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wesentlich ist, weil sich Beschädigte und Nichtbeschädigte aus den verschiedensten, auch gebündelten Motiven bei diesem Schritt ununterscheidbar gleichförmig verhalten (vgl zur Frage, wann der Zwang zur Anschaffung eines automatischen Kfz-Getriebes noch als schädigungsbedingt angesehen werden kann: BSGE 73, 142, 144 = SozR 3-3100 § 11 Nr. 1).
Anders als vom LSG angenommen, gelten hier auch nicht die Beweiserleichterungen, die nach der oben bereits dargestellten Rechtsprechung des Senats (vgl zuletzt BSGE 74, 195 = SozR 3-3100 § 30 Nr. 10) beim Anspruch auf BSchA bestehen. Nach dieser Rechtsprechung sind Schwerbeschädigte beim Zugang zum kriegsopferrechtlichen Versorgungsfall des BSchA nach § 30 Abs. 3 BVG beweisrechtlich schwerbehinderten Arbeitnehmern und Beamten gleichgestellt, die mit 60 Jahren allein durch ihren Antrag und die Vorlage des Schwerbehindertenausweises den Versicherungsfall oder den beamtenrechtlichen Versorgungsfall herbeiführen können. Schwerbeschädigten wird nicht zugemutet, was Schwerbehinderten nach dem Rentenversicherungs- und dem Beamtenversorgungsrecht erspart bleibt und was Verwaltungsbehörden und Gerichte überfordern würde: Den Nachweis zu führen, daß schädigungsbedingte, gesundheitliche Gründe für die Berufsaufgabe maßgeblich waren, wenn mit 60 Jahren ARG vorzeitig in Anspruch genommen worden ist (BSG SozR 3100 § 30 Nr. 78; BSG SozR 3-3642 § 8 Nr. 5).
Daraus folgt aber nicht, daß in solchen Fällen zugleich vermutet werden müßte, der Beschädigte erfülle auch die Voraussetzung schädigungsbedingter Berufsaufgabe für den Anspruch auf Höherbewertung seiner MdE. Die Beweisschwierigkeiten sind zwar hier wie dort dieselben. Im Unterschied zum Anspruch auf BSchA nach § 30 Abs. 3 BVG lassen sie sich hier jedoch nicht durch eine Beweiserleichterung beheben. Dort konnte der Senat an die im Rentenversicherungs- und im Beamtenrecht vorgezeichnete Beweiserleichterung anknüpfen und sich mit § 8 Abs. 1 Satz 3 BSchAV auf eine Beweisvorschrift aus dem Recht des BSchA stützen (vgl BSGE 74, 195, 198 = SozR 3-3100 § 30 Nr. 10). Eine solche ausdrückliche Beweiserleichterung fehlt bei der Höherbewertung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit. Es ist auch nicht geboten, die für den BSchA geltende Beweiserleichterung hier entsprechend anzuwenden. Sie würde im Unterschied zu dem längstens nur für fünf Jahre, nämlich vom 60. bis zum 65. Lebensjahr nach dem ungekürzten Vergleichseinkommen zu zahlenden BSchA (vgl dazu die Kürzungsvorschrift des § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BSchAV), dazu führen, daß die erhöhte MdE auf Dauer erhalten bliebe, ohne daß dem in vielen Fällen nennenswerte Einkommenseinbußen durch die Schädigungsfolgen vorausgegangen sind. Die Beweisschwierigkeiten wirken sich deshalb regelmäßig dahin aus, daß es einem 60jährigen Beschädigten mit Anspruch auf ARG wegen anerkannter Schwerbehinderung – wie hier – nicht gelingen wird, ein schädigungsbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nachzuweisen.
Fundstellen