Orientierungssatz
Zum Verbrauch der Einverständniserklärung zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung.
Normenkette
SGG § 124 Abs. 2, 1
Verfahrensgang
SG Koblenz (Entscheidung vom 28.08.1992; Aktenzeichen S 10 A 58/91) |
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 19.08.1993; Aktenzeichen L 5 A 56/92) |
Tatbestand
Der Kläger streitet um die Anerkennung und 5/6-Anrechnung der Zeit von April 1935 bis März 1936 (Lehrjahr) sowie um die volle Anrechnung der Zeiten vom 1. Juli 1948 bis 30. September 1948 und vom 4. Oktober 1948 bis zum 30. September 1950 (Beschäftigungen) als ungekürzte, seinen Rentenanspruch stützende Beitragszeiten.
Der Kläger flüchtete im Oktober 1950 aus der ehemaligen DDR in die Bundesrepublik Deutschland. Die Beklagte bewilligte ihm zunächst eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) ab 1. Februar 1969 (Bescheid vom 18. August 1969 und Bescheid vom 18. Juli 1986 über eine Neufeststellung ab 1. Mai 1976), die sie ab 1. Januar 1986 antragsgemäß in das Altersruhegeld (ARG) wegen Vollendung des 65. Lebensjahres umwandelte (Bescheid vom 16. September 1986). Der Kläger beanstandete erfolglos ua die Nichtanerkennung des genannten Lehrjahres in T. /P. und die nach dem Fremdrentengesetz als nur glaubhaft gemachte Beitragszeiten mit 5/6 angerechneten DDR-Zeiten sowie die Einstufung für diese Zeiten (Widerspruchsbescheid vom 23. April 1987, Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Koblenz vom 22. Juni 1988 - S 10 A 149/87 - und Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Rheinland-Pfalz vom 2. November 1989 - L 5 A 72/88). Gegenstand dieser Verfahren waren auch weitere Neufeststellungen und Anpassungen durch die Beklagte (Bescheide vom 20. August 1987, 28. November 1988, 5. Mai 1989). Das LSG schloß sich im früheren Verfahren der Begründung der Beklagten und des SG an, Beitragsnachweise für eine Anerkennung und Anrechnung des Lehrjahres sowie für eine volle Anrechnung der übrigen Zeiten seien nicht vorhanden. Die vorgelegte Korrespondenz der Arbeitgeber sei nur für eine Glaubhaftmachung der DDR-Zeiten geeignet. Daß es sich bei der abgebrochenen Lehre überhaupt um eine versicherungspflichtige Lehrzeit mit einer Beitragsleistung gehandelt habe, sei dagegen nicht einmal glaubhaft gemacht.
In der Folgezeit stellte die Beklagte die EU-Rente und das ARG des Klägers wiederholt neu fest, ohne dabei ihren Standpunkt zu den streitigen Zeiten zu ändern (Bescheid vom 22. Januar 1990 mit Widerspruchsbescheid vom 5. April 1990 sowie Bescheide vom 10. April 1990 und vom 18. Juni 1990).
Im August 1990 wandte sich der Kläger nochmals an die Beklagte und beanstandete vor allem, daß sie das Lehrjahr überhaupt nicht und die streitigen DDR-Zeiten nur gekürzt angerechnet habe, obwohl alle diese Zeiten durch die von ihm eingereichten Belege nachgewiesen seien. Daraufhin überprüfte die Beklagte ihre bisherigen Entscheidungen nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) und blieb bei ihrer früheren Auffassung (Bescheid vom 10. September 1990). Der Widerspruch des Klägers war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 16. April 1991).
Die hiergegen gerichtete Klage hat das SG Koblenz durch Urteil vom 28. August 1992 mit im wesentlichen gleicher Begründung wie früher abgewiesen.
Mit seiner Berufung hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Die Beklagte hat ihre Verwaltungsentscheidungen für Rechtens gehalten.
Im Berufungsverfahren haben sich die Beklagte (Schriftsatz vom 2. Dezember 1992 - Bl 141 der Gerichtsakten) und der Kläger (Schreiben vom 1. März 1993 - Bl 154 der Gerichtsakten) mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Nachdem der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 4. März 1993 nicht erschienen war, hat das LSG folgenden Beschluß verkündet: "Im Hinblick darauf, daß der Senat eine persönliche Anhörung des Klägers für erforderlich hält, wird der heutige Termin aufgehoben. Neuer Termin wird von Amts wegen bestimmt werden." Auf eine Anfrage des Berichterstatters hat der Kläger geantwortet, daß er sich wegen seines Gesundheitszustandes nicht in der Lage sehe, die beschwerliche Reise von seinem Wohnort zum Sitz des LSG anzutreten. Er sei zu einer Anhörung in seiner Wohnung oder an einem neutralen Ort in seiner Wohngemeinde - wie vom Berichterstatter angeboten - bereit. Daraufhin hat der Berichterstatter Termin zur Erörterung und persönlichen Anhörung des Klägers auf den 17. Mai 1993 bestimmt. In diesem Termin, von dem die Beklagte benachrichtigt worden ist, ist für die Beklagte kein Vertreter erschienen. Der Berichterstatter hat den Kläger zum Streitgegenstand persönlich angehört und auch die während der Anhörung anwesende Ehefrau des Klägers "informatorisch gehört". Die Niederschrift ist der Beklagten mit der Anfrage zugeleitet worden, ob die streitigen Zeiten nunmehr anerkannt würden. Dies hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 26. Mai 1993 verneint.
Sodann hat das LSG durch das ohne mündliche Verhandlung ergangene Urteil vom 19. August 1993 das Urteil des SG und die Verwaltungsentscheidungen der Beklagten aufgehoben. Zugleich hat es die Beklagte verurteilt, die Zeit vom 1. April 1935 bis zum 31. März 1936 als glaubhaft gemachte Beitragszeit mit 5/6, die Zeiten vom 1. Juli 1948 bis 30. September 1948 und vom 4. Oktober 1948 bis zum 30. September 1950 als nachgewiesene Beitragszeiten ungekürzt anzurechnen und die früheren Bescheide über die EU-Rente und das ARG entsprechend zu ändern. In seiner Begründung hat sich das LSG insbesondere auch auf die Angaben des Klägers und seiner Ehefrau bei deren persönlicher Anhörung durch den Berichterstatter gestützt.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts durch das Berufungsgericht und trägt im wesentlichen vor: Das LSG habe einen Verfahrensfehler begangen, weil das in § 124 Abs 1 normierte Mündlichkeitsprinzip verletzt worden sei. Die in ihrem Schriftsatz vom 2. Dezember 1992 enthaltene Erklärung, mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden zu sein, sei im Zeitpunkt des Urteilserlasses verbraucht gewesen, weil das LSG durch die Anberaumung des Termins vom 17. Mai 1993 neue Ermittlungen durchgeführt habe. Nachdem der Berichterstatter wegen der Anerkennung der streitigen Zeiten angefragt und die Beklagte eine Anerkennung abgelehnt habe, habe sie davon ausgehen können, daß sie im Rahmen einer erneuten mündlichen Verhandlung Gelegenheit bekäme, zu den Darlegungen des Klägers Stellung zu nehmen. Es sei nicht ausgeschlossen, daß eine seitens des Vertreters der Beklagten in einer mündlichen Verhandlung abgegebene Erwiderung zu den Ausführungen des Klägers das Gericht von der Richtigkeit der Auffassung der Beklagten überzeugt und damit zu einem anderen Urteil als geschehen veranlaßt hätte. Aufgrund dessen sei auch ihr Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) verletzt worden. Materiell-rechtlich habe das LSG die Vorschrift des § 44 Abs 4 SGB X verkannt, indem es die Beklagte verurteilt habe, die früheren Bescheide über die EU-Rente und das ARG zu ändern. Eine solche Verurteilung sei im Blick auf den im August 1990 gestellten Überprüfungsantrag des Klägers allenfalls für das seit dem 1. Januar 1986 gezahlte ARG möglich gewesen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. August 1993 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 28. August 1992 zurückzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 SGG).
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist iS einer Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie der Zurückverweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG begründet. Das angefochtene Urteil leidet an dem von der Beklagten gerügten Verfahrensmangel einer Verletzung des Mündlichkeitsprinzips (§ 124 Abs 1 SGG).
Mit dem ohne mündliche Verhandlung erlassenen Urteil vom 19. August 1993 hat das LSG den in § 124 Abs 1 SGG enthaltenen Grundsatz verletzt, den Rechtsstreit aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden (Mündlichkeitsprinzip). Eine Ausnahme hiervon, dh Zulässigkeit eines Urteils ohne mündliche Verhandlung, besteht nur, wenn vorher das Einverständnis der Beteiligten wirksam erklärt, nicht widerrufen und noch wirksam ist (§ 124 Abs 2 SGG) oder - was im vorliegenden Fall nicht in Betracht zu ziehen ist - die Voraussetzungen für eine Entscheidung nach Aktenlage erfüllt sind (§§ 124 Abs 3, 126 SGG).
Bei der Entscheidung des LSG lag indessen keine wirksame Einverständniserklärung der Beklagten zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (mehr) vor. Eine solche Erklärung bezieht sich nur auf die nächste Entscheidung. Wenn eine solche Entscheidung nicht das abschließende Urteil ist, wird in der Regel die Einverständniserklärung durch jede gerichtliche Entscheidung verbraucht, welche die Entscheidung wesentlich sachlich vorbereitet (vgl Entscheidungen des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ in SozR 1500 § 124 Nrn 2 und 3 mwN). Hiervon ausgehend war die Erklärung der Beklagten vom 2. Dezember 1992 im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils verbraucht. Nachdem das LSG seine Ankündigung vom 4. März 1993, einen neuen Termin zur mündlichen Verhandlung anzuberaumen, nicht wahr gemacht, sondern einen Termin zur Erörterung und zur persönlichen Anhörung des Klägers angeordnet hatte, hat das LSG eine weitere Sachaufklärung veranlaßt und durch eine häusliche Befragung des Klägers sowie eine prozeßrechtlich fragliche Anhörung der Ehefrau des Klägers durchgeführt. Dadurch hatte sich auch für die Beklagte die Prozeßlage so wesentlich verändert, daß ihre Einverständniserklärung wirkungslos geworden war.
Durch das gleichwohl am 19. August 1993 ohne mündliche Verhandlung ergangene Urteil ist das prozessuale Recht der Beklagten verletzt worden, in einer mündlichen Verhandlung mit ihren Ausführungen gehört zu werden und insbesondere Argumente gegen die Angaben des Klägers und seiner Ehefrau vom 17. Mai 1993 sowie auch Einwände gegen die Verfahrensweise bei der Anhörung der Ehefrau vorbringen zu können. Daß die Beklagte von diesem Recht Gebrauch gemacht hätte, liegt unter den gegebenen Umständen nahe und ist im übrigen in der Revisionsbegründung dargelegt worden. Da einer Entscheidung des LSG durch Urteil eine mündliche Verhandlung vorangehen mußte, kommt es bereits aus diesem Grunde nicht darauf an, ob die Beklagte sich schriftsätzlich hätte äußern können. Abgesehen davon war der Beklagten nicht einmal bekannt, daß sie dies vor dem 19. August 1993 hätte tun müssen, um eine Berücksichtigung bei der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zu erreichen. Denn das LSG hat die Beklagte von seiner Absicht, am 19. August 1993 in der vorgenannten Weise entscheiden zu wollen, nicht unterrichtet.
Das angefochtene Urteil, das sich bei der Beweiswürdigung maßgeblich auf die Bekundungen des Klägers und seiner Ehefrau vom 17. Mai 1993 stützt, kann auf dem von der Beklagten gerügten Verfahrensmangel beruhen. Denn es ist nicht ausgeschlossen, daß das LSG zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre, wenn es die mündliche Verhandlung durchgeführt und dem Vertreter der Beklagten im Rahmen der Erörterung des Sach- und Streitverhältnisses (§ 112 Abs 2 SGG) Gelegenheit zur ausführlichen mündlichen Stellungnahme gegeben hätte.
Da dem BSG eine möglicherweise notwendige weitere Sachaufklärung (ordnungsgemäße Vernehmung der Ehefrau des Klägers) sowie eine (auch unter Berücksichtigung einer Stellungnahme der Beklagten) erneute Beweiswürdigung verwehrt ist, führt die von der Beklagten gerügte Rechtsverletzung zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG (§ 170 Abs 2 SGG), ohne daß der Senat die durch die Revision außerdem in der Sache selbst aufgeworfene Rechtsfrage (Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X) zu prüfen hat.
Dahinstehen kann auch, ob ein weiterer Verfahrensmangel (Verletzung des rechtlichen Gehörs, § 62 SGG) von der Beklagten ordnungsgemäß gerügt worden ist und tatsächlich vorliegt.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen