Bundestag beschließt Gesetz zur Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf
Konkret nahm das Plenum den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur weiteren Umsetzung der EU-Richtlinie 2019 / 1158 vom 20. Juni 2019 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige an.
Vereinbarkeit: Kein großer Wurf aus Berlin
Das Gesetz erschöpft sich in Formalien, die Chance auf einen großen Wurf wurde vertan. Der nationale Gesetzgeber hat die Aufforderung der EU, eine gerechtere Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern auch durch eine Veränderung hinderlicher Rahmenbedingungen anzustreben, gar nicht erst angenommen.
Das Thema ist vertrackt. Die EU-Vorgabe wird häufig als Work Life Balance-Richtlinie bezeichnet. Schon dieser Begriff ist irreführend. Es geht nicht darum, wieviel Zeit nach dem Büro noch für Freizeitaktivitäten, Urlaub und Müßiggang verbleibt. Es geht um etwas anderes, und zwar um zwei Dinge. Zum einen geht es um die Frage, in welchem Verhältnis die bezahlte Erwerbsarbeit zu der nicht bezahlten Erziehungs- und Pflegearbeit steht. Und es geht weiterhin um die Frage, wie die nicht bezahlte Erziehungs- und Pflegearbeit unter den Beteiligten, in der Regel Vater und Mutter, aufgeteilt werden soll. Diese Aspekte sind mit "Work Life Balance" nur sehr unzureichend beschrieben.
EU-Richtlinie sieht dringenden Handlungsbedarf
Die EU-Richtlinie aus dem Jahre 2019 hatte die Latte sehr hochgelegt. Danach soll die Politik im Bereich der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zur Förderung der Geschlechtergleichstellung beitragen, indem sie die Erwerbstätigkeit von Frauen und die gerechte Aufteilung von Betreuungs- und Pflegeaufgaben zwischen Männern und Frauen unterstützt und indem sie die Einkommens- und Entgeltschere zwischen den Geschlechtern schließt. So ist es nachzulesen im Erwägungsgrund (6) der EU-Richtlinie. Dabei betrachtet die Union ihr eigenes Wirken in diesem Themenkreis besonders kritisch, indem zutreffend festgestellt wird, dass der derzeitige Rechtsrahmen der Union Männern nur wenige Anreize bietet, um einen gleichwertigen Anteil an den Betreuungs- und Pflegeaufgaben zu übernehmen.
Und dann kommt es knallhart: Die Politik zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Frauen bezeihungsweise Männer ist so unausgewogen gestaltet, dass sie die Geschlechterstereotype und –unterschiede sowohl im Beruf als auch im Bereich von Betreuung und Pflege noch verstärkt.
Die Europäische Union sieht also Handlungsnotwendigkeiten sowohl am Arbeitsplatz als auch im familiären und gesellschaftlichen Bereich. Dementsprechend werden die Mitgliedsstaaten aufgefordert, bei der Umsetzung der Richtlinie zu berücksichtigen, dass die ausgewogene Inanspruchnahme von Urlaub aus familiären Gründen durch Männer und Frauen auch von anderen geeigneten Maßnahmen abhängt, wie etwa der Bereitstellung zugänglicher und erschwinglicher Kinderbetreuung und Langzeitpflege, die unabdingbar dafür ist, dass Eltern und pflegende Angehörige eine Beschäftigung aufnehmen oder sie weiterführen beziehungsweise erneut eine Beschäftigung aufnehmen können. Die Beseitigung wirtschaftlicher Negativanreize kann zudem Zweitverdiener, bei denen es sich zumeist um Frauen handelt, ermutigen, sich uneingeschränkt in den Arbeitsmarkt einzubringen.
Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Umsetzung wenig mutig
Das ist eine glasklare Analyse der gesellschaftlichen Situation und ein eindeutiger Auftrag an die Mitgliedsstaaten. Und das hat der deutsche Gesetzgeber im nunmehr verabschiedeten Gesetz aus diesen Vorgaben gemacht:
- Arbeitgeber, die dem Wunsch eines Elternteils nach Veränderungen der Arbeitszeit während der Elternzeit nicht entsprechen, haben ihre Entscheidung zu begründen.
- Arbeitgeber in Kleinbetrieben müssen den Antrag eines Beschäftigten auf Freistellung wegen Pflege oder Kindererziehung innerhalb von vier Wochen bescheiden und im Falle der Ablehnung diese begründen.
- Beschäftigte in Kleinbetrieben haben während einer vereinbarten Freistellung Kündigungsschutz.
- Für Beschäftigte in Kleinbetrieben, die mit ihrem Arbeitgeber eine Freistellung nach dem Pflegezeitgesetz vereinbaren, wird geregelt, dass sie die Freistellung vorzeitig beenden können, wenn die oder der nahe Angehörige nicht mehr pflegebedürftig oder die häusliche Pflege der oder des nahen Angehörigen unmöglich oder unzumutbar ist.
- Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes nach dem AGG wird für Fragen im Zusammenhang mit Diskriminierungen nach der Vereinbarkeitsrichtlinie zuständig.
Das wars! Mehr gibt es nicht. Ein großer Wurf sieht anders aus. Zwar ist zuzugeben, dass einige inhaltliche Vorgaben der Richtlinie bereits heute in Deutschland geltendes Recht sind. Aber man hätte die Richtlinie auch zum Anlass nehmen können, nein müssen, um die programmatischen Aussagen in Gesetze zu gießen. Vor allem wäre das ein Anlass gewesen, eine Diskussion über die Rollenverteilung anzustoßen und über die Regelungen, die heute noch eine gerechtere Verteilung der Erziehungs- und Pflegeaufgaben zwischen Vätern und Müttern behindern.
Viele Probleme bleiben ungelöst
So hapert es an der Bereitstellung zugänglicher Kinderbetreuung. Trotz Rechtsanspruch fehlen im kommenden Jahr nach einer Prognose der Bertelsmann Stiftung 384.000 Kita-Plätze. Und der Mangel in der Altenpflege ist für alle, die Augen haben, evident, ohne dass konkrete Zahlen vorliegen. Nachdem das Bundesarbeitsgericht in diesem Jahr dem osteuropäischen Überlassungsmodell in der Altenpflege durch die Zuerkennung eines 24/7-Mindestlohnanspruchs den finanziellen Boden entzogen hat, werden die Zustände noch schlimmer werden.
Und die von der EU in Erwägungsgrund (12) angesprochenen wirtschaftlichen Negativanreize provozieren die Frage, wie lange sich Deutschland noch als internationale Spezialität ein Ehegattensplitting erlauben will, das aus einem althergebrachten und nicht mehr zeitgemäßen Rollenverständnis entstammt.
Zur Auseinandersetzung mit den Geschlechterstereotypen gehört auch eine umfassende Diskussion über Vor- und Nachteile der Teilzeitarbeit. Dazu stellt die EU in Erwägungsgrund (35) fest, dass Teilzeitbeschäftigung für manche Frauen zwar nachweislich eine gute Lösung sei, um nach der Geburt eines Kindes oder trotz der Betreuung von pflege- oder unterstützungsbedürftigen Angehörigen weiter berufstätig zu bleiben; lange Erwerbsphasen mit verkürzten Arbeitszeiten könnten jedoch niedrigere Sozialbeiträge und in der Folge geringere oder gar keine Pensions- beziehungsweise Rentenansprüche nach sich ziehen. Und das ist noch nicht einmal die ganze Wahrheit. In den skandinavischen Ländern wird Teilzeitarbeit überwiegend kritisch bewertet, weil sie nachweislich dazu beiträgt, die tradierte Rollenverteilung zu perpetuieren.
Es fehlt ein Anstoß zu einer gesellschaftlichen Debatte
Die EU plädiert weiterhin für mehr Flexibilität in der Arbeitszeit- und Arbeitsortgestaltung und sieht hier in erster Linie Arbeitgeber und Arbeitnehmende und vor allem die Sozialpartner in der Pflicht. Dazu wäre es zwingend erforderlich, einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, mit dem die Gestaltungsspielräume auch bei der Arbeitszeiterfassung genutzt werden und den Akteuren ein rechtssicherer Rahmen bereitgestellt wird. Auch das ist überfällig, nachdem zuletzt die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts über die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für große Verunsicherung gesorgt hat. Und auch die von der EU selbst aufgestellten Formalien – Stichwort A1-Bescheinigung – sind der Arbeitsortsouveranität nicht gerade förderlich.
Mehr Fortschritt wagen! Das war der Anspruch dieser Bundesregierung. Jedenfalls bei diesem Gesetzesvorhaben ist davon nichts zu spüren. Es täte Not, eine gesellschaftliche Debatte anzustoßen, wie wir Stereotypen überwinden, eine gerechte Aufgabenverteilung erreichen können und unsere Gesellschaft zukunftsfähig weiterentwickeln. Das ist unser aller Verantwortung. Aber ein Anstoß des Gesetzgebers wäre notwendig. Hier hätte er gepasst. Chance vertan!
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