Leitsatz (amtlich)
Ein kaufmännischer Angestellter, der im Büro arbeiten, aber wegen körperlicher Behinderung die öffentlichen Verkehrsmittel in den Hauptverkehrszeiten nicht benutzen kann, ist nicht berufsunfähig, wenn er den Weg zum und vom Büro regelmäßig - zB - mit einen Kraftwagen seines Arbeitgebers zurücklegt.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 4. September 1959 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger, kaufmännischer Angestellter von Beruf, leidet an den Folgen einer Kinderlähmung, die ihn im Alter von 1 1/2 Jahren und nochmals im Alter von 32 Jahren befiel. Die Folgen der letzten Erkrankung waren so erheblich, daß ihm vom Februar 1953 an Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit gewährt wurde. Mit Bescheid vom 21. Januar 1958 entzog die Beklagte die Rente, weil sie einen Rückgang der Lähmungen feststellte und den Kläger wieder für berufsfähig hielt.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hob den Entziehungsbescheid auf. Auf die Berufung der Beklagten hin wies das Landessozialgericht (LSG) Hamburg die Klage ab: Die Lähmungserscheinungen hätten sich so weit zurückgebildet, daß der Kläger den Innendienst im Büro praktisch wieder in vollem Umfange versehen könne. Trotz der Behinderungen am rechten Bein und an den Armen könne er auch regelmäßig seinen Arbeitsplatz erreichen. In den Hauptverkehrszeiten sei ihm zwar die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel nicht zumutbar, weil er dann nicht immer rechtzeitig einen Sitzplatz erhalte und deshalb der Gefahr von Stürzen ausgesetzt sei. Er werde aber von einem Arbeitskollegen in einem firmeneigenen Wagen von der Wohnung abgeholt und nach Büroschluß zurückgebracht. Bei dem heutigen Umfang der Motorisierung würde er auch bei einem Wechsel des Arbeitsplatzes ohne allzu große Schwierigkeiten bei anderen Firmen ein ähnliches Entgegenkommen finden. Daß Angestellte firmeneigene Wagen für die Fahrt zum und vom Büro benutzen dürften und auf dem Wege körperbehinderte Kollegen mitnähmen, sei nichts Außergewöhnliches mehr. Die frühere Auffassung, wonach bei einer Behinderung in der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel in einer Großstadt Berufsunfähigkeit vorliege, sei durch die moderne technische Entwicklung überholt (Urteil vom 4. September 1959).
Der Kläger legte die - vom LSG zugelassene - Revision ein mit dem (sinngemäßen) Antrag,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Er rügt eine Verletzung des materiellen Rechts und der Aufklärungspflicht. Das LSG hätte - etwa durch Anhören von Sachverständigen des Arbeitsamtes - näher ermitteln müssen, welche Firmen in Hamburg ihre Angestellten regelmäßig von der Wohnung abholen lassen. Die Unterstellung des Gerichts, eine hinreichende Anzahl stelle ihren Arbeitnehmern Kraftwagen zur Verfügung, träfe den vorliegenden Fall nicht, weil seine Firma ihm keinen Kraftwagen zur Verfügung stelle, sondern ihn mit einem Kraftwagen der Firma von der Wohnung abholen lasse. Nach allgemeiner Lebenserfahrung sei das aber ein Einzelfall.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig. Die Zulassung des Rechtsmittels wäre allerdings für das Bundessozialgericht (BSG) nicht bindend, wenn das LSG nur eine Überprüfung tatsächlicher Fragen durch das Revisionsgericht hätte ermöglichen wollen. Tatsächlicher und nicht rechtlicher Natur sind u. a. Fragen des heutigen Umfangs der Motorisierung und der neuen Gewohnheiten im Verkehr zwischen Wohnung und Arbeitsplatz. Aus dem angefochtenen Urteil ergibt sich jedoch nicht, daß das LSG etwa die Üblichkeit der hier streitigen Beförderungsart irrtümlich als Rechtsfrage gewertet hätte. Die Rechtsfrage, der es eine grundsätzliche Bedeutung beimaß, hat das LSG in seiner Begründung der Revisionszulassung zwar nicht ausdrücklich genannt. Sie ist aber wohl in der Frage zu erblicken, ob eine Berufsunfähigkeit schon dann gegeben ist, wenn ein Versicherter wegen seiner körperlichen Behinderung die öffentlichen Verkehrsmittel in den Hauptverkehrszeiten nicht benutzen kann. Die Revision ist daher infolge wirksamer Zulassung statthaft und, weil auch sonst keine Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen, zulässig. Sie ist jedoch unbegründet.
Die mit der Klage angefochtene Entziehung der Rente ist rechtmäßig, wenn der Kläger infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist (§§ 63 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -, Art. 2 § 23 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz). Eine Änderung, nämlich die Besserung seines Gesundheitszustandes, hat das LSG für das BSG bindend (§ 163 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) festgestellt. Streitig ist nur noch, ob der Kläger infolgedessen wieder berufsfähig ist. Berufsunfähig ist nach § 23 Abs. 2 Satz 1 AVG ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen und geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen einer Vergleichsperson, nämlich eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit einer ähnlichen Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten, herabgesunken ist. (Die folgenden Sätze 2 und 3 dieser Vorschrift konkretisieren die Vergleichsperson noch deutlicher). Die Gründe, die den Kläger bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel behindern, sind durch seine Krankheit und die dadurch entstandene Schwäche seiner Körperkräfte bedingt. Die Frage ist daher nur, ob hierdurch seine Erwerbsfähigkeit beeinflußt wird und wenn ja, ob diese auf weniger als die halbe Erwerbsfähigkeit der Vergleichsperson herabgesunken ist.
"Erwerbsfähigkeit", in ihre Bestandteile zerlegt, ist die Fähigkeit zum Erwerb. Den Gegenstand des Erwerbs nennt § 23 Abs. 2 AVG nicht, es können aber nur Einkünfte (Arbeitsverdienst, Lohn) sein. Ebensowenig kann über das zum Erwerb von Einkünften führende Mittel Unklarheit bestehen: Es ist eine Beschäftigung oder Tätigkeit, die "Erwerbstätigkeit". Dies bestätigt § 24 Abs. 2 AVG, der das Gegenteil der Erwerbsfähigkeit, die Erwerbsunfähigkeit, danach beurteilt, ob und inwieweit der Versicherte noch eine Erwerbstätigkeit ausüben und Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann.
Es ist eine Frage der Auslegung, ob man die Erwerbsfähigkeit - und sogar nur die Fähigkeit zur Erwerbstätigkeit - schon dann bejaht, wenn der Versicherte die Erwerbstätigkeit, d. h. die jeweils anfallenden Arbeiten verrichten kann, oder ob man auch die Fähigkeit zur Ausnutzung seiner Arbeitskraft - hier: die Fähigkeit zum Aufsuchen des Arbeitsplatzes - mit einschließt. Begrifflich sind an sich die enge und die weite Auslegung denkbar, doch liegt die letztere näher, wenn die Bedeutung der Erwerbsfähigkeit, wie dargetan, darin gesehen wird, mittels einer Erwerbstätigkeit zur Erzielung von Einkünften fähig zu sein. Die weite Auslegung ist aber auch nach dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Rentenversicherung richtiger, weil die für den Versicherungsfall vorgesehenen Leistungen den Verdienstausfall ausgleichen sollen, den ein Herabsinken oder ein Wegfall der Erwerbsfähigkeit in der Regel zur Folge hat. Die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten ist demnach auch dann beeinträchtigt, wenn er seine vorhandene Arbeitskraft, seine Fähigkeit zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit, nicht ausnutzen und aus diesem Grunde keine oder nur geringere Einkünfte als die in § 23 Abs. 2 AVG bezeichnete Vergleichsperson erzielen kann. Hierzu gehört der Fall, daß ein Versicherter am Aufsuchen der für ihn in Betracht kommenden Arbeitsplätze (wegen Krankheit oder Körperschwäche) gehindert oder behindert ist und infolgedessen Einkunftsausfälle erleidet.
Das sind jedoch Sonderfälle. In aller Regel ist die Berufsunfähigkeit die Folge einer herabgesunkenen Arbeitskraft. Die für den Regelfall in Rechtsprechung und Schrifttum erarbeiteten Grundsätze dürfen nicht ohne weiteres auf jene Sonderfälle übertragen werden. Das ist schon in einer früheren Entscheidung des BSG (13, 255, 257 f) zum Ausdruck gekommen, in der die Frage der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit eines Versicherten, der nur an der Ausnutzung seiner Arbeitskraft, wenn auch aus anderen Gründen, nämlich wegen einer ansteckenden Krankheit, behindert war, als "sehr komplexer Natur" bezeichnet wurde, die "nur unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles und der sich jeweils bietenden Beschäftigungsmöglichkeiten" entschieden werden könne. Ähnliches muß für den vorliegenden Fall gelten. Eine andere Betrachtungsweise würde zu unbilligen Ergebnissen führen. Im Regelfall der geschmälerten Arbeitskraft mag es sinnvoll sein, die Erwerbsfähigkeit des Versicherten an den üblichen Arbeits- und Berufsverhältnissen zu messen und die besonders günstige Gestaltung eines einzelnen Arbeitsplatzes und das besondere Entgegenkommen eines einzelnen Arbeitgebers unberücksichtigt zu lassen. Eine gleichermaßen "durchschnittliche" Betrachtungsweise ist jedoch für die Sonderfälle, in denen der Versicherte nur in der Ausnutzung seiner noch vorhandenen Arbeitskraft behindert ist, nicht angezeigt. Besteht hier die Möglichkeit, daß er seine Arbeitskraft auf einzelnen Arbeitsplätzen des allgemeinen Arbeitsfeldes zu nutzen vermag, so kann seine Erwerbsfähigkeit nicht als beeinträchtigt angesehen werden.
Im vorliegenden Fall bedeutet dies, daß der Kläger nicht mehr berufsunfähig ist. Nach den Feststellungen des LSG ist er in seinem Beruf praktisch voll arbeitsfähig und lediglich beim Aufsuchen des Arbeitsplatzes behindert, weil er die öffentlichen Verkehrsmittel in den Hauptverkehrszeiten nicht benutzen kann. Gleichwohl ist ihm hierdurch das allgemeine Arbeitsfeld nicht ganz verschlossen; auf dem Arbeitsplatz, den er seit langen Jahren bei der gleichen Firma inne hat, vermag er vielmehr seine Arbeitskraft voll zu nutzen, weil er mit einem Kraftwagen des Arbeitgebers regelmäßig den Hinweg zum Büro und den Rückweg nach Hause zurücklegen kann. Diese Feststellungen genügen, um seine Berufsunfähigkeit zu verneinen, ohne daß es noch darauf ankäme, ob ihn die Firma nun abholen läßt oder ob ihn Arbeitskollegen aus eigenem Antrieb im firmeneigenen Wagen mitnehmen.
Unter diesen Umständen kann ferner dahingestellt bleiben, ob die Rüge der mangelnden Sachaufklärung ordnungsgemäß erhoben und begründet ist und ebensowenig braucht der Senat noch zu prüfen, wie es sich auf die Berufsfähigkeit des Klägers auswirken würde, wenn er - was das LSG nicht erörtert hat - die öffentlichen Verkehrsmittel außerhalb der Hauptverkehrszeiten benutzen oder wenn ihm die Verlegung seines Wohnsitzes etwa in die Innenstadt zugemutet würde.
Die Revision des Klägers ist mithin als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen