Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 13.11.1990) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. November 1990 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Umstritten ist in der Sache die Nachentrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung. Zunächst geht es jedoch verfahrensrechtlich darum, ob das Landessozialgericht (LSG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden durfte.
Die Beklagte ließ die Klägerin mit Bescheid vom 21. September 1976 zur Nachentrichtung von Beiträgen in Höhe von 14.688 DM zu und räumte ihr eine Zahlungsfrist von fünf Jahren ab Zustellung des Bescheides ein. Als die Klägerin Ende Oktober 1981 wegen der Nachentrichtung anfragte, lehnte die Beklagte es mit Bescheid vom 6. November 1981 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. März 1982 ab, die Beiträge noch entgegenzunehmen, weil die Zahlungsfrist verstrichen sei. Die dagegen gerichtete Klage blieb im Urteil des Sozialgerichts (SG) Heilbronn vom 26. August 1983 und im Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 17. April 1984 erfolglos.
Im Jahre 1988 beantragte die Klägerin eine Überprüfung. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 4. Oktober 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 1989 jedoch eine Rücknahme des Bescheides vom 6. November 1981 ab. Die dagegen gerichtete Klage ist vom nunmehr zuständigen SG Nürnberg durch Urteil vom 13. März 1990 abgewiesen worden.
Die Klägerin hat beim Bayerischen LSG Berufung eingelegt. Zur Begründung hat sie angeführt, die Beklagte sei in anderen Fällen, die sich aus einer Bundestags-Drucksache und aus der Presse ergäben, bei Fristüberschreitungen großzügiger verfahren. Das LSG hat der Klägerin eine Abschrift der Berufungserwiderung übersandt und zugleich angefragt, ob mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung Einverständnis bestehe. Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 12. Juli 1990 geantwortet: Es sei Aufgabe der Beklagten, hilfsweise des Gerichts, den in der Bundestags-Drucksache erwähnten Sachverhalt zu ermitteln. Falls das Gericht dem nicht folge, werde beantragt, ihr (der Klägerin) aufzugeben, selbst den fraglichen Sachverhalt zu ermitteln. Sodann hat die Klägerin einen Vergleichsvorschlag unterbreitet und den Schriftsatz mit dem Satz beendet: Mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung bestehe „ansonsten” Einverständnis. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 16. August 1990 den Vergleichsvorschlag abgelehnt und ausgeführt, daß eine Beiziehung des in der Bundestags-Drucksache genannten Falles nicht weiterhelfe. Hierauf hat sich die Klägerin im Schreiben vom 3. September 1990 bezogen und um Hinweis gemäß Ziff 3 ihres Schreibens vom 12. Juli 1990 (eigene Ermittlungen) vor einer Entscheidung in der Hauptsache gebeten, damit ihr die Beweischance nicht abgeschnitten werde. Nachdem das LSG der Beklagten anheimgestellt hatte, die Versicherungsnummer des mit der Bundestags-Drucksache genannten Falles in Erfahrung zu bringen, hat die Beklagte dieses mit Schreiben an das LSG vom 25. September 1990 abgelehnt. Das LSG hat daraufhin der Klägerin unter dem 16. Oktober 1990 geschrieben, gemäß ihrer Einverständniserklärung sei die Streitsache zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung vorgesehen. Am 24. Oktober 1990 ist beim LSG die Kopie eines Schreibens der Klägerin vom 22. Oktober 1990 an den Petitionsausschuß des Bundestages eingegangen, in dem unter Hinweis auf den anhängigen Rechtsstreit und die Bundestags-Drucksache um Angabe der Versicherungsnummer und/oder des zugrunde liegenden Tatbestandes gebeten wurde. Handschriftlich war auf der Kopie für das LSG vermerkt: Die Weigerung der Beklagten, trotz gerichtlicher Aufforderung zur Aufklärung beizutragen, sei unverständlich und rechtsmißbräuchlich; sie werde hoffentlich vom LSG entsprechend gewürdigt. Als die Klägerin dem LSG Ende November 1990 die Antwort des Petitionsausschusses übersandte, hatte dieses bereits am 13. November 1990 durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden und die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die vom erkennenden Senat zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt verfahrensrechtlich eine Verletzung des § 124 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und des Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) sowie materiell-rechtlich eine Verletzung des Art 3 Abs 1 GG, weil bei der Nachsicht gegenüber einer Fristversäumung anscheinend mit zweierlei Maßstäben gemessen werde.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
- das Urteil des LSG vom 13. November 1990 und das Urteil des SG vom 13. März 1990 aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 4. Oktober 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 1989 zu verurteilen, den Bescheid vom 6. November 1981 zurückzunehmen und freiwillige Beiträge zur Nachentrichtung in Höhe von 14.688 DM anzunehmen,
- hilfsweise den Betrag abzüglich der freiwilligen Beiträge anzunehmen, zu deren Nachentrichtung sie (die Klägerin) nach dem Rentenreformgesetz 1992 berechtigt sei,
- weiter hilfsweise die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen,
- schließlich hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, bis das Bundesversicherungsamt und/oder der Petitionsausschuß des Bundestages Abhilfe in ihrem (der Klägerin) Sinne geschaffen habe bzw die Nichtabhilfe feststehe.
Die Beklagte hat sich in der Sache nicht geäußert und auch keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist iS einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und einer Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Das LSG hat § 124 SGG verletzt, weil es durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, obwohl ein wirksames Einverständnis der Klägerin dazu nicht vorlag.
Das LSG hatte gemäß § 124 Abs 1 SGG aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden. Als Ausnahme kam hier lediglich in Betracht, daß es nach § 124 Abs 2 SGG mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden konnte. Da die mündliche Verhandlung das Kernstück des gerichtlichen Verfahrens und eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung rechtlich als Ausnahme davon geregelt ist, liegt ein wirksames Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nur dann vor, wenn das Einverständnis ausdrücklich, eindeutig und vorbehaltlos erklärt worden ist. Das Einverständnis der Klägerin kann nur in dem an das LSG gerichteten Schriftsatz vom 12. Juli 1990 erklärt worden sein. Er erfüllt die genannten Anforderungen an eine wirksame Einverständniserklärung jedoch nicht.
In diesem Schriftsatz hat die Klägerin dem Gericht die nach ihrer Ansicht gebotene Aufklärung des in der Bundestags-Drucksache erwähnten Sachverhalts durch die Beklagte, das Gericht oder eine entsprechende Auflage an sie (die Klägerin) selbst beantragt, dann einen Vergleichsvorschlag unterbreitet und abschließend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung „ansonsten” erklärt. Diese Formulierung konnte zwar möglicherweise so verstanden werden, die Klägerin erkläre sich auch für den Fall mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden, daß das LSG die Sachaufklärung nicht durchführte, weil es sie nicht für erforderlich hielt. Sie konnte aber auch so verstanden werden, das Einverständnis sei nur unter der Bedingung – vor einer Entscheidung in der Hauptsache sei eine Sachaufklärung durchgeführt worden – und nur für diesen Fall erklärt worden. Die Formulierung der Klägerin in diesem letztgenannten Sinne zu verstehen, legte ihr weiteres Schreiben vom 3. September 1990 nahe. Darin hatte sie, nachdem die Beklagte die Ansicht vertreten hatte, die Beiziehung des in der Bundestags-Drucksache genannten Falles helfe nicht weiter, unter Bezugnahme auf ihren Schriftsatz vom 12. Juli 1990 (eigene Ermittlungen) vor einer Entscheidung in der Hauptsache um einen Hinweis gebeten, damit ihr die Beweischance nicht abgeschnitten werde. Unter diesen Umständen lag ein eindeutiges und vorbehaltloses Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung allenfalls für den Fall vor, daß die von der Klägerin für erforderlich gehaltene Sachaufklärung entweder vom Gericht oder von ihr selbst vorgenommen oder jedenfalls versucht worden war. Dieses ist vor der Entscheidung des LSG nicht geschehen. Ob es für die Entscheidung über den von der Klägerin erhobenen Anspruch rechtlich auf die von ihr begehrte Sachaufklärung ankam, ist in diesem Zusammenhang bedeutungslos. Auch wenn die Einverständniserklärung von einer Bedingung abhängig gemacht wird, auf deren Erfüllung es nach Ansicht des Gerichts für die Entscheidung des Rechtsstreits in der Sache nicht ankommt, liegt eine eindeutige und vorbehaltlose Einverständniserklärung nicht vor. Das Gericht muß in einem solchen Fall entweder den Vorbehalt ausräumen oder Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumen.
Der Mangel einer wirksamen Einverständniserklärung verlor seine Wirkung nicht dadurch, daß das LSG, ohne Ermittlungen selbst vorgenommen oder sie der Klägerin aufgegeben zu haben, ihr unter dem 16. Oktober 1990 mitgeteilt hatte, gemäß ihrer Einverständniserklärung sei die Streitsache zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung vorgesehen. Denn auf diese Weise konnte eine wirksame Einverständniserklärung der Klägerin nicht herbeigeführt werden. Ob die Klägerin, nachdem ihre ursprüngliche Erklärung nicht ganz eindeutig war, nach Treu und Glauben dem anscheinend beim LSG bestehenden Eindruck, es liege eine Einverständniserklärung vor, hätte entgegentreten müssen, kann offen bleiben. Denn dieses ist schlüssig dadurch geschehen, daß die Klägerin dem LSG noch im Oktober 1990 die Kopie eines an den Petitionsausschuß gerichteten Schreibens übersandt hat. Demnach hatte die Klägerin die Ermittlungen nunmehr erkennbar selbst in die Hand genommen und zu erkennen gegeben, daß sie mit einer Entscheidung des LSG vor einer Antwort des Petitionsausschusses nicht rechnete. Sie war daher auch mit einer vorzeitigen Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nicht einverstanden.
Ist zu Unrecht ohne mündliche Verhandlung entschieden worden, so braucht nicht gerügt zu werden, daß das Urteil in der Sache hierauf beruhen kann (BSGE 53, 83 = SozR 1500 § 124 Nr 7). Der Senat hat es wegen der besonderen Bedeutung der mündlichen Verhandlung im gerichtlichen Verfahren für untunlich gehalten, das Urteil des LSG auf seine inhaltliche Richtigkeit zu überprüfen. Es soll zunächst das LSG entscheiden, ohne den Grundsatz der mündlichen Verhandlung zu verletzen. Von einer Äußerung zu der Frage, ob eine außergerichtliche Korrektur der früheren Entscheidung der Beklagten durch eine Befassung des Bundesversicherungsamtes oder des Petitionsausschusses mit der Angelegenheit herbeigeführt werden kann, sieht der Senat ab. Er hält es nicht für geboten, von sich aus an die genannten Stellen heranzutreten oder das Verfahren beim Revisionsgericht ruhen zu lassen, um der Klägerin dieses zu ermöglichen.
Über die Erstattung außergerichtlicher Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG in seiner abschließenden Entscheidung zu befinden haben.
Fundstellen