Entscheidungsstichwort (Thema)

Vergewaltigung. Gewalttat. Trauma, psychisches. seelische Krankheit. Kausalität. Wahrscheinlichkeit. Zusammenhang, zeitlicher. Beweislast

 

Leitsatz (amtlich)

  • Ein rechtlich maßgebender ursächlicher Zusammenhang zwischen einer bestimmten seelischen Krankheit und einem bestimmten seelisch schädigenden Vorgang kommt nur dann in Betracht, wenn nach allgemeinem medizinischen Erfahrungswissen die Krankheit nach einem Vorgang dieser Art gehäuft auftritt.
  • Ermittlungen zu einer solchen Häufung sind entbehrlich, soweit die durch das BMA herausgegebenen Anhaltspunkte den generellen Ursachenzusammenhang bejahen.
  • Im Einzelfall ist eine in den Anhaltspunkten aufgeführte seelische Krankheit wahrscheinliche Folge einer dort aufgeführten Extrembelastung (hier: Vergewaltigung), wenn die Krankheit in engem Anschluß an den belastenden Vorgang ausgebrochen ist. Bestehen zweifel, ob schon vorher Krankheitssymptome vorhanden waren oder ob andere Ursachen die Krankheit herbeigeführt haben, so geht das nicht zu Lasten des Opfers.
 

Normenkette

OEG § 1 Abs. 1; BEG § 15 Abs. 1, § 28 Abs. 2; SGG § 75 Abs. 2; ZPO § 295 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 21.08.1992; Aktenzeichen L 4 Vg 7/91)

SG Koblenz (Urteil vom 18.10.1991; Aktenzeichen S 8 Vg 1/89)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 21. August 1992 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin macht wegen der psychischen Folgen eines Vergewaltigungsversuchs Anspruch auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) geltend.

Am Abend des 30. Oktober 1984, als sie von ihrer Arbeit nach Hause zurückkehrte, trat der Klägerin ein Mann in den Weg, schlug ihr einen Stein gegen den Kopf und versuchte sie in ein Gebüsch zu zerren. Als sich ein Auto näherte, ließ der unbekannt gebliebene Täter von der begonnenen Vergewaltigung ab und flüchtete. Die Klägerin erstattete am selben Abend Anzeige und ließ sich ärztlich behandeln. Die ihr zugefügte äußere Verletzung besserte sich in den folgenden Monaten, psychische Störungen blieben dagegen bestehen.

Im Mai 1985 beantragte die Klägerin Versorgung als Gewaltopfer. Das beklagte Land erkannte als Schädigungsfolge ohne Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Grad lediglich eine “Narbe am linken Stirnhaaransatz” an. Veränderungen im psychisch-affektiven Bereich seien ebenso wenig Folge des Vergewaltigungsversuchs wie die vegetative Unausgeglichenheit der Klägerin (Bescheid vom 9. Januar 1987; Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 1989).

Das Sozialgericht (SG) hat ein psychiatrisches Gutachten mit psychologischem Zusatzgutachten eingeholt und den Beklagten verurteilt, als weitere Schädigungsfolgen “erlebnisreaktive länger andauernde Anpassungsstörung; depressives Syndrom mit vielfältigen organischen Störungen; neurotische Persönlichkeitsentwicklung” anzuerkennen und Rente nach einer MdE um 50 vH für die Zeit vom 30. Oktober 1984 bis zum 30. April 1988 und nach einer MdE um 25 vH ab 1. Mai 1988 zu gewähren (Urteil vom 18. Oktober 1991). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 21. August 1992). Für die genannten Gesundheitsstörungen seien die Folgen des Vergewaltigungsversuchs gleichwertige Mitursache neben einer bereits vor der Gewalttat bestehenden, von der Klägerin aber kompensierten neurotischen Störung.

Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung der §§ 1 Abs 1 Satz 1 OEG iVm 1 Abs 1 und Abs 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG), des Bestimmtheitsgebots, der §§ 128 Abs 1 Satz 1, 103, 117 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und des § 75 Abs 2 SGG. Unter Überschreitung seines Rechts zur freien richterlichen Beweiswürdigung und ohne den Sachverhalt hinreichend aufgeklärt zu haben sei das LSG abweichend von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu dem Ergebnis gekommen, daß die psychischen Gesundheitsstörungen der Klägerin durch die Gewalttat entstanden seien. Die Folgen der Gewalttat hätten eine vorbestehende psychische Krankheit aber nur vorübergehend und in nicht rentenberechtigendem Umfang verschlimmert. Das LSG habe außerdem unter Verstoß gegen § 75 Abs 2 SGG die als leistungspflichtig in Betracht kommende Berufsgenossenschaft nicht beigeladen.

Der Beklagte beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 21. August 1992 und des Sozialgerichts Koblenz vom 18. Oktober 1991 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 21. August 1992 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist nicht begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Versorgung, weil sie infolge des Vergewaltigungsversuchs psychisch krank ist.

Zu Recht haben das LSG und die Beteiligten in der versuchten Vergewaltigung einen vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG erkannt. Ohne Rechtsverstoß hat das LSG weiter festgestellt, daß die auf Dauer vorhandene psychische Krankheit der Klägerin durch die Gewalttat entstanden und mithin Schädigungsfolge ist. Die Revision der Versorgungsverwaltung ist zur zurückzuweisen. Die gegen die Ursächlichkeit gerichteten Angriffe des beklagten Landes haben keinen Erfolg. Das LSG hat weder den maßgebenden Ursachenbegriff noch den anzulegenden Beweismaßstab verkannt.

Die Zweifel, die der Beklagte aus der Kindheits- und Jugendentwicklung der Klägerin herleitet, bestätigen nur das auf allen Rechtsgebieten der Entschädigung bestehende allgemeine Problem, daß für Krankheiten – anders als für Verletzungen – kaum je überzeugend festgestellt werden kann, daß der nach den einschlägigen Gesetzen entschädigungspflichtige Vorgang die entscheidende medizinisch wirkende Ursache war. Veranlagung, Umwelteinflüsse, Lebensführung, andere Vorgänge im Lebenslauf der Geschädigten sind als mehr oder minder stark wirkende Mitursachen praktisch immer festzustellen, nicht aber sachgerecht zu gewichten. Das gilt besonders für seelische Krankheiten, die nicht auf Nervenverletzungen, sondern auf seelischen Einwirkungen beruhen. In solchen Fällen hat der Senat schon wiederholt darauf hingewiesen, daß medizinische Gutachten im Einzelfall regelmäßig nichts Überzeugendes zur Ursachenfrage aussagen können (SozR 3-3200 § 81 Nr 3; Urteil vom 23. Juni 1993 – 9/9a RV 26/90 – HV-Info 1993, 2320; SozR 3-3800 § 1 Nr 3). Die Unsicherheit in der Kausalitätsbeurteilung bei seelischen Krankheiten ist dem Senat von vielen Fällen bekannt, die auf den verschiedenen Gebieten der sozialen Entschädigung zu entscheiden waren. Die als Gutachter bestellten Psychiater und Psychologen äußerten sich zwar regelmäßig auftragsgemäß entschieden zur Kausalität. Daß diese Äußerungen aber nur Lehrmeinungen oder private Meinungen waren, zeigt sich daran, daß die Gutachter außerordentlich oft zu gegensätzlichen Ergebnissen kamen, die auch durch weitere Gutachten nicht miteinander in Einklang gebracht werden konnten. Wenn sich nach einem seelisch belastenden Vorgang ein Dauerleiden einstellt, läßt sich offenbar nicht überzeugend klären, ob und nach welchem psychischen Mechanismus dieser Vorgang das Dauerleiden herbeigeführt hat oder ob und in welchem Umfang schon eine Anlage von Krankheitswert vorhanden war. Das gilt auch für die Auswirkungen von Sexualdelikten. Da bei den Opfern solcher Straftaten nur selten seelische Dauerleiden auftreten, spricht einiges dafür, daß in diesen seltenen Fällen schon eine Veranlagung vorlag, die nur nicht deutlich zutage getreten war. Umgekehrt kann der Ausbruch eines seelischen Leidens gerade unmittelbar nach einer Sexualstraftat darauf hindeuten, daß die Straftat nicht nur der zufällige Auslöser, sondern die wesentliche Ursache des Leidens war. Vor dieser Unsicherheit hat das private Unfallversicherungsrecht kapituliert. Nach § 2 Abs IV der Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB 88) fallen nicht unter Versicherungsschutz “krankhafte Störungen infolge psychischer Reaktionen, gleichgültig, wodurch diese verursacht sind”.

Nicht kapitulieren kann das gesetzlich geregelte Schadensersatzrecht, insbesondere nicht das soziale Entschädigungsrecht. Von einem Ursachenzusammenhang zwischen einer bestimmten Belastung und einer bestimmten Krankheit kann aber auch auf diesem Rechtsgebiet nur dann gesprochen werden, wenn feststeht, daß Belastungen dieser Art allgemein geeignet sind, Krankheiten dieser Art hervorzurufen. Wird eine solche Meinung in der medizinischen Wissenschaft überhaupt nicht vertreten, ist der Anspruch ohne weitere Beweiserhebung abzulehnen (vgl BSG SozR 3-3200 § 81 Nr 6 – Selbsttötungsfall –; Urteil vom 23. Juni 1993 – 9/9a RV 26/90, aaO – Homosexuellenfall –). Wird eine solche Ansicht wenigstens von einer wissenschaftlichen Lehrmeinung vertreten, so herrscht in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit über die Ursache des Leidens. Dann kommt nur eine sogenannte “Kann-Versorgung” in Betracht (vgl BSG SozR 3-3200 § 81 Nr 9 – Offizierskasinofall –). Erst wenn die herrschende Lehrmeinung in der medizinischen Wissenschaft die Belastung allgemein für geeignet hält, bestimmte Krankheiten hervorzurufen, kann ein Ursachenzusammenhang im Einzelfall ernstlich in Betracht gezogen werden. Da man den tatsächlichen Wirkungszusammenhang zwischen Belastung und Krankheit im allgemeinen nicht kennt und andere Ursachen nie auszuschließen sind, ist die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs schon dann anzunehmen, wenn nach dem Erfahrungswissen der Ärzte die Gefahr des Ausbruchs der betreffenden Krankheit nach den betreffenden Belastungen deutlich erhöht ist. Wenn bei entschädigungspflichtigen Vorgängen bestimmter Art und bestimmten Ausmaßes für die davon Betroffenen die Gefahr bestimmter Erkrankungen gegenüber den nicht Betroffenen besonders deutlich erhöht wird, liegt auch schon die Wahrscheinlichkeit nahe, daß der im Einzelfall von der Gefahr betroffene Kranke dieser Gefahr tatsächlich erlegen ist. Wie groß die Gefahr sein muß und vor allem wie sie festzustellen ist, ist in den verschiedenen Entschädigungsrechtsgebieten unterschiedlich geregelt. Die Regelungen reichen von der Beweislastumkehr (§§ 15 Abs 2, 28 Abs 2, 31 Abs 2 des Bundesentschädigungsgesetzes ≪BEG≫) über die Beweiserleichterung (vgl Münchener Kommentar, 3. Aufl vor § 249 Nrn 130 ff vor allem für das Arzthaftungsrecht) bis zur normativen Auflistung der entschädigungspflichtigen Vorgänge und Krankheiten (§ 551 Abs 2 RVO und die Berufskrankheiten-Verordnung).

Im sozialen Entschädigungsrecht bemüht sich der ärztliche Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) – Sektion Versorgungsmedizin –, auf der Grundlage der herrschenden Lehre in der medizinischen Wissenschaft verläßliche Grundlagen für die Kausalitätsbeurteilung zu geben. Das geschieht in den vom BMA herausgegebenen Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht, die durch Rundschreiben auf dem laufenden gehalten werden. Durch Rundschreiben vom 22. März 1995 (BABl 5/1995 S 58) sind die Nrn 70 und 71 der Anhaltspunkte neu gefaßt worden, die die gutachtliche Beurteilung psychischer Folgen von schädigenden Einwirkungen im Sinne des sozialen Entschädigungsrechts behandeln. Das Rundschreiben ist nach einer Verwaltungsverfügung des beklagten Landes auch von der Versorgungsverwaltung und den von ihr beauftragten Gutachtern zu beachten. Soweit in der damit erfolgten Neufassung der Anhaltspunkte neue Erkenntnisse enthalten sind, sind sie als allgemeine Tatsachen auch vom Revisionsgericht zu beachten (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 6 = BSGE 72, 284).

Die zum Einzelfall getroffenen Feststellungen des LSG, das die Anhaltspunkte in dieser Fassung noch nicht beachten konnte, erfüllen im Ergebnis die Voraussetzungen der neugefaßten Anhaltspunkte. Die Feststellungen sind nicht wirksam angefochten worden. Es muß somit davon ausgegangen werden, daß die an der Klägerin verübte Gewalttat jedenfalls geeignet war, die seelische Krankheit zu verursachen, an der sie leidet. Nach Nr 71 Abs 1 der Anhaltspunkte werden zwar nur besonders schwer belastende Ereignisse (Kriegsgefangenschaft, rechtsstaatswidrige Haft in der DDR, Geiselnahme, Folterung, Vergewaltigung) aufgeführt, und bei anhaltenden Störungen, wie sie bei der Klägerin vorliegen, werden tiefgreifende, in das Persönlichkeitsgefüge eingreifende und in der Regel langdauernde Belastungen vorausgesetzt. Die Feststellungen des LSG über den Hergang des Vergewaltigungsversuchs reichen aber aus, diese Schädigung in den beispielhaft aufgeführten Katalog der Belastungen einzuordnen. Darüber sind sich die Beteiligten auch einig geworden. Aus den Feststellungen des LSG ergibt sich außerdem, daß die Klägerin an einer der Krankheiten leidet, die als mögliche Folge solcher Belastungen aufgeführt sind. Das zeigt sich besonders dann, wenn man die im Einzelfall erstatteten Gutachten und die Krankheitsbezeichnungen heranzieht, auf die die Anhaltspunkte sinngemäß verweisen (vgl Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, August 1994, JCD 10, F 43.1 “Posttraumatische Belastungsstörung”, F 62.0 “Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung”). Eine weitere Begründung erübrigt sich, weil sich die Beteiligten auch darüber einig geworden sind, nachdem sie nicht nur die Anhaltspunkte, sondern auch die ihnen zugrunde liegenden Gutachten zur Kenntnis genommen hatten.

Das beklagte Land wendet sich nur gegen die Auffassung des LSG, daß sich die nach den Anhaltspunkten anzuerkennende Möglichkeit im zu entscheidenden Einzelfall zur Wahrscheinlichkeit verdichtet habe. Die gutachtlichen Äußerungen, die dem vom LSG zugrunde gelegten Gutachten widersprechen, hätten zumindest Zweifel begründet, die nach allgemeinem Beweisrecht zu Lasten der Klägerin gehen müßten. Mit diesem Einwand hat der Beklagte keinen Erfolg.

Zunächst ist klarzustellen, daß sich der Sinn der Ausführungen in den Anhaltspunkten zur Kausalität nicht darin erschöpft, Möglichkeiten aufzuzeigen. Von rechtlichem Interesse sind diese Ausführungen nur insoweit, wie sie zum Ausdruck bringen, daß sich unter bestimmten Umständen die Zahl der geschilderten Erkrankungen nach den geschilderten Traumen so vergrößert, daß die Ursachenfrage bejaht werden kann. Sie geben damit zugleich die Auffassung des für den Hauptteil des sozialen Entschädigungsrechts federführenden Ministeriums wieder, daß es dem einschlägigen Entschädigungsgesetz – hier dem OEG – entspricht, unter solchen Umständen Entschädigung zu zahlen.

Die tatsächlichen Umstände, die das LSG veranlaßt haben anzunehmen, daß sich die Möglichkeit hier als Wahrscheinlichkeit darstellt, sind unangegriffen: Die Krankheit ist unmittelbar nach der Gewalttat festgestellt worden, und unmittelbar vor der Gewalttat sind keine Symptome dieser Krankheit zutage getreten. Wäre die Krankheit mit einem größeren Abstand zur Gewalttat eingetreten, wäre der Grad der Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs geringer. Das bringen die Anhaltspunkte durch ihre Auffassung zum Ausdruck, daß nach einer Latenzzeit nur gelegentlich ein Ursachenzusammenhang bestehe. Weiter steht fest, daß für die Zeit unmittelbar vor der Gewalttat keine äußerlich erkennbaren Symptome der Krankheit vorlagen. Die Klägerin ist jedenfalls Jahre vor der Gewalttat nicht als psychisch krank oder auch nur als psychisch gestört in Erscheinung getreten.

Es ist allerdings einzuräumen, daß durch weitere Nachforschungen in der Lebensgeschichte der Klägerin weitere Tatsachen zutage gefördert werden könnten, die noch mehr als bisher darauf hindeuten, daß die Gewalttat nur zur Verschlimmerung und nicht zur Entstehung der seelischen Krankheit geführt hat. Es könnte als wahrscheinlich erscheinen, daß, wie das die Anhaltspunkte (Nr 42 Abs 1) ausdrücken, “zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorganges bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches, physisches oder psychisches Geschehen, wenn auch noch nicht bemerkt oder bemerkbar, vorhanden war”. Auf solche möglichen Ermittlungsergebnisse deuten ua auch die Ausführungen der Gutachterin hin, auf deren Angaben sich das LSG im wesentlichen gestützt hat. Sie hatte zunächst das durch die Gewalttat bewirkte Geschehen als Verschlimmerung gekennzeichnet und sich erst später entschlossen, die Anerkennung der Krankheit im Sinne der Entstehung zu befürworten, wobei es in der Tat zweifelhaft ist, ob die durchaus fließenden Unterschiede zwischen Entstehung und Verschlimmerung richtig gesehen worden sind.

Daß das LSG trotz günstiger Erfolgsaussicht für den Beklagten nicht verpflichtet war, weitere Ermittlungen anzustellen, folgt aus dem Rechtsgedanken, wie er für vergleichbare Ermittlungssituationen im Wiedergutmachungsrecht gesetzlich formuliert worden ist. Zugunsten der Verfolgten wurde eine Beweislastumkehr eingeführt, wenn eine Krankheit als Verfolgungsschaden geltend gemacht wurde, die während oder nach einer besonders schweren nationalsozialistischen Gewalttat, nämlich nach einer Deportation oder Freiheitsentziehung, aufgetreten war. Nach § 15 Abs 1 Satz 2 iVm § 14 Abs 1 Satz 2 BEG idF vom 18. September 1953 (BGBl I 1387) wurde verlangt, daß die Krankheit während oder “in unmittelbarem Anschluß” an die Gewalttat aufgetreten ist. Später (§ 28 Abs 2 iVm § 15 Abs 2 BEG idF vom 29. Juni 1956 ≪BGBl I 559≫) wurde eine Latenzzeit eingeräumt und auf acht Monate erstreckt. Für die Anwendung dieses Rechtsgedankens jedenfalls bei einer besonders belastenden Gewalttat und bei unmittelbarem Ausbruch der Krankheit spricht die durch § 5 SGB I zum Ausdruck gebrachte Erkenntnis, daß die verschiedenen Rechtsgebiete der sozialen Entschädigung nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern in den wesentlichen Grundgedanken übereinstimmen (BSGE 54, 206 = SozR 3100 § 1, § 29). Ferner spricht dafür, daß die Entscheidung über die Entschädigung für die gesundheitlichen Folgen einer anderen rechtsstaatswidrigen Freiheitsentziehung (Haft in der DDR) der Sozialgerichtsbarkeit übertragen worden ist (§ 25 Abs 5 Erstes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz und § 16 Abs 2 Zweites SED-Unrechtsbereinigungsgesetz). Obwohl für den Nachweis der Kausalität zwischen nationalsozialistischer Gewalttat und Krankheit auch nach dem BEG (§ 28 Abs 1 Satz 2) die Wahrscheinlichkeit ausreichte, war nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) die Vermutung nur dadurch zu widerlegen, daß das Gericht voll überzeugt wurde, daß die Gewalttat als Ursache im Einzelfall ausschied (vgl BGH in RzW 1963, 170 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Die durch Beweislastumkehr bestärkte wahrscheinliche Kausalität kann nicht durch eine andere ebenfalls nur wahrscheinliche, sondern nur durch eine sichere andere Kausalität widerlegt werden. Daß die noch möglichen Nachforschungen zum Lebenslauf der Klägerin das Ergebnis haben könnten, die nach den Anhaltspunkten festzustellende Kausalität sei im Einzelfall widerlegt, wird vom Beklagten nicht behauptet. Es ist auch kein Umstand ersichtlich, der für die Erwartung sprechen könnte, daß ein solches Ergebnis erzielt werden könnte.

Anders als vom Beklagten angenommen, ist die Verurteilung der Beklagten zur Anerkennung eines “depressiven Syndroms mit vielfältigen organischen Störungen” inhaltlich hinreichend bestimmt. Der Beklagte weist zwar zu Recht daraufhin, daß Schädigungsfolgen vollständig und richtig festzustellen sind, schon weil davon der Anspruch auf Heilbehandlung abhängt (vgl BSG Urteil vom 6. Februar 1970 – 10 RV 69/68 –, KOV 1971, 170), so daß auch eine bestimmte Bezeichnung der Gesundheitsstörungen erforderlich ist. Die Gesundheitsstörungen können aber ausnahmsweise so zahlreich, wechselhaft und unspezifisch sein, daß sie sich einer ins einzelne gehenden Beschreibung entziehen. Das gilt zB für den Zustand der Heilungsbewährung nach einer Krebsoperation oder nach anderen Eingriffen, bei denen der postoperative Zustand für eine mehrjährige Übergangszeit durch eine unbestimmte Zahl körperlicher und seelischer Störungen gekennzeichnet ist (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 10). Das gilt ebenso für “vielfältige” organische Störungen, in denen ein depressives Syndrom seinen körperlichen Ausdruck findet.

Der Senat war an einer Entscheidung in der Sache durch die Rüge des Beklagten, das LSG habe es unterlassen, den als leistungspflichtig in Betracht kommenden Unfallversicherungsträger gemäß § 75 Abs 2 (2. Alternative) SGG beizuladen, nicht gehindert. Nach § 202 SGG iVm § 295 Abs 1 Zivilprozeßordnung (ZPO) kann der Beklagte den Verfahrensmangel der unterlassenen Beiladung hier im Revisionsverfahren nicht mehr rügen, weil er das nicht bereits im Berufungsverfahren getan hat. Dem steht § 295 Abs 2 ZPO nicht entgegen. Das Rügerecht geht nach dieser Regelung ausnahmsweise nicht verloren, wenn Vorschriften verletzt sind, auf deren Befolgung nicht wirksam verzichtet werden kann. Um eine solche Vorschrift handelt es sich bei § 75 Abs 2 (2. Alternative) SGG nicht. Im Unterschied zur echten notwendigen Beiladung des § 75 Abs 2 (1. Alternative) SGG, deren Unterlassen bei einer zulässigen Revision von Amts wegen zu beachten ist, verletzt das Unterlassen einer unechten notwendigen Beiladung weder rechtsstaatliche Grundsätze des Verfahrens noch unabdingbare öffentliche Interessen. Die Beiladung des anderen als leistungspflichtig in Betracht kommenden Versicherungsträgers ist lediglich aus prozeßökonomischen Gründen vorgeschrieben (BSG SozR 1500 § 75 Nr 47) und deshalb iS des § 295 Abs 2 ZPO verzichtbar.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 1

NVwZ-RR 1997, 38

NVwZ 1997, 520

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