Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 22.09.1987) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. September 1987 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der am 4. Juli 1915 als Sohn jüdischer Eltern in Budapest geborene Kläger begehrt Altersruhegeld (ARG) aus der deutschen Rentenversicherung, ggf unter Anrechnung nachzuentrichtender Beiträge. Nach dem Besuch von Volksschule, Gymnasium und Handelsschule in Budapest in den Jahren 1921 bis 1933, jeweils mit ungarischer Unterrichtssprache, entrichtete er nach einer Bescheinigung des ungarischen Versicherungsträgers in der Zeit vom 7. August 1933 bis 1. März 1942 sowie vom 14. September 1946 bis 31. Januar 1949 Pflichtbeiträge. Er ist anerkannter Verfolgter iS des § 1 Abs 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG). Nach dem Zusatz-Feststellungsbescheid C des Amtes für Wiedergutmachung in Trier aus dem Jahre 1961 hat er eine Entschädigung für Schaden an Freiheit für die Zeit vom 1. September 1942 bis 18. März 1944 erhalten. Ungarn verließ er im Februar 1949. Nach einem Zwischenaufenthalt in Salzburg, wo er vom 1. Dezember 1949 bis Ende November 1950 bei der Firma „I. …” arbeitete, wanderte er im Dezember 1950 in die USA aus, deren Staatsangehörigkeit er 1956 erwarb.
Den Antrag des Klägers vom 12. November 1980 auf ARG unter Anrechnung von Zeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) iVm dem Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) sowie den Antrag, die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach Art 16 Nr 2 der Durchführungsvereinbarung vom 31. Juni 1978 zum Abkommen vom 7. Januar 1976 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika über Soziale Sicherheit (≪DV/DASVA≫, BGBl II 1979, S 567) nach Maßgabe der §§ 9, 10, 10a WGSVG aF zuzulassen, lehnte die Beklagte mit den Bescheiden vom 9. Juni 1983 und 10. Juni 1983 ab: Der Kläger erfülle nicht die Wartezeit für das ARG von 180 Kalendermonaten, vorzumerken sei lediglich die Ersatzzeit vom 1. September 1942 bis 26. August 1944. Zeiten nach dem FRG seien nicht zu berücksichtigen, da die Voraussetzungen des § 20 WGSVG nicht glaubhaft gemacht seien. Der Kläger gehöre nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) an. Die Unterrichtssprache in der Schule sei ungarisch gewesen. Diktat und Aufsatz, die anläßlich der Sprachprüfung im Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in New York am 15. Februar 1983 geschrieben worden sind, ließen nicht erkennen, daß die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht werde und bis zur Zeit der Auswanderung oder auch nur bis zum Einsetzen der Verfolgungsmaßnahmen überwiegend verwendet worden sei. Damit lägen auch die Voraussetzungen für die Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 16 Nr 2 DV/DASVA iVm den §§ 9, 10, 10a WGSVG aF nicht vor. Mit weiterem Bescheid vom 9. Juni 1983 wurde von der Beklagten dagegen die Nachentrichtung von Beiträgen für die Zeit vom 1. Januar 1956 bis 31. Dezember 1973 nach Art 16 Nr 1 DA/DASVA iVm Art 2 § 49a Abs 2 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) zugelassen; die Konkretisierung der Beiträge ist bis zum Abschluß des Rechtsbehelfsverfahrens ausgesetzt.
Im Widerspruchsverfahren legte der Kläger zum Beweis seiner Zugehörigkeit zum dSK eidesstattliche Versicherungen seines Schulfreundes N. … U. … und seines Arbeitskollegen E. … M. … vom 2. Dezember 1983 vor. Die Beklagte erließ den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 1984, weil sie auch im Hinblick auf die vorgelegten Erklärungen die Zugehörigkeit des Klägers zum dSK nicht als glaubhaft gemacht ansah.
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Klage mit Urteil vom 5. September 1986 abgewiesen. In diesem Verfahren hatte der Kläger zum Beweis seiner Zugehörigkeit zum dSK die Zeugen R. G. … und E. S. … benannt und Erklärungen seiner Schwester Frau K. … W. … vom 22. Oktober 1985, des Schulfreundes G. … V. … vom 20. Oktober 1985 sowie des vormaligen Arbeitgebers in Salzburg, Herrn A. … S. …, vom 13. November 1985 vorgelegt.
Im Berufungsverfahren hat der Kläger nochmals alle erwähnten Personen als Zeugen zum Beweis dafür angeboten, daß er aus einer deutschsprachigen Familie stamme und Deutsch stets im persönlichen Bereich auch seine Umgangssprache gewesen sei (Schriftsatz vom 12. Februar 1987). Nachdem er mit Schreiben des Berichterstatters vom 5. März 1987 aufgefordert worden war, „die Behauptungen anzugeben, zu denen die Zeugen jeweils gehört werden sollten”, hat er eidesstattliche Erklärungen seines Freundes E. S. … vom 10. Februar 1987 und seines Freundes G. … V. … vom 26. Februar 1987 sowie eine weitere des Herrn A. … S. … vom 13. März 1987 vorgelegt. Mit Schreiben vom 21. September 1987 hat er abermals darauf hingewiesen, daß die benannten Zeugen bekunden werden, für ihn sei von Jugend an in seinem persönlichen Bereich stets die deutsche Mutter- und Umgangssprache maßgebend gewesen.
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat die Berufung mit Urteil vom 22. September 1987 zurückgewiesen: Die Zugehörigkeit des Klägers zum dSK, die für alle erhobenen Ansprüche entscheidungserheblich sei, sei nicht glaubhaft gemacht. Es könne nicht davon ausgegangen werden, daß der Kläger bis zur Verfolgung, bzw bis zu seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft im persönlichen Bereich überwiegend die deutsche Sprache verwendet habe. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberlandesgerichts (OLG) Koblenz im Urteil vom 26. November 1975 (RzW 1976, 57, 58) sei die Zugehörigkeit der Budapester Juden zum dSK äußerst unwahrscheinlich und allenfalls in der gehobenen Schicht anzutreffen gewesen, der weder der Kläger noch dessen Familie angehört hätten. Die Eltern des Klägers stammten nicht aus Budapest. Wenn im Schreiben des Generalkonsulats vom 24. Februar 1983 über das Ergebnis des Sprachtests abschließend erwähnt sei, die vorhandenen Kenntnisse ließen noch erkennen, daß Deutsch früher einmal vorrangig benutzt worden sei, könne sich diese Feststellung genauso auf Jiddisch beziehen, das von den ungarischen Juden der deutschen Sprache gleichgesetzt worden sei und wahrscheinlich auch heute noch werde. Gerade im Hinblick auf die von der Beklagten zitierte Entscheidung des OLG Koblenz hätte der Kläger vortragen und unter Beweis stellen müssen, daß er und seine Eltern zur gehobenen Schicht des Budapester Judentums gehörten, zumindest aber, daß die behauptete Deutschsprachigkeit sich nicht vom Jiddischen herleite und die Verfasser der vorgelegten Erklärungen mit Deutsch nicht Jiddisch meinten. Er hätte, bezogen auf die einzelnen Zeugen, konkrete Beweisthemen benennen müssen. Er habe deshalb keine ordnungsgemäßen, sachdienlichen Beweisanträge gestellt, weshalb der Senat nicht gehalten sei, eine Beweisaufnahme durchzuführen.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger zunächst die Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes, § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Ohne hinreichende Begründung sei das LSG ordnungsgemäß gestellten Beweisanträgen nicht gefolgt. Weiter rügt er die Verletzung des rechtlichen Gehörs (§§ 62, 128 Abs 2 SGG), da die Entscheidung des OLG Koblenz nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt worden sei. Das LSG habe ihn vor Erlaß des Urteils nicht darauf hingewiesen, daß es die Grundsätze der Entscheidung des OLG in ihrer Gesamtheit zu übernehmen gedenke. Er habe nicht damit rechnen können, daß das LSG überraschend Erkenntnisse aus einem Entschädigungsverfahren nach dem BEG zu seinen Ungunsten verwenden würde, zumal nur die Beklagte das Urteil des OLG Koblenz in einem Schriftsatz erwähnt habe, ohne daß erkennbar gewesen sei, daß die Beklagte die vom OLG Koblenz entwickelten Grundsätze überhaupt teile. Der Kläger rügt schließlich, das LSG überbewerte den schriftlichen Teil der Sprachprüfung und lasse den mündlichen Teil außer Acht. Die Verwendung der ungarischen Sprache in der Schule und im Berufsleben lasse nicht den Schluß zu, daß er im entscheidenden persönlichen Bereich nicht Deutsch gesprochen habe.
Der Kläger beantragt,
auf die Revision das Berufungsurteil des 2. Senats des LSG Berlin vom 22. September 1987 aufzuheben und unter Abänderung des Urteils der 10. Kammer des SG Berlin vom 5. September 1986 die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger Altersruhegeld ab 1. Dezember 1980 auf der Grundlage des ungarischen Beitragskontos vom August 1933 bis März 1942 und vom September 1946 bis Januar 1947 (richtig: 1949) nebst verfolgungsbedingten Ersatzzeiten und Vertriebenen-Ersatzzeiten bei Zahlung überwiegender deutscher Beiträge von mehr als 60 Monaten zu verurteilen und die Nachentrichtung von Beiträgen gemäß den §§ 9, 10 WGSVG iVm Art 16 DV/DASVA und Art 7c SP/DASVA zuzulassen;
hilfsweise,
unter Aufhebung des Urteils des 2. Senats des LSG Berlin vom 22. September 1987 den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Berlin zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die vom Kläger gerügten Verfahrensmängel nicht für gegeben. Zudem weist sie darauf hin, daß auch nach der Neufassung des § 20 WGSVG die Zugehörigkeit zum dSK zum Zeitpunkt des Verfolgungsbeginns zumindest glaubhaft gemacht werden müsse, was nach den bindenden Feststellungen des LSG nicht der Fall sei.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat hat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 SGG).
Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß ARG nach § 25 Abs 5 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG), der nach § 300 Abs 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) weiterhin anwendbar ist, unter Berücksichtigung von Ersatzzeiten und evtl nachzuentrichtenden Beiträgen gemäß Art 16 Nr 2 DV/DASVA nach Maßgabe der §§ 9 Satz 1, 10 Abs 1 Satz 1, 10a WGSVG nur dann gewährt werden kann, wenn die zur ungarischen Rentenversicherung vom August 1933 bis März 1942 und vom September 1946 bis Januar 1949 nachweisbar geleisteten Beiträge nach § 15 Abs 1 FRG den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichgestellt werden. Nur damit wird die nach § 25 Abs 7 Satz 3 AVG erforderliche Wartezeit für das ARG von 60 Kalendermonaten erreicht.
Nach der bis 30. Juni 1990 geltenden Rechtslage war die unmittelbare Anwendung des FRG zwar nicht nach dessen § 1 Buchst a möglich, weil der Kläger kein anerkannter Vertriebener iS des § 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) ist. Nach § 20 Abs 1 und 2 WGSVG idF des Art 21 Nr 4 Rentenreformgesetz (RRG) 1992 vom 18. Dezember 1989 (BGBl I S 2261), die rückwirkend ab 1. Februar 1971 gilt (vgl Abs 3 Satz 1), stehen jedoch bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen vertriebene Verfolgte gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Der Kläger ist nach den insoweit bindenden Feststellungen des LSG anerkannter Verfolgter. Er könnte nach § 1 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 BVFG auch Vertriebener sein, denn er hat nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen vor dem 1. Juli 1990 Ungarn verlassen. Das weitere Erfordernis hierfür, die deutsche Volkszugehörigkeit, die in § 6 BVFG definiert ist, wird durch die Verweisung des § 20 Abs 1 Satz 2 WGSVG auf § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2 WGSVG ersetzt. Danach genügt es, soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, daß Verfolgte im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört haben. Eine verfolgungsbedingte Abwendung vor diesem Zeitpunkt ist jedoch unschädlich, da vom betroffenen Personenkreis ein Festhalten bzw ein Wiederzuwenden zum deutschen Volkstum nicht verlangt werden kann. Ausreichend ist in diesen Fällen, wenn die Zugehörigkeit zum dSK bis zum Beginn der individuellen oder allgemeinen Verfolgung bestanden hatte (BSG SozR 3-5070 § 20 Nrn 1 und 2; Urteile des Senats vom 28. Juni 1990 – 4 RA 40/88; vom 26. September 1991 – 4 RA 89/90, zur Veröffentlichung vorgesehen; vom 19. Dezember 1991 – 4/1 RA 41/90; SozR 5070 § 20 Nrn 2, 9; vgl auch § 20 Abs 2 Satz 3 WGSVG). Zudem ist zu beachten, daß der Verlust der Zugehörigkeit zum dSK nicht gleichzeitig mit der Abkehr vom dSK erfolgt. Vielmehr bleibt für eine Übergangszeit, die mit der Ausreise des Klägers aus Ungarn im Februar 1949 noch keinesfalls abgelaufen war, nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats die Zugehörigkeit zum dSK erhalten (BSG SozR 5070 § 20 Nr 13; BSG SozR 3-5070 § 20 Nrn 1, 2 mwN). Nach § 20 Abs 2 Satz 1 WGSVG wird vermutet, daß die Zugehörigkeit zum dSK eine wesentliche Ursache für das Verlassen des Vertreibungsgebietes ist.
Unabhängig von § 20 WGSVG kann sich für den Zeitraum ab 1. Juli 1990 ein unmittelbarer Anspruch auf Anrechnung von Versicherungszeiten nach § 15 FRG aus § 17a FRG (eingefügt mit Wirkung ab 1. Juli 1990 durch Art 15 RRG 1992 vom 18. Dezember 1989 ≪BGBl I S 2261≫ idF durch das Rentenüberleitungsgesetz ≪RÜG≫ vom 25. Juli 1991 ≪BGBl I S 1606≫) ergeben. Begünstigt sind Personen, die ein Vertreibungsgebiet iS von § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG verlassen haben und die bis zu dem Zeitpunkt, in dem der nationalsozialistische Einflußbereich sich auf ihr jeweiliges Heimatgebiet erstreckt hat, 1. dem deutschen Sprach-und Kulturkreis angehört haben, 2. das 16. Lebensjahr bereits vollendet hatten oder im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben und 3. sich wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum nicht zum deutschen Volkstum bekannt hatten. Der Kläger hatte eines der genannten Vertreibungsgebiete verlassen und hatte in den Jahren 1940/1941 bereits das 16. Lebensjahr vollendet. Auch die weitere Voraussetzung, daß er sich „wegen seiner Zugehörigkeit zum Judentum nicht zum deutschen Volkstum bekannt hatte” ist erfüllt, denn damit wird die Gleichstellung der deutschen Juden mit den deutschstämmigen Aussiedlern bezweckt (so BT-Drucks 11/5530 S 29), so daß es – entgegen dem mißverständlichen Wortlaut – ausreicht, daß der Anspruchsteller im maßgeblichen Zeitraum der Ausdehnung des nationalsozialistischen Einflußbereichs „dem Judentum zugehörig”, also Jude im Sinne der NS-Ideologie war (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 19. Dezember 1991 – 4/1 RA 41/90 –). Entscheidungserheblich bei der Anwendung der Vorschrift des § 17a FRG ist deshalb auch hier, ob der Kläger zu Beginn der Verfolgungsmaßnahmen dem dSK angehört hatte.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ergibt sich die Zugehörigkeit zum dSK „im Regelfall” durch den Gebrauch des Deutschen als Muttersprache im Bereich des persönlichen Lebens, der in erster Linie die Sphäre von Ehe und Familie, dann aber auch den Freundeskreis umfaßt. Eine Mehrsprachigkeit steht der Zugehörigkeit zum dSK dann nicht entgegen, wenn die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und im persönlichen Bereich überwiegend gebraucht wird (stellv. BSG SozR 5070 § 20 Nrn 2, 3, 4, 5, 13; BSG SozR 3-5070 § 20 Nr 2).
Die tatsächlichen Feststellungen des LSG zur Zugehörigkeit des Klägers zum dSK sind verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Insoweit hat der Kläger zulässige und begründete Revisionsgründe vorgetragen. Eine Bindung an diese Feststellungen besteht deshalb nach § 163 Halbs 2 SGG nicht. Eine Sachentscheidung nach § 170 Abs 2 Satz 1 SGG ist dem Senat verwehrt.
Die zulässig vorgetragene Rüge des Klägers, das LSG habe gegen seine Verpflichtung, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 Satz 1 SGG) verstoßen, ist begründet. Auszugehen ist dabei von der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG. Dieses hat seiner Entscheidung hinsichtlich des Begriffs der Zugehörigkeit zum dSK keine von den oben genannten Grundsätzen abweichenden Kriterien zugrunde gelegt und – jedenfalls alternativ – hinsichtlich des Zeitpunkts der Zugehörigkeit zum dSK ebenfalls auf den Beginn der Verfolgungsmaßnahmen abgestellt. Es liegt eine Verletzung des § 103 SGG vor, weil das LSG ordnungsgemäß gestellten und nach seiner Rechtsauffassung entscheidungs- und beweiserheblichen Beweisanträgen ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist: Für die Zugehörigkeit des Klägers zum dSK – und hier vor allem zur Verwendung der deutschen Sprache im familiären Bereich sowie im privaten Umgang – sind mit Beweisantrag aus dem Schriftsatz vom 12. Februar 1987, der mit Schriftsatz vom 21. September 1987 wiederholt wurde, die Zeugen N. … U. …, E. … M. – …, R. G. …, E. S. …, A. … S. …, G. … V. … und K. … W. … benannt worden. Dieser Antrag genügt sogar den Erfordernissen eines Beweisantrages im Sinne der Zivilprozeßordnung (ZPO) (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG, §§ 373 ff ZPO). Von allen benannten Zeugen liegen die ladungsfähigen Anschriften vor. Es sind auch schriftliche Erklärungen und eidesstattliche Versicherungen zu den Akten gegeben worden, aus denen ersichtlich ist, daß es sich um Zeugen handelt, die aus dem eigenen, engen Umgang mit dem Kläger verläßliche Angaben zum deutschen Sprachgebrauch im familiären und privaten Bereich machen können. Es sind dies vor allem die Schwester des Klägers und Freunde des Klägers, die ihn seit der Kindheit und der Schulzeit begleiteten und engen Kontakt zur Familie des Klägers gepflegt haben. Das Schreiben des Berichterstatters des LSG vom 5. März 1987 verkennt, daß die Tatsachenbehauptung des Klägers, nämlich die Verwendung des Deutschen in den erwähnten Bereichen, bereits schriftlich aufgestellt wurde und die Aussagefähigkeit der Zeugen zum Beweisthema nicht in Frage gestellt ist. Selbst wenn – mit dem LSG die tatsächlichen, aber generellen Feststellungen aus dem Urteil des OLG Koblenz vom 26. November 1975 (RzW 1976, 57, 58) zugrunde gelegt werden (wogegen erhebliche Bedenken bestehen: vgl Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫ NJW 1983, 103, 106), ist vom Kläger in seinem Beweisantrag das Beweisthema ausreichend gekennzeichnet worden. Im Gegenteil, gerade wenn der Gebrauch der deutschen Sprache unter den Juden in Budapest sehr selten war, könnte die generelle – tatsächliche – Vermutung nur durch die Vernehmung von Zeugen aus der Familie und dem Freundeskreis widerlegt werden. Im übrigen ist ein Beweisantrag nicht allein deshalb unzulässig und damit unbeachtlich, weil die Möglichkeit besteht, daß die Zeugen das Jiddische mit dem Deutschen verwechseln. Durch entsprechende Formulierung der Beweisfragen ist diesem Zweifel vielmehr im Rahmen der Amtsermittlung durch das LSG nachzugehen. Entscheidend ist allein, daß sich der Beweisantrag des Klägers auf den Gebrauch des Deutschen bezieht.
Begründet ist auch die zulässige Rüge des Klägers, das LSG habe sein prozessuales Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 Grundgesetz ≪GG≫) verletzt, indem es die tatsächlichen Feststellungen des OLG Koblenz aus dem Urteil vom 26. November 1975 seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, ohne daß er sich dazu – entgegen § 128 Abs 2 SGG – äußern konnte. Das Gericht ist verpflichtet, rechtliches Gehör zu allen Tatsachen zu gewähren, die es für seine Entscheidung tragend zu verwerten gedenkt, die der Kläger aber nicht kennt und die auch nicht allgemeinkundig sind. Daß die Beklagte mit Schriftsatz vom 29. August 1985 im erstinstanzlichen Verfahren auf das Urteil des OLG Koblenz hingewiesen hatte, besagt noch nicht, daß das LSG die tatsächlichen Feststellungen dieses Urteils auch übernimmt und vor allem daran die Darlegungs-und Mitwirkungspflichten des Klägers mißt. Damit konnte der Kläger nicht rechnen, zumal auch das SG sein Urteil nicht auf die tatsächlichen Feststellungen des OLG Koblenz gestützt hatte.
Bei der abschließenden Beweiswürdigung wird sich das LSG auch mit den Bedenken des Klägers auseinandersetzen müssen, die dieser gegen die bisherige Bewertung des schriftlichen und mündlichen Teils der Sprachprüfung vom 15. Februar 1983 vorgetragen hat. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl BSG SozR 5070 § 20 Nr 4) darf der schriftliche Teil einer Sprachprüfung nicht überbewertet werden. Hierfür ist bedeutsam, daß der Kläger nur ungarische Schulen besucht und im Berufsleben nur ungarisch und englisch gesprochen hatte. Auch die vom LSG ohne nähere Anhaltspunkte hierfür als möglich erachtete Verwechselung des Jiddischen mit dem Deutschen anläßlich der Sprachprüfung am 15. Februar 1983 durch den sachverständigen deutschen Sprachprüfer des deutschen Generalkonsulats kann bei der Beweiswürdigung erst dann zum Nachteil des Klägers gereichen, wenn sie erwiesen ist und alle sonstigen Aufklärungsmöglichkeiten, ggf mit Hilfe eines weiteren Sachverständigen, ausgeschöpft sind.
Da die Sache somit nicht spruchreif ist und der Senat selbst keine Beweise erheben darf, ist der Rechtsstreit an das LSG nach § 170 Abs 2 SGG zurückzuverweisen. Im abschließenden Urteil wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen