Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Kindergeld für arbeitslose Kinder in einem anderen EG-Mitgliedstaat
Orientierungssatz
Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die Arbeitslosigkeit eines in einem anderen Mitgliedstaat der EG lebenden Kindes als im wesentlichen vergleichbar angesehen werden kann und den Kindergeldanspruch nach § 2 Abs 4 BKGG begründet (vgl BSG vom 22.8.1990 - 10 RKg 29/88 = SozR 3 - 5870 § 27 Nr 1).
Normenkette
EWGV 1408/71 Art. 73 Abs. 1, Art. 77 Abs. 2; BKGG § 2 Abs. 5 S. 1, Abs. 4 S. 1; AFG § 101 Abs. 1 S. 1, § 103 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 02.06.1987; Aktenzeichen L 9 Kg 482/87) |
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 15.01.1987; Aktenzeichen S 7 Kg 878/86) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Kindergeld für seine Tochter Filomena in der Zeit vom 1. Januar bis 31. Oktober 1986 zusteht.
Der Kläger - ein italienischer Staatsangehöriger - hat seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland. Er war hier früher versicherungspflichtig beschäftigt und bezieht inzwischen eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Schwaben. Seine Tochter Filomena (geb. am 10. Februar 1967) beendete im Dezember 1985 eine Berufsausbildung in Italien. Seit dem 7. Januar 1986 war sie beim Arbeitsamt Catanzaro (Italien) arbeitslos gemeldet. Im November 1986 übersiedelte Filomena in die Bundesrepublik Deutschland zum Kläger. Er hatte bis einschließlich Dezember 1985 Kindergeld für seine Tochter bezogen, das ihm seit November 1986 wieder gewährt wurde.
Mit Bescheid vom 4. Februar 1986 (Widerspruchsbescheid vom 3. April 1986) lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung von Kindergeld für Filomena für die Zeit ab Januar 1986 ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die hiergegen erhobene Klage durch Urteil vom 15. Januar 1987 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die - vom SG zugelassene - Berufung des Klägers mit Urteil vom 2. Juni 1987 zurückgewiesen: Dem Kläger stehe für Filomena vom 1. Januar bis 31. Oktober 1986 kein Kindergeld zu. Da Filomena sich während des streitigen Zeitraumes in Italien aufgehalten und demzufolge der Arbeitsvermittlung im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) nicht zur Verfügung gestanden habe, seien die Voraussetzungen des § 2 Abs 4 Satz 1 Nr 2 BKGG nicht erfüllt. Aus den Regelungen des europäischen Rechts könne nichts anderes hergeleitet werden. Zwar sei der Kläger als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaften (EG) deutschen Staatsangehörigen nach Art 3 EWG-VO Nr 1408/71 gleichgestellt. Dennoch müsse er ebenso wie ein deutscher Staatsangehöriger die Anspruchsvoraussetzungen des nationalen Rechts erfüllen. Art 73 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 fingiere lediglich einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt iS von § 30 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB 1) im Geltungsbereich des BKGG für das Kind Filomena, so daß das in § 2 Abs 5 Satz 1 BKGG normierte Territorialitätsprinzip nicht zur Versagung des Kindergeldanspruches wegen des Aufenthaltes des Kindes in Italien führe. Diese Bestimmung könne nicht dahin ausgelegt werden, daß ein Kind, das der Arbeitsvermittlung im Wohnland zur Verfügung stehe, so behandelt werde, als ob es der Arbeitsvermittlung im Geltungsbereich des BKGG zur Verfügung stehe. Deutsche Kindergeldberechtigte hätten ebenfalls für ein 16jähriges Kind, das sich in einem anderen Mitgliedstaat der EG arbeitslos melde, keinen Anspruch auf Kindergeld.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger eine Verletzung des Art 3 und Art 73 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71. Er macht geltend, diese Vorschriften stellten sicher, daß ein Arbeitnehmer eines anderen Mitgliedstaates in der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die zu gewährenden Familienleistungen so behandelt werde, als ob seine Familienangehörigen sich tatsächlich bei ihm im Beschäftigungsstaat aufhielten. Er stützt seine Auffassung auf das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 22. Februar 1990 in der Rechtssache C-12/89.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 2. Juni 1987 und das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 15. Januar 1987 abzuändern, den Bescheid der Beklagten vom 4. Februar 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 1986 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für seine Tochter Filomena für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Oktober 1986 Kindergeld zu gewähren,
hilfsweise,
die Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Auslegung des § 2 Abs 4 Nr 2 BKGG und Art 73 der Verordnung Nr 1408/71 des Rates der Europäischen Gemeinschaften einzuholen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der EuGH habe zwar in den Rechtssachen C 228/88 und C 12/89 inzwischen geklärt, daß die Aufenthaltsfiktion des Art 73 EWG-VO Nr 1408/71 auch den erforderlichen Inlandstatbestand der Arbeitslosigkeit bzw der Verfügbarkeit des § 2 Abs 4 BKGG fingiere. Der Rechtsstreit sei insoweit jedoch nicht entscheidungsreif. Denn es stehe nicht fest, ob Filomena im Sinne der hier anwendbaren deutschen Rechtsvorschriften der §§ 101 und 103 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) arbeitslos und verfügbar gewesen sei.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Der Senat konnte noch nicht abschließend entscheiden, weil hierzu weitere Tatsachenfeststellungen notwendig sind, die der Senat nicht selbst treffen kann.
Entgegen der Auffassung des LSG ist die Gewährung von Kindergeld für Filomena nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil sich das Kind in Italien aufhält. Denn Kindergeldberechtigte haben in Anwendung der EWG-VO Nr 1408/71 unter bestimmten Voraussetzungen auch Anspruch auf Kindergeld für ihre in einem anderen Mitgliedstaat lebenden arbeitslosen Kinder.
Die EWG-VO Nr 1408/71 ist auf den Kläger anzuwenden. Dies folgt aus Art 2 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71. Danach gilt diese Verordnung für Arbeitnehmer und Selbständige, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind. Der Kläger ist als Italiener Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der EG. Für ihn gelten zumindest die Rechtsvorschriften Italiens.
Die Regelungen der Familienleistungen sind in Titel III, Kapitel 7 EWG-VO Nr 1408/71 enthalten. Für den hier geltend gemachten Anspruch auf Kindergeld ist auszugehen von Art 73 Abs 1 bzw Art 77 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71.
Nach Art 77 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 werden die Leistungen ohne Rücksicht darauf gewährt, in welchem Mitgliedstaat die Rentner oder die Kinder wohnen. Das Nähere ist in Abs 2 Buchst a) und b) des Art 77 bestimmt. Dabei kann dahinstehen, ob für den Kläger, der Erwerbsunfähigkeitsrente von der LVA Schwaben bezieht, Art 77 Abs 2 Buchst a) oder b) Unterabschnitt i) anzuwenden ist. Bezieht der Kläger seine Erwerbsunfähigkeitsrente nur nach deutschem Recht, so bestimmt sich die Leistung im Sinne des Art 77 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates (Art 77 Abs 2 Buchst a) EWG-VO Nr 1408/71). Erhält der Kläger hingegen Rente nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten, so bestimmt sich die Leistung nach dem Wohnsitz des Klägers (Art 77 Abs 2 Buchst b), i) EWG-VO Nr 1408/71). Beiden Fallgestaltungen ist gemeinsam, daß die Leistungen nach Art 77 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 sich nach dem BKGG bestimmen.
Nach § 2 Abs 5 Satz 1 BKGG werden zwar Kinder, die weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes haben, bei der Gewährung von Kindergeld nicht berücksichtigt. Ausnahmen von diesem Territorialitätsgrundsatz für im Ausland lebende Kinder gelten jedoch, soweit dies durch das EG-Recht oder durch zwischenstaatliche Abkommen bestimmt ist (vgl BSG SozR 5870 § 2 Nr 51). Nach Art 73 Abs 1 bzw Art 77 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 steht der Aufenthalt der Kinder in Italien dem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gleich.
Diese Gleichstellung gilt nicht nur hinsichtlich des Wohnsitzes. Hängt nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, der bestimmte Familienleistungen erbringt, die Gewährung dieser Leistungen davon ab, daß die Familienangehörige des Arbeitnehmers als Arbeitslose der Arbeitsvermittlung im Geltungsbereich dieser Rechtsvorschriften zur Verfügung steht, so ist diese Voraussetzung als erfüllt anzusehen, wenn die Familienangehörige als Arbeitslose der Arbeitsvermittlung in dem Mitgliedstaat zur Verfügung steht, in dem sie wohnt. Dies hat der EuGH durch Urteil vom 22. Februar 1990 in der Rechtssache C - 12/89 - entschieden.
Im vorliegenden Fall läßt sich indessen noch nicht sagen, ob alle Voraussetzungen erfüllt sind, die - auch unter Berücksichtigung der Gleichstellung nach Art 73 EWG-VO Nr 1408/71 - nach innerstaatlichem Recht erfüllt sein müssen, um den geltend gemachten Anspruch zu bejahen.
Nach § 2 Abs 4 Satz 1 BKGG in der hier anwendbaren, ab 1. Januar 1985 geltenden Fassung des Zehnten Gesetzes zur Änderung des BKGG vom 21. Dezember 1984 (BGBl I 1726) werden Kinder, die das 16., aber noch nicht das 21. Lebensjahr vollendet haben, bei dem Kindergeldanspruch berücksichtigt, wenn sie im Geltungsbereich des BKGG eine Berufsausbildung mangels Arbeitsplatz nicht beginnen oder fortsetzen können oder als Arbeitslose der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen. Ob jemand im Sinne von § 2 Abs 4 BKGG arbeitslos ist und der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, richtet sich - da das BKGG insoweit keine abweichende Definition der genannten Begriffe enthält - nach den Vorschriften der §§ 101 und 103 des AFG. Arbeitslos im Sinne des AFG ist gemäß § 101 Abs 1 Satz 1 AFG eine Arbeitnehmerin, die vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht oder nur eine kurzzeitige Beschäftigung ausübt. Nach § 103 Abs 1 AFG steht der Arbeitsvermittlung ua zur Verfügung, wer eine zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann und darf und bereit ist, jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen, die sie ausüben kann und darf. Durch die Vorinstanzen sind insoweit bisher - worauf die Beklagte in der Revisionsinstanz zu Recht hingewiesen hat - keinerlei Feststellungen getroffen worden.
Auch wenn bei der Anwendung des § 2 Abs 4 BKGG auf Kinder, die in der Bundesrepublik Deutschland oder in einem anderen Mitgliedstaat der EG leben, schon wegen des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art 3 EWG-VO Nr 1408/71) die gleichen Anforderungen zu stellen sind, also grundsätzlich auch bei im Ausland lebenden Kindern die Voraussetzungen der §§ 101 und 103 AFG vorliegen müssen, können die Gegebenheiten des Wohnsitzstaates nicht völlig außer acht gelassen werden. Der Senat hat dies bereits in seinem Urteil vom 11. März 1987 - 10 RKg 2/86 - (SozR 5870 § 2 Nr 51) bei der Auslegung des Begriffs "Berufsausbildung" im Sinne von § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG im Falle von Ausbildungsverhältnissen in Italien entschieden und ausgeführt, es müsse genügen, daß die im anderen EG-Mitgliedstaat absolvierte Ausbildung in Zielsetzung und Charakter der Ausbildung in Deutschland im wesentlichen vergleichbar ist. Für die kindergeldrechtliche Berücksichtigung in Italien wohnender arbeitsloser Kinder bedeutet das: Es kommt nicht darauf an, ob die Voraussetzungen der §§ 101 und 103 AFG in jedem Punkte erfüllt sind, es muß aber feststehen, daß die Kinder als arbeitslos gemeldet sowie bereit und in der Lage sind, den Arbeitsangeboten der Arbeitsverwaltung nach den im Wohnsitzland üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes nachzukommen. Denn nur wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, kann die Arbeitslosigkeit eines in einem anderen Mitgliedstaat der EG lebenden Kindes als im wesentlichen vergleichbar angesehen werden und den Kindergeldanspruch nach § 2 Abs 4 BKGG alter und neuer Fassung begründen (so auch Urteil des Senats vom 22. August 1990 - 10 RKg 29/88 -).
Außerdem kann der Anspruch auf Kindergeld gemäß § 2 Abs 4 Satz 2 BKGG ausgeschlossen sein, wenn Filomena eigenes Erwerbseinkommen hat. Auch dieser Frage ist die Vorinstanz - von ihrer Rechtsauffassung zu Recht - bisher nicht nachgegangen.
Die angefochtene Entscheidung war daher aufzuheben. Ferner mußte der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, damit das Berufungsgericht die für eine abschließende Entscheidung noch notwendigen Tatsachenfeststellungen nachholt.
Das LSG wird auch über die Kosten des gesamten Revisionsverfahrens einschließlich des Verfahrens vor dem EuGH zu entscheiden haben.
Fundstellen