Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 25.03.1993) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. März 1993 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist die Höhe eines Altersruhegeldes (ARG).
Der im Jahre 1928 geborene Kläger war in der Zeit von August 1946 bis Juni 1951 in der sowjetisch besetzten Zone/DDR beschäftigt, vom 7. Juni 1951 bis 11. Oktober 1955 dort politischer Gefangener und siedelte am 11. Oktober 1955 in den Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG) über. In einem Feststellungsbescheid der Landesversicherungsanstalt (LVA) Baden vom 6. September 1966 sind vorgemerkt:
23. August 1946 bis 31. Dezember 1946, LG a 1, fünf Monate, 925,00 RM;
1. Januar 1947 bis 3. September 1947, LG a 1, acht Monate, 1.504,00 RM;
22. November 1948 bis 31. Dezember 1948, LG a 1, zwei Monate, 448,00 DM;
1. Januar 1949 bis 31. Dezember 1949, LG a 1, zehn Monate, 2.860,00 DM;
1. Januar 1950 bis 31. Dezember 1950, LG a 1, zehn Monate, 3.200,00 DM;
1. Januar 1951 bis 6. Juni 1951, LG a 1, fünf Monate, 1.790,00 DM.
Die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) bewilligte dem Kläger mit dem streitigen Bescheid vom 1. März 1991 ARG ab dem 1. Februar 1991 aufgrund eines am 30. Januar 1991 eingetretenen Versicherungsfalles. Bei der Feststellung der Rentenhöhe rechnete sie die vorgenannten vorgemerkten Zeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) wie folgt an:
23. August 1946 bis 31. Dezember 1946, fünf Monate, 663,00 RM, Pflichtbeiträge;
1. Januar 1947 bis 31. August 1947, acht Monate, 1.254,00 RM, Pflichtbeiträge;
1. September 1947 bis 3. September 1947, keine Zeitanrechnung, 16,00 RM, Pflichtbeiträge;
22. November 1948 bis 31. Dezember 1948, zwei Monate, 243,00 DM, Pflichtbeiträge;
1. Januar 1949 bis 31. Oktober 1949, zehn Monate, 2.860,00 DM, Pflichtbeiträge;
1. Januar 1950 bis 31. Oktober 1950, zehn Monate, 3.200,00 DM, Pflichtbeiträge;
1. Januar 1951 bis 31. Mai 1951, fünf Monate, 1.492,00 DM, Pflichtbeiträge;
1. Juni 1951 bis 6. Juni 1951, keine Zeitanrechnung, 60,00 DM, Pflichtbeiträge.
Mit dem den Widerspruch zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 2. Mai 1991 führte die BfA an, ab 1. Juli 1990 seien die Tabellenentgelte nach dem FRG tageweise genau zu bestimmen. Dies müsse von der zeitlichen Kürzung der anrechenbaren Zeiten getrennt werden. Hinsichtlich der Entgeltkürzung bestünden noch keine gesetzlichen Regelungen. Deshalb hätten sich alle Rentenversicherungsträger darauf verständigt, die Entgelte für den ursprünglichen (ungekürzten) Zeitraum auf fünf Sechstel zu reduzieren.
Das Sozialgericht (SG) Reutlingen hat die Beklagte verurteilt, „von der Kürzung der Entgelte um ein Sechstel für die Zeiten vom 23. August 1946 bis 31. Dezember 1946, 1. Januar 1947 bis 31. August 1947, 22. November 1948 bis 31. Dezember 1948 und vom 1. Januar 1951 bis zum 6. Juni 1951 abzusehen” (Urteil vom 10. Februar 1992). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 25. März 1993 zurückgewiesen. Das Berufungsgericht ist der Ansicht, für die von der Beklagten vorgenommene Entgeltkürzung gebe es keine Rechtsgrundlage.
Zur Begründung der – vom LSG zugelassenen – Revision trägt die Beklagte vor, der Gesetzgeber habe durch die am 1. Juli 1990 in Kraft getretene Neufassung der Bestimmungen des FRG eine ungerechtfertigte Besserstellung der Versicherten mit nur glaubhaft gemachten Beitragszeiten beseitigen wollen. Dem diene die Neufassung des § 26 FRG, der eine tagesgenaue Bewertung glaubhaft gemachter Zeiten vorschreibe. Die in § 19 Abs 2 FRG vorgesehene zeitliche fünf Sechstel-Kürzung mit einer monatlichen Rundungsregel habe weder für die Übergangszeit Bedeutung noch für die Wartezeit und die anzurechnenden Versicherungsjahre. Die bis zum 30. Juni 1990 praktizierte Berücksichtigung monatlicher Arbeitsentgelte nach Tabellenwerten sei jedoch mit dem Grundsatz der tageweisen Bewertung nicht zu vereinbaren. Zwar fehle eine ausdrückliche Regelung, wie die tageweise Bewertung durchzuführen sei. Aus der in den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 11/5530 S 65 ff) verlautbarten Absicht, durch eine inhaltsgleiche Vorwegregelung im Bereich des FRG dem gesetzlichen Eingliederungszweck widersprechende Ergebnisse zu beseitigen, folge notwendig eine Begrenzung des Anwendungsbereichs des § 19 Abs 2 FRG. Die dadurch auftretende Regelungslücke sei im Wege einer Analogie zu dem am 1. Januar 1992 in Kraft getretenen § 22 Abs 4 FRG zu schließen. Das weitere Vorbringen der Beklagten ergibt sich aus ihrem Schriftsatz vom 3. Juni 1993 (Bl 13 bis 21 der Akte des Bundessozialgerichts ≪BSG-Akte≫).
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. März 1993 und des Sozialgerichts Reutlingen vom 10. Februar 1992 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 1. März 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 1991 abzuweisen.
Der Kläger, der im Revisionsverfahren nicht durch einen beim BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten ist, hat keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Entscheidung des Berufungsgerichts trifft im Ergebnis und in den wesentlichen Teilen der Begründung zu.
Die Ablehnung, die vorgemerkten Entgelte ungekürzt anzurechnen, ist rechtswidrig, weil es jedenfalls bei einem Rentenbeginn vor dem 1. Januar 1992 keine gültige und auf Fälle der vorliegenden Art anwendbare gesetzliche Bestimmung gibt, die es der Beklagten erlaubte, nach der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) bzw dem FRG glaubhaft gemachte Beitragszeiten mit einem niedrigeren als dem Tabellenwert anzurechnen.
Gemäß dem hier nach § 300 Abs 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) anwendbaren § 31 Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ist der Jahresbetrag des ARG für jedes anrechnungsfähige Versicherungsjahr 1,5 vom Hundert der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage. Streitig ist allein die für den Kläger maßgebende Rentenbemessungsgrundlage. Hierzu bestimmt § 32 Abs 1 Satz 1 AVG, diese sei der Vomhundertsatz der allgemeinen Bemessungsgrundlage, der dem Verhältnis entspricht, in dem während der zurückgelegten Beitragszeiten das Bruttoarbeitsentgelt des Versicherten zu dem durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelt aller Versicherten der Rentenversicherung der Angestellten und der Arbeiter ohne Lehrlinge und Anlernlinge gestanden hat. Im Blick hierauf steht außer Frage, daß das AVG keine hier einschlägige Regelung darüber trifft, daß Arbeitsentgelte unberücksichtigt gelassen werden können. Da der Kläger zu dem vom FRG begünstigten Personenkreis gehört (§ 17 Abs 1 Buchst a FRG), finden die vorgenannten allgemeinen Vorschriften auf ihn nur insoweit keine Anwendung, wie sich aus den §§ 15 ff FRG „anderes ergibt” (§ 14 FRG). Ob dies der Fall ist, ist nach dem seit dem 1. Juli 1990 geltenden Recht zu beurteilen. Dies ergibt sich aus Art 6 § 4 Abs 3 Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz (FANG). Danach ist das FRG in seiner vom 1. Juli 1990 an geltenden Fassung mit der Maßgabe anzuwenden, daß § 5 (FANG) anstelle von § 22 Abs 1 FRG gilt, wenn – wie im Falle des Klägers – der Berechtigte bis zum 30. Juni 1990 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes (FANG) genommen hat, ohne in ein Herkunftsgebiet zurückgekehrt zu sein, und wenn ein Anspruch auf Zahlung einer Rente für einen Zeitraum vor dem 1. Januar 1996, frühestens jedoch vom 1. Juli 1990 an besteht. Einzige Bestimmung des FRG (nF), die Anhaltspunkte für die von der Beklagten angenommene Kürzungsmöglichkeit bieten könnte, ist § 26 FRG (nF). Nach Satz 1 aaO werden bei Anwendung des § 22 Abs 1 FRG (nF) die Werte nur anteilsmäßig berücksichtigt, wenn Beitrags- oder Beschäftigungszeiten nur für einen Teil des Kalenderjahres angerechnet werden.
Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Vorschrift schon für die Übergangszeit bis zum 1. Januar 1992 in dem von der Beklagten angenommenen Sinne verstanden werden darf oder muß. Das Berufungsgericht hat nämlich richtig entschieden, daß diese Vorschrift (§ 26 FRG nF) für den in Art 6 § 4 Abs 3 FANG (in der seit dem 1. Juli 1990 gültigen Fassung) erfaßten Personenkreis nicht anwendbar ist. Der 13. Senat des BSG hat bereits für einen in allen hier wesentlichen Umständen gleichgelagerten Fall aus der Arbeiterrentenversicherung entschieden (Urteil vom 12. Oktober 1993 – 13 RJ 7/93, zur Veröffentlichung vorgesehen), daß sich die Anrechnung und die Bewertung glaubhaft gemachter Beitrags- oder Beschäftigungszeiten nach dem FRG bei dem Personenkreis des Art 6 § 4 Abs 3 FANG allein nach § 19 Abs 2 FRG und Art 6 § 5 FANG richtet und § 26 FRG in der vom 1. Juli 1990 bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung insoweit keine Anwendung findet. Dieser Rechtsauffassung tritt der erkennende Senat nach eigener Prüfung bei. Den zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichts (und des 13. Senats des BSG, aaO) ist nichts hinzuzufügen. Die von der Beklagten vermutete Regelungslücke ergibt sich für den Personenkreis, dem der Kläger angehört, nämlich nur dann, wenn außer acht gelassen wird, daß Art 6 § 4 Abs 3 iVm § 5 Abs 4 FANG zusammen mit § 19 Abs 2 FRG (nF) für einen abgegrenzten Personenkreis ein in sich stimmiges Regelungskonzept enthält, das die bis zum 30. Juni 1990 für alle FRG-Berechtigten bestehende Rechtslage zT aufrechterhält. Weder der Wortlaut der gesetzlichen Bestimmungen noch ihr systematischer Zusammenhang noch der Umstand, daß die Anwendbarkeit des § 26 FRG (nF) diejenige des § 22 Abs 1 FRG (nF) voraussetzt, diese aber gerade durch Art 6 § 4 Abs 3 FANG ausgeschlossen ist, sprechen dafür, daß den Gesetzgebungsorganen der von der Beklagten angenommene außerordentliche Fehlgriff (Spannungsverhältnis; Regelungslücke) in der Regelungstechnik unterlaufen ist. Dieses Konzept berücksichtigt vielmehr hinreichend, daß der hier betroffene Personenkreis bereits eigentumsgeschützte Rentenanwartschaften auch aus FRG-Zeiten erlangt hatte. Es kann auch dahingestellt bleiben, ob die Begründung der Bundesregierung zu ihrer Gesetzgebungsinitiative (BT-Drucks 11/5530 S 65 ff) im einzelnen den Inhalt hat, von dem die Beklagte ausgeht. Ein solcher sozialpolitischer Wille hat jedenfalls in dem vom Gesetzgebungsorgan beschlossenen Gesetzestext keinen hinreichenden Ausdruck gefunden.
Nach alledem war die Revision der Beklagten gegen das zutreffende Urteil des LSG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen