Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 24.04.1990) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. April 1990 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin hat den Beruf einer Groß- und Außenhandelskauffrau erlernt und ausgeübt. Wegen der Geburt ihres ersten Kindes erhielt sie ab Juli 1982 Leistungen nach dem Mutterschutzgesetz (MuSchG). Am 9. Februar 1983 meldete sie sich arbeitslos und erklärte sich wegen der Betreuung ihres Kindes nur zu einer Teilzeitbeschäftigung mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden bereit. Das Arbeitsamt konnte ihr eine entsprechende Stelle nicht vermitteln. Die Klägerin erhielt daraufhin Arbeitslosengeld (Alg) aus einem Anspruch von 312 Tagen. Vor der Erschöpfung dieses Anspruchs bezog sie anläßlich der Geburt ihres zweiten Kindes wiederum Leistungen nach dem MuSchG. Auf ihre Arbeitslosmeldung am 1. August 1984, mit der sie sich erneut für eine wöchentliche Arbeitszeit von 20 Stunden zur Verfügung stellte, bewilligte die Beklagte Alg für die restliche Anspruchsdauer von 43 Tagen. Anschluß-Arbeitslosenhilfe (Anschluß-Alhi) bezog die Klägerin nicht.
Im Januar 1988 beantragte die Klägerin die Förderung ihrer Teilnahme an einer beruflichen Fortbildungsmaßnahme zur EDV-Sachbearbeiterin, die als einjähriger Vollzeitlehrgang durchgeführt wurde. Mit den angefochtenen Bescheiden lehnte die Beklagte die Gewährung von Unterhaltsgeld (Uhg) ab, weil die Klägerin nicht innerhalb der letzten drei Jahre vor Beginn der Maßnahme mindestens zwei Jahre lang eine die Beitragspflicht begründende Beschäftigung ausgeübt oder Alg aufgrund eines Anspruchs von einer Dauer von mindestens 156 Tagen oder im Anschluß daran Alhi bezogen habe. Eine Verlängerung der Rahmenfrist wegen Kindererziehung komme nicht in Betracht, weil die Klägerin nicht wegen der Kindererziehung, sondern wegen der Arbeitsmarktlage an einer Erwerbstätigkeit gehindert gewesen sei. Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte zur Gewährung von Uhg verurteilt (Urteil vom 9. Februar 1989). Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos (Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 24. April 1990). Zur Begründung hat das Berufungsgericht ausgeführt, daß sich die dreijährige Rahmenfrist nach § 46 Abs 1 Satz 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) gemäß Satz 3 Nr 1 dieser Vorschrift verlängert habe, weil die Klägerin wegen der Betreuung und Erziehung von Kindern keine Erwerbstätigkeit ausgeübt habe. Die Vorschrift verlange entgegen der Meinung der Beklagten nicht, daß die Betreuung und Erziehung von Kindern der alleinige Grund für die Nichtausübung der Erwerbstätigkeit sei. Es reiche aus, daß sie wesentliche Mitursache sei, wenn der Arbeitsmarkt für die noch mögliche Teilzeitbeschäftigung nicht genügend Arbeitsplätze aufzuweisen habe.
Dagegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beklagten. Sie rügt eine Verletzung des § 46 Abs 1 Satz 3 Nr 1 AFG: Schon aus dem Wortlaut dieser Vorschrift im Vergleich zu § 46 Abs 1 Satz 2 AFG ergebe sich, daß Betreuung und Erziehung von Kindern nicht nur mitbestimmend für die Nichtausübung einer Erwerbstätigkeit, sondern allein ursächlich dafür gewesen sein müßten, um die Rahmenfrist zu verlängern. Während Abs 1 Satz 2 dieser Vorschrift sich mit einer „überwiegend” wegen der Betreuung und Erziehung eines Kindes nicht ausgeübten Erwerbstätigkeit begnüge, enthalte Satz 3 Nr 1 diese Erleichterung nicht. Auch vom Sinn der Regelung her sei es nicht gerechtfertigt, jemandem, der sich der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stelle und möglicherweise Leistungen der Arbeitslosenversicherung beziehe, diese Zeiten als Kinderbetreuungszeiten anzuerkennen. Bei der Klägerin habe es sich um Zeiten der Arbeitslosigkeit gehandelt, und solche seien durch § 46 Abs 1 Satz 1 zweite Alternative AFG abschließend berücksichtigt worden. Die Berücksichtigung von Kinderbetreuungszeiten und Zeiten der Arbeitslosigkeit nebeneinander widerspräche dem Versicherungsprinzip und führe zu systemwidrigen Doppelleistungen. Außerdem lasse sich bei einer Einschränkung der Verfügbarkeit auf eine Teilzeitbeschäftigung häufig nicht feststellen, inwieweit die Betreuung und Erziehung von Kindern dafür ursächlich seien.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Sie muß die einjährige Fortbildung der Klägerin im Jahre 1988 fördern, obwohl diese seit mehr als drei Jahren keine Beiträge mehr gezahlt und auch keine Leistungen in Form von Alg oder Anschluß-Alhi bezogen hatte.
Der Förderungsanspruch, dessen Voraussetzungen im übrigen auch nach Auffassung der Beklagten vorliegen, hängt nur davon ab, ob die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erhalten geblieben sind, obwohl die Klägerin in der Zeit zwischen 1982 und 1988 nicht beitragspflichtig beschäftigt war. Die Vorinstanzen haben dies unter Hinweis auf § 46 Abs 1 Satz 3 Nr 1 AFG (idF durch das Siebte AFG-Änderungsgesetz vom 20. Dezember 1985 – BGBl I 2484 –) mit Recht bejaht, denn die Klägerin hat in dieser Zeit wegen der Betreuung und Erziehung ihrer beiden Kinder keine Erwerbstätigkeit ausgeübt, ihre Bereitschaft, eine Halbtagsbeschäftigung anzunehmen, steht dem nicht entgegen.
Nach § 46 Abs 1 Satz 3 Nr 1 AFG verlängert sich die dreijährige Rahmenfrist, innerhalb der zwei Jahre lang eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt oder Alg nach einer Anspruchsdauer von mindestens 156 Tagen oder Anschluß-Alhi bezogen worden sein muß, „um höchstens fünf Jahre für jedes Kind, soweit wegen der Betreuung und Erziehung keine Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde”. Im vorliegenden Fall ist festgestellt, daß die Klägerin, die zuvor mindestens zwei Jahre lang beitragspflichtig beschäftigt gewesen ist, in den Jahren von 1982 bis 1988 ihre beiden Kinder betreut und erzogen hat. Ferner ist festgestellt, daß sie in dieser Zeit keine Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, weil sie wegen der Kindererziehung nur zu einer Teilzeitbeschäftigung bereit war, die ihr wegen der Arbeitsmarktlage nicht vermittelt werden konnte. Das LSG hat die Feststellung eines Ursachenzusammenhangs zwischen Kindererziehung und Nichtausübung einer Erwerbstätigkeit grundsätzlich für erforderlich gehalten, einen mittelbaren Zusammenhang wie hier aber als ausreichend angesehen. Solche Feststellungen über die Gründe der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit – hier die Kindererziehung und die Arbeitsmarktlage -sind aber im allgemeinen entbehrlich und im vorliegenden Fall nicht entscheidend.
Der Wortlaut des § 46 Abs 1 Satz 3 Nr 1 AFG „wegen”) scheint zwar darauf hinzudeuten, daß das zeitliche Zusammentreffen von Kinderversorgung und Erwerbslosigkeit allein nicht ausreicht. Es kann aber schon bezweifelt werden, ob dieser Fassung des Gesetzes noch Bedeutung zukommt, nachdem der Gesetzgeber durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 ≪HBegleitG≫ (BGBl I 1983, 1532) mit § 1246 Abs 2 a Satz 2 Nr 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) eine in ihrem Zweck vergleichbare Vorschrift eingeführt hat, durch die Zeiten der Kindererziehung ohne weitere Einschränkung die Frist zur Erfüllung der Voraussetzungen für eine Berufsunfähigkeitsrente verlängern. Weiterhin hat sich der Gesetzgeber 1985 dafür entschieden, in der Rentenversicherung Erziehungszeiten als Versicherungszeiten ohne Rücksicht darauf anzurechnen, ob der in Betracht kommende Elternteil gerade wegen der Kindererziehung von einer Erwerbstätigkeit Abstand genommen hat oder ob andere Umstände für diesen Entschluß maßgebend waren (§ 1227a RVO, eingefügt durch das HEZG vom 11. Juli 1985 – BGBl I 1450 –). Jedenfalls rechtfertigt der Wortlaut des § 46 Abs 1 Satz 3 Nr 1 AFG allein nicht die Annahme, es müsse in jedem Einzelfall festgestellt werden, ob und inwiefern die Kinderversorgung dafür verantwortlich ist, daß die Betreuungsperson nicht im Arbeitsleben steht. Insbesondere erscheint es fernliegend, daß der Gesetzgeber die Verwaltung beauftragen wollte, unter Zugrundelegung juristischer Kausalitätstheorien die vielfältigen und sich oft wieder ändernden Gründe zu ermitteln und zu gewichten, die neben der Kinderversorgung dazu beigetragen haben können, daß die Betreuungsperson nicht erwerbstätig war (vgl zur Bedeutung des Motivs beim vorzeitigen Ausscheiden Schwerbeschädigter aus dem Erwerbsleben, BSG SozR 3642 § 8 Nr 7).
Eine solche Annahme läßt sich auch nicht aus der Gegenüberstellung der umstrittenen Vorschrift mit dem voranstehenden Satz 2 herleiten. Nach dieser später eingeführten Bestimmung gilt überhaupt keine Frist für Antragsteller, die zur Sicherung des Lebensunterhalts zur Aufnahme einer Beschäftigung gezwungen sind und die „überwiegend” wegen der Betreuung und Erziehung eines Kindes keine Erwerbstätigkeit ausgeübt haben. Der Gesetzgeber hat das Wort „überwiegend” nicht im Hinblick auf die Motivation, sondern allein im zeitlichen Sinne verstanden, wie sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift, die erst während des Gesetzgebungsverfahrens eingeführt worden ist, ergibt (vgl Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ≪BT-Drucks 10/4451 und 10/4483 zu Art 2 Nr 7≫). Es sollten damit nur die bisherigen engen zeitlichen Grenzen zur Wahrung der Anwartschaft für diese besonders auf berufliche Fortbildung angewiesene Personengruppe beseitigt werden. Selbst die Beklagte hat das Tatbestandsmerkmal „überwiegend” bisher nur im zeitlichen Sinne verstanden (vgl Runderlaß der BA vom 20. Dezember 1975 – DBl 207/85 – zu Abs 1 Satz 2; ebenso Hoppe/Berlinger, Förderung der beruflichen Bildung, Stand: Januar 1990, § 46 Anm 4.1). Auch diese Norm erfordert daher nicht, die Motivlage zu erforschen und die Kindererziehung mit den sonstigen Gründen für die Nichtausübung einer Erwerbstätigkeit abzuwägen.
Die Fristverlängerung nach § 46 Abs 1 Satz 3 Nr 1 AFG ist eine „flankierende” Maßnahme zum Schutz derjenigen, die sich der Kindererziehung widmen und aus eben diesem Grunde keine Erwerbstätigkeit ausüben. Sie sollen den durch Beitragszahlung erworbenen Anspruch auf berufliche Bildung nicht durch die Kinderversorgung verlieren, zumal nach der Unterbrechung zur Wiedereingliederung in das Arbeitsleben berufliche Bildungsmaßnahmen häufig notwendig sind. Dieses Bedürfnis nach beruflicher Wiedereingliederung besteht aber unabhängig davon, aus welchen Gründen im einzelnen sich Mütter oder Väter anstelle der Erwerbstätigkeit für die Kindererziehung entschieden haben. Auch der Wert der Erziehungsarbeit hängt davon nicht ab. Es gibt deshalb keinen Grund, die Versicherten zu verpflichten, nicht nur die Kinderbetreuung und die fehlende Erwerbstätigkeit zu beweisen, sondern auch noch den Beweis zu erbringen, daß die Kindesversorgung der wesentliche Grund oder – wie die Beklagte meint – der einzige Grund für die Nichterwerbstätigkeit war. Kinder erziehende Versicherte sollen nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers vielmehr ihre Lebensplanung in Ruhe darauf einstellen können, daß sie ihre versicherungsrechtlichen Anwartschaften auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit, aber auch auf berufliche Förderung erhalten. Die Fristverlängerung wird auch nicht dadurch hinfällig, daß sich die erziehenden Mütter oder Väter daneben auch noch anderen familiären Aufgaben widmen.
Tatsächlich verlangt die Beklagte im Normalfall auch zu Recht nicht einen solchen Nachweis. Sie unterstellt bei gleichzeitiger Kinderversorgung und Nichterwerbstätigkeit, daß die Kinderversorgung und nicht andere, persönliche, familiäre oder wirtschaftliche Gründe für die Nichterwerbstätigkeit den Ausschlag gegeben haben. Die Beklagte meint nur, daß derjenige, der sich beim Arbeitsamt arbeitsuchend meldet, zum Ausdruck bringe, daß er sich nicht mehr durch die Kinderversorgung von einer Erwerbstätigkeit abhalten läßt, so daß die gebotene Ursächlichkeit nicht mehr unterstellt werden könne.
Es ist schon zweifelhaft, ob die tatsächlich geleistete Kindererziehung dann unbeachtlich wäre, wenn feststünde, daß sie für die Arbeitslosigkeit überhaupt nicht ursächlich geworden ist, weil sie der Erwerbstätigkeit nicht im Wege gestanden hat. Diese Feststellung läßt sich jedenfalls nicht schon dann treffen, wenn eine Person, die nach wie vor ihre Kinder versorgt, sich bereiterklärt, eine Beschäftigung aufzunehmen, und sich beim Arbeitsamt arbeitsuchend meldet. Entgegen der Meinung der Beklagten ist daraus allein nicht zu folgern, daß die Kinderbetreuung für diese Person von diesem Zeitpunkt an keine die Erwerbstätigkeit hindernde Wirkung mehr habe.
Die Stellungnahme der Beklagten läßt vermuten, daß sie von der Rechtslage ausgeht, die zu beachten ist, wenn eine Versicherte Alg oder Alhi beantragt, obwohl sie durch andere Verpflichtungen an einer sofortigen Arbeitsaufnahme gehindert ist. Anspruch auf diese Leistungen besteht nur, wenn die Versicherte „durch nichts gehindert” ist, ohne Verzug eine nach § 103 AFG zumutbare Beschäftigung aufzunehmen (BSGE 62, 166, 170). Auch die Verpflichtung zur Kinderversorgung kann ein Hinderungsgrund sein (vgl dazu aber Urteil des 11. Senats vom 25. April 1991 – 11 RAr 9/90 –, zur Veröffentlichung bestimmt). Ein solcher Schluß ist aber dann nicht gerechtfertigt, wenn sich jemand, ohne Leistungsansprüche zu stellen, arbeitsuchend meldet. Er kann mit der Beseitigung der Hinderungsgründe warten, bis eine passende Arbeitstelle angeboten wird; solange ist er „wegen” der Kinderversorgung nicht erwerbstätig. Die Gefahr von Doppelleistungen ist damit nicht verbunden. Die „Anerkennung” von Kindererziehungszeiten bedeutet selbst keine Leistung, sondern besagt nur, daß damit die Anwartschaft gewahrt bleibt, soweit sie von der Einhaltung bestimmter Fristen abhängt. Es gibt auch keinen Grund, Kindererziehungszeiten deshalb nicht als rahmenfristverlängernd anzuerkennen, weil sie mit Zeiten der Arbeitslosigkeit einhergehen. Zwar können Zeiten der Arbeitslosigkeit mit Leistungsbezug sogar Beitragszeiten ersetzen. Daraus folgt aber nicht, daß die Rechtsfolgen einer Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug in § 46 Abs 1 Satz 1 AFG erfaßt sind. Eine solche Auslegung des § 46 Abs 1 Satz 3 Nr 1 AFG hätte zur Folge, daß eine Arbeitsuche in der verlängerten Frist die weitere Fristwahrung ausschließt. Es kann aber nicht der Sinn der Vorschrift sein, die Begünstigten daran zu hindern, zunächst ohne kostspielige Förderungsmaßnahmen zu versuchen, eine passende Beschäftigung zu finden. Es ist im Gegenteil sinnvoll, daß die Begünstigten in dieser Zeit auch diese Möglichkeit wahrnehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
Haufe-Index 1175144 |
BSGE, 297 |