Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 27.10.1987) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. Oktober 1987 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob der Kläger mit dem Bezug einer rumänischen Rente den Ersatztatbestand des § 134 Abs 3 Satz 1 Nr 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) für die Begründung eines Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe (Alhi) erfüllt.
Der 1958 in Rumänien geborene Kläger siedelte am 2. Juli 1984 in die Bundesrepubklik Deutschland über. Er ist anerkannter Vertriebener iS des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz -BVFG-). Vom 1. Dezember 1980 bis zur Übersiedlung bezog er vom rumänischen Sozialversicherungsträger eine Krankenrente wegen Invalidität II. Grades.
Einen am 13. Juli 1984 gestellten Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit lehnte die Landesversicherungsanstalt Niederbayern-Oberpfalz (LVA) mit bestandskräftigem Bescheid vom 30. November 1984 ab, weil der Kläger nach einem sozialmedizinischen Gutachten vom 20. November 1984 unter Berücksichtigung der festgestellten Gesundheitsstörungen leichtere bis mittelschwere Arbeiten – ohne Schicht- und Nachtdienst – vollschichtig verrichten könne.
Ein vom Kläger am 2. Juli 1984 gestellter Antrag auf Gewährung von Alhi wurde mit Bescheid vom 9. November 1984 von der Beklagten mit der Begründung abgelehnt, der Kläger habe innerhalb des letzten Jahres vor der Arbeitslosmeldung nicht mindestens 150 Kalendertage in einer der Erfüllung der Anwartschaftszeit dienenden Beschäftigung gestanden und erfülle auch keinen anderen anspruchsbegründenden Tatbestand. Der vom Kläger hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 23. Januar 1985).
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 6. März 1986 die Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, dem Kläger ab dem 2. Juli 1984 Alhi zu zahlen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, der Kläger habe wegen des Rentenbezugs den Ersatztatbestand des § 134 Abs 3 Nr 1 AFG erfüllt, denn es komme zumindest bei Vertriebenen iS des § 1 BVFG nicht darauf an, ob der Rentenbezug im Geltungsbereich des AFG erfolgt sei.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Oktober 1987). Zur Begründung hat es ausgeführt, es könne dahinstehen, ob die dem Kläger bis zu seiner Übersiedlung nach Deutschland in Rumänien gewährte Krankenrente eine Leistung der Sozialversicherung iS des § 134 Abs 3 Nr 1 AFG gewesen sei. Die Vorschrift sei schon deshalb nicht anzuwenden, weil eine weitere Tatbestandsvoraussetzung fehle. Die vom Kläger in Rumänien bezogene Rente sei nämlich nicht, wie die Vorschrift verlange, deshalb weggefallen, weil die für die Gewährung maßgebliche Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit nicht mehr vorliege, sondern weil der Kläger Rumänien verlassen habe.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 134 Abs 3 Satz 1 Nr 1 AFG. Er macht geltend, seiner Übersiedlung von Rumänien nach Deutschland komme keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu. Abzustellen sei vielmehr auf den Wegfall der Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit. Dementsprechend sei aufgrund des Bescheides der LVA vom 30. November 1984 davon auszugehen, daß die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente nach §§ 1246 bzw 1247 RVO nicht mehr vorlagen. Da er Vertriebener iS des § 1 BVFG sei, sei es auch nicht erforderlich, daß er zuvor eine Rente nach deutschem Recht und in der Bundesrepublik Deutschland bezogen habe. Es sei Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung, eine Gleichstellung von Spätaussiedlern bzw Vertriebenen iS des § 1 BVFG auch hinsichtlich des Bezugs von Alhi zu erreichen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem 2. Juli 1984 Alhi zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist nicht begründet; er hat keinen Anspruch auf Alhi.
Streitig ist bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch auf Alhi ab 2. Juli 1984 bis 15. November 1985 ausschließlich die Frage, ob der Kläger den Ersatztatbestand des § 134 Abs 3 Nr 1 AFG idF des Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung (AFKG) vom 22. Dezember 1981 (BGBl I 1497), in Kraft ab 1. Januar 1982, erfüllt.
Nach dieser Vorschrift ist eine vorherige Beschäftigung zur Begründung des Anspruchs auf Alhi dann nicht erforderlich, wenn der Arbeitslose innerhalb eines Jahres vor der Arbeitslosmeldung für mindestens 240 Kalendertage wegen Krankheit, Minderung der Erwerbsfähigkeit, Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit Leistungen der Sozialversicherung zur Bestreitung seines Lebensunterhalts bezogen hat und solche Leistungen nicht mehr bezieht, weil die für ihre Gewährung maßgebliche Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit nicht mehr vorliegt. Diese Voraussetzungen sind im Falle des Klägers nicht erfüllt.
1. Der Auffassung des Klägers, die Anwendbarkeit des § 134 Abs 3 Satz 1 Nr 1 AFG setze grundsätzlich nicht voraus, daß eine Rente nach deutschem Recht bzw in der Bundesrepublik Deutschland bezogen wurde, kann nicht gefolgt werden. Unter Berücksichtigung der §§ 4, 12, 18 ff Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) ist vielmehr davon auszugehen, daß mit „Leistungen der Sozialversicherung” iS der Vorschrift des § 134 Abs 3 Satz 1 Nr 1 AFG Leistungen der deutschen Sozialversicherung gemeint sind, die im Geltungsbereich des AFG bezogen wurden und von einem der in §§ 12, 18 bis 29 SGB I genannten Leistungsträger gewährt worden sind.
Diese Auslegung entspricht dem Sinn und Zweck des § 134 Abs 3 AFG, der sogenannte Ersatztatbestände für die Begründung eines Anspruchs auf Alhi enthält. Ersatztatbestände stehen nicht einer beitragspflichtigen Beschäftigung gleich, sondern sie sollen – wie im Fall der Nr 1 – das zeitweilig fehlende Leistungsvermögen für eine sonst ausgeübte beitragspflichtige Beschäftigung ausgleichen. Aus dieser Zielsetzung folgt, daß der Bezug von ausländischen Sozialleistungen von § 134 Abs 3 Nr 1 AFG nicht erfaßt wird. Denn diese Leistungen ersetzen keine nach deutschem Recht beitragspflichtige Beschäftigung, da die Beitragspflicht grundsätzlich nur hinsichtlich der Beschäftigungen solcher Personen eintritt, die im Geltungsbereich des SGB beschäftigt sind (vgl § 173a AFG, § 3 Nr 1 Viertes Buch, Sozialgesetzbuch -SGB IV-).
Daß der Bezug ausländischer Sozialversicherungsleistungen bei Vertriebenen iS des BVFG dem Leistungsbezug iS des § 134 Abs 3 Satz 1 Nr 1 AFG nicht gleichzustellen ist, zeigt auch die gesetzliche Entwicklung des § 134 Abs 3 Satz 1 Nr 1 AFG. Die Arbeitslosenhilfe-Verordnung (Alhi-VO) vom 7. August 1974 (BGBl I 1929), zuletzt geändert durch Verordnung vom 10. April 1978 (BGBl I 500), sah in der bis zum 31. Dezember 1981 gültigen Fassung ebenfalls Ersatztatbestände vor. In § 3 Satz 1 Nr 1 Alhi-VO war wortgleich mit dem jetzigen § 134 Abs 3 Satz 1 Nr 1 AFG als Ersatztatbestand der Bezug von „Leistungen der Sozialversicherung” vorgesehen. Außerdem war in § 4 Alhi-VO ua für Vertriebene iS des BVFG ein eigenständiger Ersatztatbestand geregelt. Dadurch wurde deutlich, daß dieser Personenkreis nicht von der Regelung des § 3 Alhi-VO erfaßt wurde, sondern für die Begründung eines Anspruchs auf Alhi nur der Bezug von Leistungen der deutschen Sozialversicherung in Betracht kommen konnte. Durch das AFKG (Art 1 § 1 Nr 4) sind dann die Ersatztatbestände des § 3 Alhi-VO mit erschwerten Voraussetzungen in § 134 Abs 3 AFG übernommen worden, während gleichzeitig die weiteren Ersatztatbestände des § 4 Alhi-VO entfielen (Art 16).
2. Entgegen der vom Kläger vertretenen Auffassung kann der Bezug der rumänischen Rente auch nicht nach § 107 Abs 1 Satz 1 Nr 4 AFG einer die Beitragspflicht nach dem AFG begründenden Beschäftigung gleichgestellt werden.
Danach stehen zwar Zeiten einer Beschäftigung, die ein Vertriebener iS des § 1 BVFG außerhalb des Gebietes des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 ausgeübt hat, den Zeiten einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gleich. § 107 Abs 1 Satz 1 Nr 4 AFG sieht also ausdrücklich nur eine Gleichstellung für Beschäftigungszeiten, nicht jedoch für Rentenbezugszeiten vor.
§ 107 Abs 1 Satz 1 Nr 4 AFG kann auch nicht entsprechend angewandt werden in dem Sinne, daß bei einem Vertriebenen nicht nur die Beschäftigung, sondern auch der Bezug von Sozialversicherungsleistungen im Ausland dem Bezug von „Leistungen der Sozialversicherung” iS des § 134 Abs 3 Satz 1 Nr 1 AFG gleichzustellen sei. Daraus, daß das Gesetz in bestimmten Fällen im Ausland zurückgelegte Beschäftigungszeiten einer beitragspflichtigen Beschäftigung im Geltungsbereich des AFG gleichstellt, kann nicht entnommen werden, daß der Gesetzgeber auch die Gleichstellung des Bezuges von Sozialversicherungsleistungen im Ausland mit dem Bezug von Leistungen der Sozialversicherung im Geltungsbereich des AFG und des SGB wollte. Insbesondere kann nicht der Auffassung des Klägers gefolgt werden, § 134 Abs 3 Nr 1 AFG wolle nach seinem Sinn und Zweck die Gleichstellung von Vertriebenen iS des § 1 BVFG auch hinsichtlich des Bezuges von Alhi erreichen. Diese Auffassung findet in der – bereits dargestellten – Entstehungsgeschichte der Vorschrift keine Stütze. Tragendes Motiv der damaligen Gesetzesänderung war, daß Personen, die noch keinen Anspruch auf Alg erworben oder vor der Arbeitslosigkeit ihren Lebensunterhalt nicht oder nur für kurze Zeit als Arbeitnehmer bestritten hatten, künftig grundsätzlich keinen Anspruch auf Alhi erhalten sollten (vgl Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks 9/846 S 46 zu Nr 46; Schönefelder/Kranz/Wanka, AFG Kommentar, § 134, S 242/14).
Die grundsätzliche Anknüpfung der sogenannten kleinen Anwartschaft (§ 134 Abs 1 Nr 4b AFG) an solche Zeiten, die eine Anwartschaft auf Alg begründen können, hätte allerdings nachteilige und unbillige Rechtsfolgen für solche Personen gehabt, die auf Grund einer (vorübergehenden) Beeinträchtigung ihres Leistungsvermögens die „kleine Anwartschaft” in der Jahresfrist nicht erwerben und insbesondere keine zumutbare Beschäftigung ausüben konnten. Vor diesem Hintergrund sind die Regelungen des § 134 Abs 3 AFG zu sehen, wonach eine vorherige Beschäftigung zur Begründung des Anspruchs auf Alhi nicht erforderlich ist, wenn einer der in der Vorschrift genannten Ersatztatbestände verwirklicht wurde. Diese Ersatztatbestände setzen daher voraus, daß wegen einer Beeinträchtigung des Leistungsvermögens die „kleine Anwartschaft” in der Jahresfrist nicht erworben werden konnte, und daß die auf Grund der Beeinträchtigung zwischenzeitlich bezogenen Lohnersatzleistungen wegen Fortfalls der Beeinträchtigungen wieder entfallen sind (vgl auch Hennig/Kühl/Heuer, AFG, § 134 Anm 6e).
Der Normzweck, mögliche Nachteile bei den in § 134 Abs 1 Nr 4 AFG genannten Anspruchsvoraussetzungen infolge vorübergehender Beeinträchtigung des Leistungsvermögens zu vermeiden, zielt keineswegs auf die Gleichstellung von Vertriebenen iS des § 1 BVFG hinsichtlich des Bezugs von Alhi.
Dieses Ergebnis bestätigt § 90a BVFG, der durch das Sechste Gesetz zur Änderung des BVFG vom 2. Dezember 1985 (BGBl I, 2138) eingeführt worden ist. Sein Abs 1 sieht für Vertriebene iS des § 1 BVFG, die im Herkunftsland aus von ihnen nach freiheitlich-demokratischer Auffassung nicht zu vertretenden Gründen an der Ausübung einer Beschäftigung gehindert worden sind, die Gewährung von Leistungen nach dem AFG vor. § 90a Abs 2 BVFG bestimmt ferner – beschränkt auf den Anspruch auf Alhi –, daß die Tätigkeit als Selbständiger oder mithelfender Familienangehöriger, die ein Vertriebener im Herkunftsland hauptberuflich ausgeübt hat, einer die Beitragspflicht nach dem AFG begründenden Beschäftigung gleichsteht. Durch § 90a BVFG ist damit für den dort genannten Personenkreis eine Lücke geschlossen worden (vgl hierzu Urteil des Senats vom 5. Dezember 1989 – 11 RAr 121/88 – zur Veröffentlichung bestimmt). Die Gleichstellung ist jedoch ausschließlich für Tätigkeiten vorgesehen. Dagegen wird der Bezug einer Rente im Herkunftsland auch hier – ebenso wie in § 107 Abs 1 Satz 1 Nr 4 AFG – nicht in die Gleichstellung einbezogen.
Da der Anspruch des Klägers bereits daran scheitert, daß der Bezug der rumänischen Rente dem Leistungsbezug iS des § 134 Abs 3 Satz 1 Nr 1 AFG nicht gleichgestellt werden kann, kommt es auf den vom LSG erörterten Wegfallgrund der rumänischen Rente für die Zurückweisung der Revision nicht mehr an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen