Entscheidungsstichwort (Thema)
Ersatzzeiten. Anerkennung. Hervorrufen eines Auslandsaufenthalts. Inland. Jude. Verfolgung. Flucht. Deutsche Truppen. Rumänien
Leitsatz (redaktionell)
1. Für die im Rentenrecht im Rahmen des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO zu entscheidende Frage, ob der Versicherte „Verfolgter i.S. des § 1 BEG” ist, kommt es auf die Entschädigungsberechtigung nach § 1 BEG nicht an; vielmehr ist maßgeblich darauf abzustellen, ob der Betroffene einen Schaden in der Rentenversicherung erlitten hat, für die die Rentenversicherungsgesetze einen Ausgleich vorsehen.
2. Als „Hervorrufen eines Auslandsaufenthalts” ist auch anzusehen, wenn der Versicherte ein im staatsrechtlichen Sinne nicht eingegliedertes, aber unter dem nationalsozialistischen Einflussbereich des Deutschen Reichs stehendes Gebiet verlässt und seinen Aufenthalt in einem anderen ausländischen Gebiet nimmt, so dass in diesem Fall das verlassene Gebiet als „Inland” anzusehen ist.
3. Nichts anderes kann gelten, wenn der Versicherte ein solches Gebiet bereits zu einem Zeitpunkt verlässt, für das die Erstreckung des nationalsozialistischen Einflussbereichs und die damit verbundenen Verfolgungsmaßnahmen unmittelbar bevorstanden.
4. Die Flucht aus dem (drohenden) nationalsozialistischen Einflussbereich in ein (ausländisches) Gebiet, das diesem Einfluss nicht unterliegt, ist einer verfolgungsbedingten Flucht aus dem Inland ins Ausland gleichzusetzen.
5. Der Begriff der konkreten Verfolgung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen nicht auf unmittelbare Eingriffe in die Lebenssituation des Verfolgten beschränkt, sondern auch dann gegeben, wenn eine allgemeine Verfolgungsgefahr bestand, die bei verständiger Würdigung erwarten ließ, dass der Einzelne in absehbarer Zeit von nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen betroffen sein würde und er sich dieser Gefahr durch Auswanderung oder durch andere Weise entzog.
Normenkette
FRG §§ 14-15, 17a; BEG § 1 Abs. 1; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. April 2002 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat den Klägern auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung einer verfolgungsbedingten Ersatzzeit von Juli 1941 bis Mai 1945.
Die Klägerinnen sind die Kinder und Rechtsnachfolger des am 11. März 1921 geborenen und am 10. Februar 1995 gestorbenen Itzhak W.… (Versicherter). Der Versicherte stellte am 27. April 1990 den Antrag auf Gewährung von Altersruhegeld unter Anerkennung von Fremdrenten- und Ersatzzeiten. Er gab hierzu ua an, in Czernowitz (Bukowina/Rumänien) geboren zu sein und sich dort bis Ende Juni 1941 aufgehalten zu haben. Von April 1937 bis Juni 1940 habe er als technischer Arbeiter bei der Firma Leo G.… gearbeitet und danach bis Ende Juni 1941 als Ankerwickler. Nach Beginn des deutsch-russischen Kriegs (Anfang Juli 1941) sei er aus Angst vor der nationalsozialistischen Verfolgung in das Innere der UdSSR, zunächst nach Taschkent und von dort nach Tschilavic (Ural), geflohen. Nach dem Ende des Kriegs sei er nach Czernowitz zurückgekehrt, wo er auch geheiratet habe. Im Februar 1951 sei er nach Israel ausgewandert.
Die Beklagte erkannte mit Bescheid vom 4. Dezember 1995 die Zeiten vom 1. April 1937 bis 30. Juni 1941 als Beitragszeit nach § 17a des Fremdenrentengesetzes (FRG) iVm § 15 FRG an. Gleichzeitig lehnte sie die Anerkennung einer verfolgungsbedingten Ersatzzeit ab und führte hierzu im Wesentlichen aus: Der Versicherte habe sich von Anfang an im Ausland aufgehalten. Das Gebiet der Nordbukowina mit der Hauptstadt Czernowitz sei am 28. Juni 1940 von den russischen Truppen besetzt und schließlich von der UdSSR annektiert worden. Der Versicherte habe sich, bevor die deutsch-rumänischen Truppen in Czernowitz einmarschiert seien, in das Innere der UdSSR zurückgezogen. Er sei demnach bei seiner Flucht in dem Staat geblieben, in dessen Machtbereich er schon früher gelebt habe. Damit gehöre er nicht zu den Personen, die durch die drohende nationalsozialistische Verfolgung zum Überschreiten einer Demarkationslinie veranlasst worden seien. Dies sei jedoch Voraussetzung für die Anerkennung einer verfolgungsbedingten Ersatzzeit. Der von den Klägern hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 1998).
Das Sozialgericht Düsseldorf (SG) hat die Beklagte verurteilt, die Zeit vom Juli 1941 bis Mai 1945 als verfolgungsbedingte Ersatzzeit gemäß § 1251 Abs 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzuerkennen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und seine Entscheidung im Wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
Die Beklagte habe die Anerkennung der Ersatzzeit zu Unrecht abgelehnt. Der Versicherte habe sich im streitigen Zeitraum verfolgungsbedingt im Ausland aufgehalten und sei auch Verfolgter iS des § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) gewesen. Als Jude habe er zu den aus Gründen der Rasse Verfolgten iS des § 1 BEG gehört. Zwar sei der Versicherte nicht unmittelbar Opfer konkreter nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen geworden, weil er Czernowitz bereits unmittelbar vor der deutschen Besetzung und der damit beginnenden nationalsozialistischen Judenverfolgung in der Nordbukowina verlassen habe. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) und des Bundessozialgerichts (BSG) liege jedoch eine Verfolgung iS des § 1 BEG auch schon dann vor, wenn eine allgemeine Verfolgungsgefahr bestanden habe, die bei verständiger Würdigung habe erwarten lassen, dass der Einzelne in absehbarer Zeit von nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen betroffen sein werde, und wenn er sich dieser Gefahr durch Auswanderung oder auf andere Weise entzogen habe. Eine konkrete Verfolgungsgefahr habe bestanden, weil nach der Besetzung von Czernowitz durch rumänische Truppen auch deutsche Einheiten in die Nordbukowina eingerückt und von diesen Verfolgungsmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung durchgeführt worden seien. Der Versicherte habe widerspruchsfrei dargelegt, dass er aufgrund der befürchteten Verfolgung Anfang Juli 1941 in das Innere der UdSSR geflohen sei. Hierdurch habe er seine bis Ende Juni 1941 ausgeübte Beschäftigung beenden müssen.
Der Verfolgteneigenschaft des Versicherten stehe nicht entgegen, dass er bei seiner Flucht in dem Staat geblieben sei, in dessen Bereich er schon bisher gelebt habe. Er sei vor der nationalsozialistischen Verfolgung geflohen, die sich kriegsbedingt auf die besetzten Gebiete und damit auch auf das Gebiet der Nordbukowina ausgedehnt habe. Die geltend gemachte Ersatzzeit sei anzuerkennen, obwohl der Versicherte nicht – im strengen Sinne – vom Inland in das Ausland geflohen sei. Der Versicherte habe sich immer nur im “Ausland” aufgehalten; denn als Ausland gelte grundsätzlich jedes Gebiet, das außerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs nach seinem jeweiligen Gebietsstand gelegen sei. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift sei auch aber das Gebiet, auf das sich der Einflussbereich des Deutschen Reichs erstreckt habe, “als Inland” anzusehen. Entscheidend für die Anerkennung der Ersatzzeit sei, dass der Versicherte aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung in den besetzten Gebieten keine weiteren Beitragszeiten habe zurücklegen können. Wenn der Versicherte Czernowitz verfolgungsbedingt nicht hätte verlassen müssen, hätte er dort seiner versicherungspflichtigen Beschäftigung weiter nachgehen können.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO und der §§ 1, 2 BEG. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus: Die Ersatzzeitenregelung des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO begünstige allein Verfolgte gemäß § 1 BEG. Der Versicherte sei jedoch kein Verfolgter iS des § 1 Abs 1 BEG gewesen. Ein verfolgungseigentümlicher Schaden liege nicht vor, was jedoch nach der Rechtsprechung des BGH für die Anerkennung als Verfolgter iS des BEG erforderlich sei. Bei den gegen die Juden von Czernowitz gerichteten Maßnahmen nach der Besetzung im Juli 1941 habe es sich nicht um nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen des deutschen Staats iS des § 1 BEG, sondern um Maßnahmen des – mit Deutschland verbündeten – souveränen rumänischen Staats gehandelt, auch wenn letztere den deutschen Verfolgungsmaßnahmen sehr ähnlich gewesen seien.
Ein verfolgungsbedingter Auslandsaufenthalt iS des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO setze nach seinem Sinn zudem voraus, dass der Verfolgte sich zunächst im Inland aufgehalten und dieses – verfolgungsbedingt – verlassen habe. Der Versicherte habe sich jedoch ständig außerhalb der jeweiligen Grenzen des Deutschen Reichs aufgehalten. Die im Juli 1941 zurückeroberte Nordbukowina sei während des Zweiten Weltkriegs Teil des souveränen Staats Rumänien und somit zu keinem Zeitpunkt Inland – etwa durch Eingliederung in das Deutsche Reich – gewesen. Da der Versicherte nicht Verfolgter iS der §§ 1, 2 BEG gewesen sei, sei er (nur) gemäß § 17a FRG in den Anwendungsbereich des FRG einbezogen worden, so dass seine Ansprüche auf den Anwendungsbereich des FRG beschränkt gewesen seien.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 9. April 2002 sowie das Urteil des SG Düsseldorf vom 27. Oktober 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen (sinngemäß),
die Revision zurückzuweisen.
Sie halten die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat konnte in Abwesenheit der Kläger über die von der Beklagten eingelegte Revision mündlich verhandeln und entscheiden, weil der ordnungsgemäß geladene Bevollmächtigte der Kläger auf diese Möglichkeit mit der Terminsladung hingewiesen worden ist (vgl § 110 Abs 1, § 124 Abs 1, § 159 Abs 1, § 165 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat das Urteil des SG zu Recht bestätigt. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist die Zeit vom 1. Juli 1941 bis 31. Mai 1945 als verfolgungsbedingte Ersatzzeit anzuerkennen.
Der Anspruch der Kläger – als Rechtsnachfolger des Versicherten – auf Anerkennung der streitigen Zeit als Ersatzzeit richtet sich noch nach den Vorschriften der zum 31. Dezember 1991 geltenden und zum 1. Januar 1992 außer Kraft getretenen RVO. Der diesbezügliche Antrag ist bereits im April 1990 gestellt worden und der geltend gemachte – hier allein streitige – Anspruch auf Anerkennung der Ersatzzeit bezieht sich auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 (vgl § 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB VI≫).
Nach dem hier allein in Betracht kommenden § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO werden ua Zeiten eines Auslandsaufenthalts bis zum 31. Dezember 1949 als Ersatzzeiten angerechnet, wenn der Auslandsaufenthalt durch Verfolgungsmaßnahmen iS des BEG hervorgerufen worden ist oder infolge solcher Maßnahmen angedauert hat und der Versicherte Verfolgter iS des § 1 BEG ist. Nach § 1251 Abs 2 Satz 1 RVO werden die in § 1251 Abs 1 RVO aufgeführten Zeiten als Ersatzzeiten für die Erfüllung der Wartezeit nur angerechnet, wenn eine Versicherung vorher bestanden und während der Ersatzzeit Versicherungspflicht nicht bestanden hat.
Die Anrechnung der Ersatzzeit auf die Wartezeit scheitert vorliegend nicht bereits daran, dass der Versicherte vor dem Eintritt des Ersatzzeittatbestands keine Vorversicherung in der deutschen Rentenversicherung zurückgelegt, sondern vor Juli 1951 nur Beiträge zum rumänischen bzw sowjetischen Versicherungsträger entrichtet hatte. Diese Beiträge stehen der Berücksichtigung als Vorversicherungszeit nicht entgegen, weil sie als Fremdrentenzeiten den nach Bundesrecht zurückgelegten Zeiten gleichstehen (§ 15 Abs 1 Satz 1 FRG). Diese Gleichstellung gilt auch für die Personen, deren ausländische Beitragszeiten anerkannt worden sind, weil sie die Voraussetzungen des § 17a FRG erfüllen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist § 17a FRG nicht so zu verstehen, dass für die nach dieser Vorschrift Anspruchsberechtigten ausschließlich die Vorschriften des FRG Anwendung finden. Gemäß § 17a Abs 2 FRG finden “die für die gesetzliche Rentenversicherung maßgeblichen Vorschriften dieses Gesetzes auch Anwendung auf …”. Insoweit verweist diese Vorschrift nicht nur auf § 15 FRG, sondern auch auf § 14 FRG, wonach sich die Rechte und Pflichten der nach diesem Abschnitt (§§ 14 bis 31 FRG) Berechtigten nach den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden allgemeinen Vorschriften richten, soweit sich aus den nachfolgenden Vorschriften nichts anderes ergibt. Somit stehen die über § 17a FRG anerkannten ausländischen Beschäftigungszeiten den übrigen nach dem FRG anerkannten Zeiten in vollem Umfang gleich. Dies entspricht auch Sinn und Zweck der Regelung des § 17a FRG, mit der der hiervon erfasste Personenkreis unmittelbar in die Rentenberechnung nach dem FRG bzw in das FRG einbezogen werden sollte (BT-Drucks 11/5530 S 29 und S 65). Da das FRG keine spezialgesetzliche Regelung zu Ersatzzeiten enthält (VerbKomm, SGB VI, Anh Bd I ≪29. Erg-Liefg 1. Januar 1998≫ § 14 FRG RdNr 2, vgl ebenda ≪20. Erg-Liefg 1. Januar 1992≫§ 17a FRG RdNr 4), ist auf die jeweils geltenden allgemeinen rentenrechtlichen Vorschriften (RVO, AVG bzw SGB VI) zurückzugreifen. Sind die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen eines verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts iS von § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO erfüllt, ist auch für diesen Personenkreis das Vorliegen einer Ersatzzeit anzuerkennen.
Die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO sind entgegen der Ansicht der Beklagten gegeben, weil sich der Versicherte in dem streitigen Zeitraum verfolgungsbedingt im Ausland aufgehalten hatte.
Der Versicherte war Verfolgter iS des § 1 BEG. Nach dieser Vorschrift, die in § 1 Abs 1 BEG die für alle weiteren Vorschriften des BEG maßgebliche Legaldefinition enthält (BSG SozR 3-5070 § 20 Nr 6), sind Verfolgte iS des Gesetzes die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, die aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden sind und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in ihrem beruflichen oder ihrem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten haben (Verfolgte).
Der Versicherte war zwar nicht als Verfolgter nach dem BEG anerkannt, dies steht jedoch der Anwendung des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO nicht entgegen. Die Feststellung der Verfolgteneigenschaft ist vom Rentenversicherungsträger bzw von den Gerichten in eigener Zuständigkeit und unabhängig von den Entschädigungsbehörden durchzuführen (BSG SozR 2200 § 1251 Nr 130 mwN; s auch Niesel in Kasseler Komm, § 250 SGB VI RdNr 82). Die Bejahung der Verfolgteneigenschaft durch das LSG ist aufgrund der von ihm getroffenen Feststellungen nicht zu beanstanden.
Als Jude zählte der Versicherte zu der Gruppe von Verfolgten, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft aus Gründen der Rasse verfolgt wurde und “ausgemerzt” werden sollte (vgl BSG SozR 3-2200 § 1251 Nr 7). Dagegen ist der Verweis in § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO, dass der Versicherte “Verfolgter” iS des § 1 BEG sein müsse, nicht so zu verstehen, dass es sich ausschließlich um nach dem BEG entschädigungsberechtigte Verfolgte handeln muss. Die Feststellung der Verfolgteneigenschaft iS der RVO ist nicht vom Bestehen eines Entschädigungsanspruchs nach dem BEG abhängig (s hierzu auch BSG SozR Nr 20 zu § 1251 RVO; vgl Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl 1991, § 1251 RVO Anm 4 G; VerbKomm ≪24. Erg-Liefg 1. Juli 1993≫, § 250 SGB VI RdNr 19).
Soweit der BGH nach Sinn und Zweck des BEG darauf abgestellt hat, dass der anfängliche – also bei Beginn der Flucht bestehende – Auslandsaufenthalt einem verfolgungsbedingten (ausgleichspflichtigen) Schaden entgegenstehe, weil sich (nur) das allgemeine Risiko der Kriegs- und Fluchtschäden verwirklicht habe und deshalb der Geflohene “nicht entschädigungsberechtigt” sei (BGH LM Nr 89 zu § 1 BEG 1956; Nr 49, 51 zu § 2 BEG 1956), können diese Grundsätze, wie der Senat bereits ausgeführt hat (Senatsurteil vom 9. August 1995 – 13 RJ 25/94 – BSG SozR 3-5070 § 20 Nr 6), nicht ohne weiteres auf das Sozialrecht übertragen werden. Im Rahmen der Anerkennung einer verfolgungsbedingten Ersatzzeit in der Rentenversicherung geht es um den Ausgleich rentenrechtlicher Nachteile für die infolge der verfolgungsbedingten Flucht nicht zurückgelegten Beitragszeiten. Für die im Rentenrecht zu entscheidende Frage, ob der Versicherte “Verfolgter iS des § 1 BEG” ist (vgl § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO), kommt es auf die Entschädigungsberechtigung nach § 1 BEG nicht an (Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, aaO; VerbKomm ≪24. Erg-Liefg 1. Juli 1993≫, § 250 SGB VI RdNr 19). Für die Entschädigungsberechtigung ist in diesem Zusammenhang vielmehr maßgeblich darauf abzustellen, ob der Betroffene einen Schaden in der Rentenversicherung erlitten hat (vgl BSGE 44, 236 = SozR 2200 § 1251 Nr 35; zum Entschädigungscharakter des § 1251 RVO s auch BSG SozR 3-2200 § 1251 Nr 7), für die die Rentenversicherungsgesetze einen Ausgleich vorsehen. Im Rahmen der Anerkennung einer verfolgungsbedingten Ersatzzeit geht es gerade um den Ausgleich rentenrechtlicher Nachteile für die infolge einer verfolgungsbedingten Flucht nicht zurückgelegten (weiteren) Beitragszeiten.
Der Anerkennung der verfolgungsbedingten Ersatzzeit steht auch nicht entgegen, dass der Versicherte nicht vom Inland, dh vom Gebiet des damaligen Deutschen Reichs, in das Ausland geflohen ist, also keine Staatsgrenze bzw – wie von der Beklagten entgegengehalten wird – keine Demarkationslinie überschritten hat, sondern in dem Machtbereich des Staates geblieben ist, in dessen Bereich er schon bisher lebte. Zwar liegt ein Auslandsaufenthalt iS von § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO regelmäßig nur dann vor, wenn das Inland wegen drohender Verfolgungsmaßnahmen verlassen worden ist. Denn nach Sinn und Zweck des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO setzt die Anerkennung einer verfolgungsbedingten Ersatzzeit voraus, dass eine Beitragszahlung zur deutschen Rentenversicherung verfolgungsbedingt unterblieben und durch Anrechnung einer Ersatzzeit zu kompensieren ist. Die Kompensation unterbliebener Beitragszahlungen bezieht sich mithin grundsätzlich nur auf solche Zeiten, in denen ansonsten aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung Beiträge zur deutschen Rentenversicherung (weiter) geleistet worden wären. Sofern man – wovon offenbar die Beklagte ausgeht – die Regelung des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO so versteht, dass das “Hervorrufen eines Auslandsaufenthalts” jedoch denknotwendig zunächst den Aufenthalt im Inland (iS des jeweiligen Staatsgebiets des Deutschen Reichs) und sodann die Begründung eines Aufenthalts im Ausland (mit dem Überschreiten einer Demarkationslinie) voraussetzt, greift diese Auslegung zu kurz und wird der vorliegenden Fallgestaltung nicht gerecht.
Als Ausland ist zwar grundsätzlich jedes Gebiet anzusehen, das außerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs nach seinem jeweiligen Gebietsstand gelegen ist (BSGE 59, 23 = SozR 2200 § 1251 Nr 116 mwN). Auch Gebiete im Einflussbereich des Deutschen Reichs blieben Ausland (VerbKomm ≪30. Erg-Liefg 1. Januar 1989≫ § 1251 RVO RdNr 17). Allerdings ist ausnahmsweise auch das verlassene Einflussgebiet des Deutschen Reichs als “Inland” anzusehen, wenn ein Versicherter ein Einflussgebiet des Deutschen Reichs wegen der drohenden Verfolgungsmaßnahme verlassen hatte und in ein anderes Ausland ging (VerbKomm, aaO, RdNr 17; s auch Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, Stand: Januar 1997, Anm 6b zu § 250 SGB VI).
Der vorliegende Fall zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass alle Gebiete, in denen sich der Versicherte vor und ab Juli 1951 aufgehalten hatte (Czernowitz, Taschkent und Tschilaviz), nach den damaligen Gebietsständen nicht zum Deutschen Reich gehörten, und dass der Versicherte im staatsrechtlichen Sinne innerhalb desselben Staates geflohen war. Zum Zeitpunkt seiner Flucht war die Bukowina mit der Stadt Czernowitz von der Sowjetunion annektiert worden, so dass der Versicherte – wie die Beklagte dem Anspruch des Klägers auch entgegenhält – in strengem Sinne nur innerhalb desselben Staates (Ausland) seinen Aufenthalt gewechselt hatte. Es bedarf an dieser Stelle keiner näheren Prüfung darüber, ob die Annektion dieses zuvor rumänischen Gebietes durch die Sowjetunion völkerrechtlich zulässig und wirksam war. Die Flucht des Versicherten aus Czernowitz in das Innere der Sowjetunion ist nach Sinn und Zweck des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO iVm §§ 17a, 15, 14 FRG einer Flucht aus dem Inland in das Ausland gleichzusetzen.
Wie oben ausgeführt, stehen nach § 14 FRG fremdrentenrechtliche Zeiten den nach den Reichsgesetzen zurückgelegten Zeiten gleich und können das Erfordernis einer vor der Verfolgung bestandenen Vorversicherung iS von § 1251 Abs 2 Satz 1 RVO erfüllen. Die vom Kläger im damaligen Ausland, dh in Rumänien bzw im von der Sowjetunion besetzten oder annektierten Teil Rumäniens, zurückgelegten Beitragszeiten sind derartige Fremdrentenzeiten, weil für die nach § 17a FRG anerkannten Zeiten nichts anderes gilt als für andere Fremdrentenzeiten auch. Damit kann es aber für die Anerkennung einer anschließenden Ersatzzeit nicht mehr darauf ankommen, dass der Versicherte (§ 17a iVm § 15 FRG) sich vor der Flucht nicht im Inland aufgehalten hat, weil § 17a FRG nur und ausdrücklich die Einbeziehung ausländischer Beitragszeiten vorsieht und damit für deren Anerkennung einen Auslandsaufenthalt voraussetzt. Als “Hervorrufen eines Auslandsaufenthalts” ist deshalb auch anzusehen, wenn der Versicherte ein im staatsrechtlichen Sinne nicht eingegliedertes, aber unter dem nationalsozialistischen Einflussbereich des Deutschen Reichs stehendes Gebiet verlässt und seinen Aufenthalt in einem anderen ausländischen Gebiet nimmt (Eicher/Haase/Rauschenbach, aaO, Stand: Januar 1997, Anm 6b zu § 250 SGB VI). In diesem Fall ist das verlassene Gebiet als “Inland” anzusehen (Eicher/Haase/Rauschenbach, aaO).
Nichts anderes kann gelten, wenn der Versicherte ein solches Gebiet bereits zu einem Zeitpunkt verlässt, für das die Erstreckung des nationalsozialistischen Einflussbereichs und die damit verbundenen Verfolgungsmaßnahmen unmittelbar bevorstanden. Nach der Rechtsprechung des BGH (LM Nr 89 zu § 1 BEG 1956; Nr 49, 51 zu § 2 BEG 1956) und des BSG (SozR 5070 § 9 Nr 3; SozR 3-5070 § 20 Nr 6) ist der Begriff der konkreten Verfolgung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen nicht auf unmittelbare Eingriffe in die Lebenssituation des Verfolgten beschränkt, sondern auch dann gegeben, wenn eine allgemeine Verfolgungsgefahr bestand, die bei verständiger Würdigung erwarten ließ, dass der Einzelne in absehbarer Zeit von nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen betroffen sein würde und er sich dieser Gefahr durch Auswanderung oder durch andere Weise entzog. Insbesondere bei den so genannten Gruppenverfolgten – wie den Juden – ist danach eine Entschädigung auch dann geboten, wenn sie die Gefahr eines gewaltsamen Zugriffs mit gutem Grund als gegenwärtig ansehen durften und sich ihr durch Flucht entzogen haben, ohne abzuwarten, bis sich die gefährliche Entwicklung zum nahe bevorstehenden Zugriff verdichtet hatte (vgl BSG SozR 3-5070 § 20 Nr 6). Den Angehörigen einer von den nationalsozialistischen Machthabern verfolgten Rasse iS des § 1 BEG war nicht zuzumuten, den Beginn konkreter Verfolgungsmaßnahmen gegen ihre Person abzuwarten und erst dann in das Ausland zu flüchten (BSG SozR 3-5070 § 20 Nr 6). Es kann daher keinen Unterschied machen, ob der Versicherte aus dem Deutschen Reich in seinen jeweiligen Gebietsgrenzen bzw aus dem Gebiet, auf das sich der nationalsozialistische Einflussbereich erstreckte, floh oder ob er – kurz vor der weiteren Ausdehnung des nationalsozialistischen Einflussbereichs – aus den gefährdeten Gebieten unmittelbar vor deren Besetzung floh. Beide Fällen unterscheiden sich – bei unmittelbar bevorstehender Verfolgungsgefahr – nur durch den Zeitpunkt der Flucht. So liegt der Fall hier.
Wie der Senat bereits entschieden hat (Senatsurteil vom 25. November 1999 – B 13 RJ 63/98 R – BSG SozR 3-5050 § 17a Nr 2), ist für die Frage, ab wann der nationalsozialistische Einflussbereich iS von § 17a Abs 1 FRG sich auf die jeweiligen Gebiete erstreckte, von den zum Entschädigungsrecht entwickelten Grundsätzen auszugehen (so auch BSG SozR 3-5050 § 17a Nr 3; BSG SozR 3-6481 Nr 11 Nr 1). Danach erstreckte sich der nationalsozialistische Einflussbereich bereits ab dem 6. April 1941 auf das Gebiet des souveränen Staats Rumänien und erweiterte sich durch die (Rück-)Eroberung auf die Nordbukowina. Damit wurde das bis dahin von den nationalsozialistischen Machthabern nicht beeinflusste Gebiet der Nordbukowina zu einem Gebiet, das ab Juli 1941 ebenfalls unter den nationalsozialistischen Einflussbereich gelangte (vgl VerbKomm, SGB VI, Anl Bd I ≪20. Erg-Liefg 1. Januar 1992≫ § 17a RdNr 3.3).
Nach den – historisch gesicherten – Feststellungen des LSG war die Stadt Czernowitz im Rahmen des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion am 5. Juli 1941 von mit dem Deutschen Reich verbündeten rumänischen Truppen eingenommen worden. Bereits am 6. Juli 1941 zog eine Einheit der deutschen Sicherheitspolizei gleichfalls in Czernowitz ein. In der Zeit vom 5. bis 9. Juli 1941 wurden in Czernowitz über 2000 Juden ermordet und ab Anfang August 1941 hatte die Internierung von Juden in rumänische Durchgangslager begonnen. Diesen Verfolgungsmaßnahmen hatte sich der Versicherte durch die kurz zuvor erfolgte Flucht entziehen können. Der Versicherte hatte seinen Aufenthaltsort Czernowitz unmittelbar vor dem Zeitpunkt verlassen, in dem die deutschen und rumänischen Truppen mit der (Rück-)Eroberung der Nordbukowina begannen und die damit verbundene Ausdehnung des nationalsozialistischen Einflusses auf den bisherigen Aufenthaltsort unmittelbar bevorstand.
Die Flucht des Versicherten in das Innere der Sowjetunion wurde auch durch Verfolgungsmaßnahmen iS der §§ 1, 2 BEG hervorgerufen. Verfolgungsmaßnahmen iS des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO sind solche Maßnahmen, die aus den Verfolgungsgründen des § 1 BEG auf Veranlassung oder mit Billigung einer Dienststelle oder eines Amtsträgers des Reichs, eines Landes, einer sonstigen Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts, der NSDAP, ihrer Gliederung oder angeschlossener Verbände gegen den Verfolgten gerichtet waren.
Ob die in Czernowitz nach der im Juli 1941 erfolgten Rückeroberung durchgeführten Verfolgungsmaßnahmen durch staatliche rumänische Stellen oder durch deutsche Stellen iS des § 1 BEG vorgenommen worden waren, kann letztlich dahinstehen. Nach § 43 Abs 1 Nr 2 BEG sind konkrete Verfolgungsmaßnahmen in Rumänien bereits seit April 1941 unabhängig davon, von welchen Dienststellen die konkreten Verfolgungsmaßnahmen durchgeführt wurden, als von deutschen Dienststellen veranlasst anzusehen. Die Übernahme dieser in § 43 Abs 1 Nr 2 BEG begründeten Fiktion in das Rentenrecht erscheint aufgrund der gleichen Problemlage, einen bestimmten Stichtag zu finden, ab dem die Erstreckung des nationalsozialistischen Einflussbereichs auf einen anderen Staat anzunehmen ist, gerechtfertigt (vgl hierzu ausführlich BSG SozR 3-5050 § 17a Nr 2, 3).
Wenn sich der Versicherte dem nationalsozialistischen Einflussbereich bzw der kurz bevorstehenden Ausdehnung dieses Einflussbereichs und damit der drohenden Verfolgung durch eine Flucht aus diesem Einflussbereich entzog, muss dies einer Flucht aus dem Inland ins Ausland gleichgestellt werden, unabhängig davon, ob noch eine Staatsgrenze zu überschreiten war oder nicht. Im Übrigen zeigt der konkrete Fall, dass dem Versicherten keine andere Möglichkeit geblieben war, als sich in das Innere des Staates zurückzuziehen, in dessen Machtbereich Czernowitz zuvor gelegen hatte. Im Inneren der Sowjetunion war er keiner rassischen Verfolgung unterlegen und dem nationalsozialistischen Einflussbereich entzogen, während alle anderen umliegenden Staaten bereits unter dem nationalsozialistischen Einflussbereich standen.
Der “Auslandsaufenthalt”, dh der Aufenthalt des Versicherten in dem dem nationalsozialistischen Einflussbereich entzogenen Gebiet, hatte auch durch die Verfolgungsmaßnahmen angedauert. Hierfür spricht insbesondere, dass der Versicherte bis kurz vor Einmarsch der rumänischen bzw deutschen Truppen in Czernowitz gelebt und gearbeitet hatte und alsbald nach Ende des Kriegs (jedenfalls vorübergehend) wieder nach Czernowitz zurückgekehrt war.
Ob zum Zeitpunkt der Flucht des Klägers auch andere allgemeine Fluchtbewegungen in der Bevölkerung vor den herannahenden rumänischen bzw deutschen Truppen stattgefunden hatten (vgl hierzu BSG SozR 3-5070 § 20 Nr 6), ist letztlich unerheblich, weil nach den – von der Beklagten ebenfalls nicht angegriffenen – Feststellungen des LSG die Flucht des Klägers allein davon bestimmt war, dass er sich der drohenden rassischen Verfolgung entziehen wollte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1083256 |
BSGE 2004, 198 |
FA 2004, 96 |
NZS 2004, 432 |
GuS 2003, 61 |
ZfSSV 2007 |