Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 2. Juli 1992 geändert. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 15. Januar 1990 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten für sämtliche Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die Beklagte zu Recht der Klägerin eine Verletztenrente auf Dauer mit Ablauf des Monats November 1988 entzogen hat.
Die im Jahre 1953 geborene Klägerin erlitt am 8. Oktober 1984 einen Arbeitsunfall mit Quetschverletzungen an der rechten Hand und einer Fraktur des Zeigefingergrundgliedes. Wegen der Folgen dieses Arbeitsunfalls gewährte ihr die Beklagte für die Zeit vom 24. Dezember 1984 bis 31. Juli 1985 eine Gesamtvergütung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH (Bescheid vom 26. Juni 1985) und für die anschließende Zeit Dauerrente nach einer MdE um 20 vH (Bescheid vom 25. März 1987). Nach ärztlicher Überprüfung der Unfallfolgen und nach Anhörung der Klägerin entzog die Beklagte die Dauerrente mit Ablauf des Monats November 1988, weil sich hinsichtlich der Unfallfolgen die Verhältnisse wesentlich gebessert hätten (Bescheid vom 26. Oktober 1988).
Das Sozialgericht (SG) hat – dem Antrag der Klägerin entsprechend – den angefochtenen Entziehungsbescheid vom 26. Oktober 1988 aufgehoben (Urteil vom 15. Januar 1990). Zur Begründung heißt es im wesentlichen, eine Besserung der Unfallfolgen mit einer Änderung der MdE um mehr als 5 vH habe zum Zeitpunkt der Entziehung der Rente noch nicht festgestellt werden können. Eine solche Besserung sei erst zum Zeitpunkt der Untersuchung der Klägerin im Juni 1989 durch den Sachverständigen Prof. Dr. K. … eingetreten. Da die Klägerin gegen den Entziehungsbescheid nur eine Anfechtungsklage erhoben habe, komme es maßgebend darauf an, ob dieser Bescheid bei seinem Erlaß rechtswidrig gewesen sei. Unerheblich sei demgegenüber, ob möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt ein inhaltsgleicher Verwaltungsakt rechtmäßig gewesen wäre. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 1988 dahingehend geändert, daß die Dauerrente mit Ablauf des Monats Juni 1989 entzogen werde; im übrigen hat das LSG die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 2. Juli 1992). Zur Begründung heißt es im wesentlichen, eine Änderung in den unfallbedingten gesundheitlichen Verhältnissen der Klägerin könne nach der vom SG durchgeführten Beweisaufnahme erst im Juni 1989 festgestellt werden. Deshalb stehe der Klägerin Dauerrente bis zum Ablauf dieses Monats zu. Der Entziehungsbescheid vom 26. Oktober 1988 sei dementsprechend zu ändern und der Zeitpunkt des Wegfalls der Dauerrente mit Ablauf des Monats Juni 1989 festzustellen.
Mit der – vom Senat zugelassenen – Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts (§ 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches – SGB X –). Entgegen der Auffassung des LSG sei der angefochtene Entziehungsbescheid vom Gericht nach den Verhältnissen zur Zeit seines Erlasses nachzuprüfen; sei er in diesem Zeitpunkt rechtswidrig gewesen, könne die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage nicht deswegen abgewiesen werden, weil ein Rentenentziehungsbescheid, wäre er später aufgrund anderer Tatsachen erlassen worden, rechtmäßig sei. Die später bei ihr festzustellende Besserung der Verletzungsfolgen könne bei der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides keine Berücksichtigung finden.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil dahingehend zu ändern, daß die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Stuttgart vom 15. Januar 1990 vollständig zurückgewiesen wird.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise, die Revision bezüglich des Zeitraums ab 1. April 1990 zurückzuweisen.
Sie meint, bei Anfechtungsklagen gegen einen Rentenentziehungsbescheid nach § 48 SGB X seien Änderungen, die nach Erlaß der angefochtenen Entscheidung eingetreten seien, aus Gründen der Prozeßökonomie zu berücksichtigen. Im übrigen sei das angefochtene Urteil höchstens für die Zeit bis zum 31. März 1990 zu beanstanden, weil insoweit der weitere Entziehungsbescheid vom 23. Februar 1990 maßgeblich sei. Dieser Bescheid sei nach § 96 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist begründet.
Der angefochtene Rentenentziehungsbescheid vom 26. Oktober 1988 ist rechtswidrig. Entgegen der Auffassung des LSG kann dieser Bescheid auch nicht mit der Maßgabe geändert werden, daß die Dauerrente erst zu einem späteren Zeitpunkt (hier mit Ablauf des Monats Juni 1989) entzogen wird.
Nach § 48 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung durch eine Verschlimmerung oder durch eine Besserung in den Unfallfolgen eingetreten ist. Eine Verschlimmerung oder Besserung bedeutet nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur dann eine wesentliche Änderung der Verhältnisse, wenn sich hierdurch der Grad der MdE um mehr als 5 vH senkt oder erhöht (BSGE 32, 245, 246; vgl auch die weiteren Nachweise bei Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 583 d/e). Ob eine wesentliche Änderung vorliegt, ist durch Vergleich der für die letzte bindend gewordene Feststellung maßgebenden Befunde mit denjenigen zu ermitteln, die bei der Prüfung der Neufeststellung vorliegen.
Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG), gegen die auch die Beklagte keine begründeten Einwendungen erhebt, hat sich bei der ärztlichen Untersuchung der Klägerin im August 1988 (Gutachten von Dr. R. … /Dr. B. … vom 23. September 1988) gegenüber den zur Feststellung der Dauerrente maßgebenden Befunden keine wesentliche Besserung der Unfallfolgen feststellen lassen. Dies hat das LSG dem Gutachten von Prof. Dr. K. … /W. K. … vom 7. September 1989 entnommen. Zum Entziehungszeitpunkt lag damit keine wesentliche Besserung der Unfallfolgen vor.
Entgegen der Auffassung der Beklagten kann die vom LSG für die Zeit ab Juni 1989 festgestellte wesentliche Besserung nicht zu der vom LSG getroffenen Entscheidung führen, den angefochtenen Entziehungsbescheid dahin zu ändern, daß die Dauerrente ab diesem Zeitpunkt entzogen werde. Maßgebend ist bei der Anfechtungsklage grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt, in dem der angefochtene Verwaltungsakt erlassen worden ist (BSGE 68, 228, 231 mwN). Bei der gerichtlichen Nachprüfung eines Rentenentziehungsbescheides wegen wesentlicher Besserung der Unfallfolgen und einer dagegen erhobenen Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG) kommt es somit, wie das SG zutreffend ausgeführt hat, in der Regel auf die Verhältnisse zur Zeit des Erlasses des Bescheides an. War der Bescheid zu diesem Zeitpunkt rechtswidrig, so kann bei einer nur gegen den Entziehungsbescheid gerichteten (sog reinen) Aufhebungsklage dieses Begehren nicht deswegen abgewiesen werden, weil eine später aufgrund neuer medizinischer Tatsachen durchgeführte Rentenentziehung rechtmäßig gewesen wäre (BSG Urteil vom 28. März 1979 – 4 RJ 27/78 – zur Entziehung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit bei Änderung in den Verhältnissen – § 1286 Abs 1 Satz 1 RVO aF; BSG Urteil vom 11. Februar 1981 – 2 RU 101/78 – HV-RdSchr VB 92/81 – Anlage – zur Herabsetzung einer nach § 587 Abs 1 RVO aF gewährten Vollrente auf eine Teilrente; Brackmann aaO S 240 b mwN; s auch Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫, NVwZ 1990, 653, 654 unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BVerwG).
Auf die Anfechtungsklage gegen einen Rentenentziehungsbescheid ist allein darüber zu entscheiden, ob dieser Bescheid zur Zeit seines Erlasses rechtswidrig war und ob der Kläger hierdurch beschwert ist. Durch eine erst später eingetretene Rechtsänderung oder wesentliche Änderung der Unfallfolgen wird ein zur Zeit des Erlasses rechtswidriger Verwaltungsakt in der Regel nicht nachträglich ab dem Eintritt der Änderung rechtmäßig (Brackmann aaO S 240 b I/II). Allerdings werden in der Rechtsprechung eine Reihe von Ausnahmen hiervon gemacht (vgl dazu BSGE 7, 129, 133 ff und 14, 71, 76 – Verwaltungsakte mit Dauerwirkung –; BSGE 68, 228, 231 mwN; s auch BVerwG aaO). Hier kommt eine solche Ausnahme nicht in Betracht: Der Rentenentziehungsbescheid der Beklagten vom 26. Oktober 1988 ist ein bereits vollzogener Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung (s Schroeder-Printzen/Wiesner, SGB X, 2. Aufl, § 48 Anm 2). Dieser Verwaltungsakt erschöpft sich mit dem Entzug der vormals bewilligten Leistung; sein Vollzug wird trotz der Klage sofort, dh mit Ablauf des im Bescheid genannten Zeitpunkts wirksam. Darin besteht der wesentliche rechtliche Unterschied zu der von der Revision als Vergleich herangezogenen Entziehung einer Zulassung als Kassenarzt. Eine Klage gegen die Entscheidung des Berufungsausschusses hat nicht nur nach § 97 Abs 1 Nr 4 SGG formell aufschiebende Wirkung, sondern der Arzt kann weiterhin als Kassenarzt tätig werden (KassKomm-Hess § 95 SGB V RdNrn 82 ff) und behält ua die von ihm während dieser Zeit erarbeitete Vergütung auch dann, wenn seine Klage erfolgslos bleibt. Demgegenüber hat die Klage gegen die Entziehung der Verletztenrente keine aufschiebene Wirkung, und bei einer Entscheidung nach § 97 Abs 2 Satz 1 SGG hätte die Versicherte die danach erhaltene Zahlung zurückzuerstatten, wenn die Klage keinen Erfolg hat. Der Anfechtungsklage kommt auch keine aufschiebende Wirkung zu. Der Entziehungsbescheid beruht schließlich nicht auf einer Rückwirkung eines Gesetzes (s BSG Urteil vom 11. Februar 1981 – 2 RU 101/78 – aaO).
Dieses Ergebnis steht auch im Einklang mit der von der Beklagten angeführten Rechtsprechung des BSG. In seinem Urteil vom 23. Februar 1960 (BSGE 12, 16, 18/19) hat der 10. Senat des BSG entschieden, daß nach § 62 Abs 2 Satz 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) die Versorgungsbehörden vor Ablauf der in dieser Vorschrift genannten Zweijahresfrist einen Minderungs- oder Entziehungsbescheid nicht erlassen dürfen. Hiervon ausgehend hat dieser Senat die Frage erörtert, ob ein deshalb rechtswidriger Verwaltungsakt nicht in einen solchen umzudeuten ist, der nach Ablauf der Zweijahresfrist wirksam wurde. Das BSG hat dazu entschieden, daß das verfrühte Tätigwerden der Verwaltung nicht ein solches zum richtigen Zeitpunkt umfaßt. Die weiteren Ausführungen in dieser Entscheidung zu einem Entziehungsbescheid, dessen materielle Voraussetzungen erst zu einem späteren Zeitpunkt eingetreten sind, enthalten keine dieses Urteil tragenden Rechtssätze.
In dem Urteil vom 28. April 1960 (BSGE 12, 127) hat der 8. Senat des BSG entschieden, daß bei einer Klage auf Aufhebung eines die Gewährung von Rente ablehnenden Bescheides und auf Verurteilung zur Gewährung von Leistungen die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bei einer Bestätigung des ablehnenden Bescheides auch darüber zu befinden haben, ob nicht von einem späteren Zeitpunkt an Leistungen zu gewähren sind, weil in der Zeit zwischen der Erteilung des Bescheides und dem Schluß der letzten mündlichen (Tatsachen-) Verhandlung die Voraussetzungen zur Gewährung von Leistungen erfüllt sind. Im Gegensatz zum vorliegenden Fall handelte es sich um einen Bescheid über die Ablehnung wiederkehrender Leistungen und einer hiergegen gerichteten Anfechtungs- und Leistungsklage. Bei dieser kombinierten Klageart kommt es auf die Sach- und Rechtslage zur Zeit des maßgebenden Urteils an (Brackmann aaO S 240 b II, 240 q III).
Ob dem weiteren von der Beklagten angezogenen Urteil des 4. Senats vom 5. Februar 1959 (BSGE 9, 151) Abweichendes zu entnehmen ist, bedarf hier keiner Entscheidung. Dieser Senat hat in dem bereits erwähnten späteren Urteil vom 28. März 1979 – 4 RJ 27/78 – entschieden, daß ein Rentenentziehungsbescheid in der Regel nach den Verhältnissen zur Zeit seines Erlasses nachzuprüfen ist.
Der von der Beklagten schließlich vorgebrachten Prozeßökonomie, die eine Beurteilung der Sach- und Rechtslage zur Zeit des Urteils gebiete, wird durch § 96 SGG hinreichend Rechnung getragen (Brackmann aaO S 240 b I). Es ist der Verwaltung zu überlassen, eine – im Klageverfahren angefochtene – Rentenentziehung im Hinblick auf spätere wesentliche Änderungen in den tatsächlichen Verhältnissen aufzuheben und unter Hinweis auf die veränderte Sach- und Rechtslage einen neuen Rentenentziehungsbescheid zu erlassen (s Brackmann aaO S 240 b I), der nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des anhängigen Streitverfahrens werden kann. Über einen solchen Bescheid, der auch noch während des Berufungsverfahrens erlassen werden kann, entscheidet das LSG nicht kraft Berufung, sondern kraft Klage (BSGE 18, 231, 234; Brackmann aaO S 242 t mwN).
Auch der Hinweis der Beklagten, das angefochtene Urteil sei zumindest insoweit nicht zu beanstanden, als es die Zeit ab 1. April 1990 betreffe, weil der weitere nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Verfahrens gewordene Rentenentziehungsbescheid vom 23. Februar 1990 zu berücksichtigen sei, führt zu keiner anderen Entscheidung. Den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist ein weiterer Entziehungsbescheid vom 23. Februar 1990 nicht zu entnehmen. Dieser – von der Beklagten mit ihrer Berufungsbegründung vom 28. März 1990 zu den Akten eingereichte – Bescheid ist davon abgesehen nicht Gegenstand des anhängigen Berufungsverfahrens nach § 96 Abs 1 SGG geworden, weil er „vorsorglich für den Fall und unter der Bedingung, daß wir im Rechtsstreit rechtskräftig unterliegen” ergangen ist. Ein unter dieser Bedingung erlassener Bescheid ändert weder den ursprünglichen Entziehungsbescheid vom 26. Oktober 1988 noch ersetzt er diesen iS des § 96 Abs 1 SGG (BSG SozR 1200 § 34 Nr 6; Meyer-Ladewig, SGG, 4. Aufl, § 96 RdNr 5; Dahm BG 1993, 258); es fehlt noch die den Verwaltungsakt kennzeichnende Regelung, die allenfalls erst für die Zeit nach Eintritt der Rechtskraft getroffen werden soll.
Der Entziehungsbescheid der Beklagten vom 26. Oktober 1988 ist somit rechtswidrig und damit aufzuheben; über etwa später eingetretene tatsächliche Änderungen war nicht zu entscheiden. Das Urteil des LSG war daher aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen