Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 08.04.1991) |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. April 1991 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Revisionsverfahren.
Tatbestand
I
Der im Dezember 1926 geborene Kläger, der im Monat nach Vollendung des 60. Lebensjahres aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist, bezog wegen Verlustes des rechten Unterschenkels Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH. Als Behinderung war zusätzlich eine leichte Hirnschädigung nach Hirnprellung festgestellt, die bei einem Teil-GdB von 30 den Gesamt-GdB auf 70 erhöhte. Der im Februar 1988 gestellte Antrag auf Berufsschadensausgleich (BSchA) ist abgelehnt worden; die Klage hatte keinen Erfolg (Bescheid vom 14. September 1988; Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 20. Dezember 1990). Das Landessozialgericht (LSG) hat der Klage stattgegeben, weil der Kläger nur durch die Kriegsbeschädigung Schwerbehinderter sei und von der Möglichkeit des Rentenbezugs als Schwerbehinderter Gebrauch gemacht habe. Allein hierauf komme es an; es sei nicht von den Gerichten zu ermitteln, welche Gründe für das Ausscheiden tatsächlich maßgeblich gewesen seien.
Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt, weil er der Auffassung ist, durch Sachverständigengutachten sei nachgewiesen, daß der Kläger nicht wegen des seit 1952 unverändert bestehenden Schädigungsleidens, sondern wegen des Hinzutritts gravierender Nichtschädigungsleiden aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei. In solchen Fällen indiziere der vorgezogene Ruhestand für Schwerbeschädigte kein schädigungsbedingtes Ausscheiden.
Der Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 20. Dezember 1990 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und auch aufgrund der medizinischen Beweiserhebung nicht für festgestellt, daß er wegen schädigungsunabhängiger Gesundheitsstörungen mindestens einen GdB um 50 vH erreicht oder als Berufs- oder Erwerbsunfähiger aus dem Erwerbsleben hätte ausscheiden dürfen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg. Das LSG hat dem Kläger zu Recht ab Antragstellung BSchA zugesprochen.
Nach § 30 Abs 3 und 4 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG), hier idF vom 22. Januar 1982 (BGBl I S 21) hat ein rentenberechtigter Beschädigter, dessen Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch die Schädigungsfolgen gemindert ist, einen Anspruch auf BSchA, wobei der Einkommensverlust sich aus dem Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen und dem höheren Vergleichseinkommen ergibt. Zwar ist grundsätzlich auch beim Ausscheiden eines 60jährigen Schwerbehinderten aus dem Erwerbsleben, der das vorgezogene Altersruhegeld (ARG) in Anspruch nimmt, vorgeschrieben, das Vergleichseinkommen um 25 vH zu kürzen (§ 30 BVG iVm § 8 Abs 1 Nr 2 der Berufsschadensausgleichsverordnung ≪BSchAV≫ vom 29. Juni 1984 – BGBl I 861). Beim Kläger ist das Vergleichseinkommen jedoch nicht auf 75 vH herabzusetzen, weil er glaubhaft gemacht hat, daß er ohne die Schädigung noch erwerbstätig wäre. Das ist stets dann als gegeben anzunehmen, wenn der Beschädigte allein wegen der Schädigungsfolgen schwerbeschädigt ist oder die Beschädigung im Zusammenhang mit anderen Behinderungen die Schwerbehinderteneigenschaft begründet, also jedenfalls ohne Schädigungsfolgen das Ausscheiden nicht möglich wäre (vgl Urteil des Senats vom 4. Juli 1989 – 9 RV 16/88 – zur Veröffentlichung vorgesehen, bestätigt in den Urteilen vom 6. Dezember 1989 – 9 RV 31/88 – und vom 12. Dezember 1990 – 9a/9 RV 3/89 –).
Die abweichende Entscheidung des Beklagten läßt sich auch nicht mit der versorgungsrechtlichen Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung begründen. Altersbedingtes Ausscheiden gilt nach § 30 Abs 6 Satz 1 Halbsatz 2 BVG grundsätzlich nicht als Nachschaden, bewirkt also – entgegen Halbsatz 1 -kraft Gesetzes eine Minderung des Bruttoeinkommens aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit, die als schädigungsbedingt gilt. Das Vergleichseinkommen ist nach der BSchAV lediglich deshalb zu kürzen, weil auch Erwerbstätige ohne Schädigungsfolgen regelmäßig bei altersbedingtem Ausscheiden eine Erwerbsminderung erleiden. Dies trifft aber gerade für solche 60jährigen nicht zu, die nur als Schwerbehinderte in den Rentenbezug wechseln können. Bei ihnen sind die Schädigungsfolgen über die rentenrechtlichen Bestimmungen wesentliche Bedingung des Rentenbezugs. Aus diesem Grund ist es auch unerheblich, ob sonstige Behinderungen, altersbedingte Beschwerden und Erkrankungen, ein Ausscheiden ermöglicht hätten. Diese Behinderungen werden tatsächlich nicht ursächlich, solange sie nicht anerkannt sind. Denn zum vorzeitigen Rentenbezug berechtigen nur anerkannte Behinderungen; zwar mag es vorkommen, daß die Anerkennung später und mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Antragstellung noch nachfolgt (vgl die Nachweise bei Kass-Komm-Niesel § 1248 RVO RdNr 6). Dies darf berücksichtigt werden; die nach § 8 Satz 3 BSchAV erforderliche Glaubhaftmachung gelingt dann nicht. Ohne Antrag und ohne nachfolgende Anerkennung können aber Behinderungen nicht zur wesentlichen Ursache des Ausscheidens erklärt werden, die tatsächlich für den Rentenbezug ohne Bedeutung sind.
Zwar ist dem Beklagten in Übereinstimmung mit dem Rundschreiben des BMA vom 31. Oktober 1991 (VIa 1-5355 – Sozialrecht und Praxis 1992 S 179) darin zu folgen, daß der Beweiserleichterungsgrundsatz des § 8 Satz 3 BSchAV die Führung eines Gegenbeweises nicht schlechthin ausschließt, wenn konkrete Indizien für ein schädigungsunabhängiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben sprechen. Alterskrankheiten, die weder zur Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit noch zu einer anerkannten Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz geführt haben, sind aber gerade keine brauchbaren Indizien. Sie begleiten den Regelfall, bleiben nach § 8 Satz 3 BSchAV außer Betracht, weil die Schädigungsfolgen in Zusammenwirken mit dem Alter und den altersüblichen Behinderungen die Berufsaufgabe, dh den Wechsel in den Rentenbezug auslösen, ohne daß eine eindeutige Abgrenzung und Gewichtung der Gründe möglich erscheint. Das System des Rentenrechts ermöglicht jedem Schwerbehinderten, der langjährig versicherungspflichtig beschäftigt war, das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und den Zugang zur Vollrente, ohne daß geprüft wird, ob die Schwerbehinderung eine Berufsaufgabe erzwingt oder überhaupt rechtfertigt, ob also Berufs- oder Erwerbsfähigkeit gegeben ist. Das Rentenrecht mutet keinem Schwerbehinderten Berufstätigkeit über das 60. Lebensjahr hinaus zu (§ 1248 RVO = § 37 Sozialgesetzbuch – Sechster Teil – ≪SGB VI≫). Diesen rentenrechtlichen Tatbestand legt auch § 8 BSchAV als Vorgabe zugrunde; deshalb ist die Ursache für die Befugnis zum Ausscheiden nach Rentenrecht zugleich für das Versorgungsrecht maßgebliche Ursache der Berufsaufgabe. Wesentlich sind allein Alter und Schwerbehinderung. Sofern die Schwerbehinderung zugleich Schädigungsfolge ist, wird damit auch eine wesentliche Ursache im Sinne des Versorgungsrechts gesetzt.
Soweit der Beklagte die Zahlung des BSchA deshalb ablehnt, weil der Kläger neben dem Renteneinkommen eine Zusatzversorgung aus dem öffentlichen Dienst bezieht, so daß sich sein Nettoeinkommen durch das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nicht gemindert hat, ist das verständlich, rechtlich jedoch ohne Folgen. Das beruht auf der eigenständigen Definition des Einkommensverlustes als dem Unterschiedsbetrag zwischen dem ungekürzten Bruttobetrag des Vergleichseinkommens mit dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus früherer Tätigkeit. Dabei berücksichtigt das Gesetz in § 30 BVG nicht, ob das derzeitige Einkommen ein Nettobetrag ist – was bei gesetzlichen Renten stets der Fall ist. Der BSchA gleicht dann wegen der gesetzlich vorgeschriebenen Berechnung einen nicht vorhandenen Einkommensverlust aus. Wer schädigungsbedingt ausscheidet und als Rentner ein höheres Nettoeinkommen als zur Zeit seiner früheren Berufstätigkeit erzielt, kann dennoch BSchA erhalten. Das Gesetz wirkt sich somit dahin aus, daß bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben eine schädigungsbedingte Einkommenseinbuße auch in Fällen unterstellt wird, in denen feststeht, daß das Ausscheiden zu einer Erhöhung des Nettoeinkommens geführt hat. Dieses Ergebnis ist durch die Rechtsprechung nicht zu korrigieren. Der klare Wortlaut des Gesetzes läßt keine andere Auslegung zu. Denn es handelt sich nicht um unerkannte Lücken. Dem Gesetzgeber standen die Fälle der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst und die Betriebsrenten vor Augen. Das Bruttoprinzip galt auch nicht nur im hier maßgeblichen Jahr 1988, sondern ist in der Fassung des § 30 BVG durch das Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (vom 18. Dezember 1989 ≪BGBl I 2261≫) und durch das KOV-Strukturgesetz (vom 23. März 1990 ≪BGBl I S 582≫) beibehalten worden; dabei ist sein Zweck, nämlich die Begünstigung der Beschädigten noch stärker hervorgehoben worden: das Nettoprinzip beim BSchA ist nicht zur Annäherung der Schadensberechnung an die Lebenswirklichkeit, sondern nur für die Fälle eingeführt worden, in denen es sich für die Beschädigten als günstiger erweist (§ 30 Abs 3 letzter Satzteil iVm Abs 6 und Abs 10 BVG nF). Es ist auch nicht möglich, ein sachgerechtes Ergebnis im Einzelfall unter Hinweis auf mißbräuchliche Rechtsanwendung zu erzielen. Denn die Vorschriften über den BSchA sind in höchstem Maße abstrakt gefaßt. Sind ihre Voraussetzungen erfüllt, sind grundsätzlich keine Einwände aus der Wirklichkeit erlaubt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen