Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 20.06.1989) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 1989 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten auch des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist die Gewährung von Bundeserziehungsgeld für die Zeit vom 29. Mai 1986 bis zum 28. März 1987.
Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger und Kurde jezidischen Glaubens, reiste nach einem ersten Inlandsaufenthalt von 1979 bis März 1981 erneut am 11. November 1985 zusammen mit seiner Ehefrau und fünf Kindern ohne Erlaubnis in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Die vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 11. März 1987 ausgesprochene Anerkennung als Asylberechtigter wurde durch Urteil des Verwaltungsgerichts Minden (8 K 10.508/87) vom 14. März 1988, rechtskräftig seit dem 24. Mai 1988, aufgehoben. Die zuvor angedrohte Abschiebung wurde von der Ausländerbehörde seit dem 24. August 1988 laufend, jeweils befristet, ausgesetzt (Duldung iS von § 17 Abs 1 des Ausländergesetzes -AuslG-). Der Kläger erhält für sich und seine Familie Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG).
Sein Antrag, ihm für das am 29. Mai 1986 geborene Kind Sönmez Bundeserziehungsgeld zu gewähren, lehnte das beklagte Land mit Bescheid 1) vom 8. Juli 1986 ab. Hiergegen hat der Kläger keinen Rechtsbehelf eingelegt. Den im Februar 1987 erneut gestellten Antrag lehnte das beklagte Land mit dem streitigen Bescheid 2) vom 27. Februar 1987, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 13. April 1987 ab, weil der Bescheid 1) rechtmäßig gewesen sei; denn der Kläger habe entgegen § 1 Abs 1 Nr 1 des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG) weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes gehabt.
Der Kläger, der am 15. Mai 1987 hiergegen Klage erhoben hat, stellte im August 1988 erneut einen Antrag auf Überprüfung der Ablehnung seines Begehrens, der mit dem streitigen Bescheid 3) vom 7. Oktober 1988 abgelehnt wurde. Hiergegen legte er am 4. November 1988 Widerspruch ein.
Das Sozialgericht (SG) Detmold hat durch Urteil vom 20. Dezember 1988 den streitigen Bescheid 2) idF des Widerspruchsbescheides aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger Erziehungsgeld ab 29. Mai 1987 zu gewähren. Auf die – vom SG zugelassene – Berufung des beklagten Landes hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 20. Juni 1989). Das Berufungsgericht ist der Auffassung, die Bescheide 1) bis 3) seien rechtmäßig, weil der Kläger weder als Asylberechtigter anerkannt worden sei noch während des laufenden Verfahrens mit einem positiven Ausgang des Asylverfahrens rechnen konnte noch unabhängig von dem Asylverfahren auf nicht absehbare Zeit im Bundesgebiet habe verbleiben dürfen.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG und von § 30 Abs 3 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I). Er habe zu keinem Zeitpunkt damit rechnen müssen, das Bundesgebiet wieder verlassen zu müssen, also hier auf nicht absehbare Zeit verbleiben können. Er habe deswegen schon im streitigen Leistungszeitraum seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BErzGG gehabt. Wegen des Vorbringens des Klägers im übrigen wird auf seinen Schriftsatz vom 26. September 1989 Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
„das Urteil des Landessozialgerichts vom 20. Juni 1989 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger für das Kind Sönmez, geboren am 29. Mai 1986, Erziehungsgeld ab dem 29. Mai 1986 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.”
Das beklagte Land beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Es hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Für das weitere Vorbringen des beklagten Landes wird auf dessen Schriftsätze vom 7. Dezember 1989 und vom 21. Dezember 1989 Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Er hat keinen Anspruch auf Gewährung von Bundeserziehungsgeld für die Erziehung seines Kindes Sönmez in der Zeit vom 29. Mai 1986 bis zum 28. März 1987.
Wie das LSG zutreffend erkannt hat, ist nicht nur der Bescheid 2) in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. April 1987, sondern auch der Bescheid 3) gemäß § 96 Abs 1 SGG Gegenstand der Klage, weil der Beklagte darin während des Klageverfahrens über dasselbe Begehren des Klägers entschieden hat, über das er bereits mit dem Bescheid 2) befunden hatte, nämlich darüber, ob der Bescheid 1) gemäß § 44 Abs 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) zurückzunehmen und durch die vom Kläger begehrte Bewilligung von Bundeserziehungsgeld zu ersetzen ist.
Die streitigen Bescheide 2) und 3) sind schon deswegen rechtmäßig, weil das beklagte Land in dem Bescheid 1) die Gewährung von Bundeserziehungsgeld zu Recht abgelehnt hat. Gemäß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, mit dem über die Gewährung von Sozialleistungen entschieden worden ist (hier: der Bescheid 1), unter weiteren Voraussetzungen nur dann zurückzunehmen, wenn er bei seinem Erlaß rechtswidrig war. Dies trifft auf den Bescheid 1) nicht zu, weil der Kläger im streitigen Zeitraum die Voraussetzungen für die Gewährung von Bundeserziehungsgeld nicht erfüllt hat.
Nach § 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG (idF vom 6. Dezember 1985 – BGBl I S 2154) hat Anspruch auf Erziehungsgeld, wenn weitere Voraussetzungen erfüllt sind, nur, wer einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat. Durch das Gesetz zur Änderung des BErzGG und anderer Vorschriften vom 30. Juni 1989 (BGBl I S 1297) ist an § 1 Abs 1 BErzGG mit Wirkung vom 1. Juli 1989 (Art 8 Abs 1 des vorgenannten Änderungsgesetzes) folgender Satz 2 angefügt worden: „Für den Anspruch eines Ausländers ist Voraussetzung, daß er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis ist, die nicht nur für einen bestimmten, seiner Natur nach vorübergehenden Zweck erteilt worden ist”. Diese Anfügung des Satzes 2 enthält keine inhaltliche Änderung des bis dahin geltenden Rechts, sondern eine Klarstellung, uU sogar eine authentische Interpretation des seit dem 1. Januar 1986 anzuwendenden Rechts (ständige Rechtsprechung des Senats seit dem Urteil vom 27. September 1990 – 4 REg 30/89, zur Veröffentlichung vorgesehen; zuletzt Urteil vom 28. Februar 1991 – 4 REg 47/89; BT-Drucks 11/4767 S 2). Art 10 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts (AuslRNG) vom 9. Juli 1990 (BGBl I S 1354) hat diese Neufassung des Satzes 2 aaO zur Anpassung an die Neuregelung der Aufenthaltsgenehmigung (Art 1 §§ 28 bis 35 AuslRNG) mit Wirkung vom 1. Januar 1991 (Art 15 Abs 2 AuslRNG) wie folgt geändert: „Für den Anspruch eines Ausländers ist Voraussetzung, daß er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung, Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis ist”. § 1 Abs 1 Satz 2 BErzGG ist jedoch in keiner dieser Fassungen anzuwenden, weil der mögliche Leistungszeitraum vor dem 1. Juli 1989, nämlich in den Jahren 1986/87 liegt.
In diesem Zeitraum hatte der Kläger weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes:
Der Senat hat bereits in seinem og Urteil vom 27. September 1990, das den Beteiligten bekannt ist (vgl schon das Urteil vom 14. September 1989, BSGE 65, 261, 26 f = SozR 7933 § 1 Nr 7), im einzelnen dargelegt, daß § 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG – abgesehen von hier nicht einschlägigen Spezialregelungen zB in § 1 Abs 2 und 4 BErzGG – alle Personen ungeachtet ihrer (deutschen oder ausländischen) Staatsangehörigkeit von der Begünstigung durch Bundeserziehungsgeld ausschließt, die entweder den Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse tatsächlich (faktisch) im Ausland haben oder aber deren uU ausschließliches und zeitlich andauerndes Wohnen bzw Verweilen im Inland von der Rechtsordnung materiell-rechtlich nur als vorübergehend, auf Beendigung angelegt und somit rechtlich nur als nicht beständig gebilligt wird. Denn Bundeserziehungsgeld sollen nur diejenigen erhalten, die bei der Erziehung eines Kindes den Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse materiell berechtigt dauerhaft im Inland haben. Der Senat hat ferner aufgezeigt, daß § 30 Abs 3 SGB I zwar die Begriffskerne von „Wohnsitz” und „gewöhnlichen Aufenthalt” iS des SGB enthält, diese Begriffe aber nicht abschließend bestimmt. Sie sind nach Sinn und Zweck desjenigen Gesetzes „einzufärben”, in dem sie verwendet werden oder das auf § 30 Abs 3 SGB I verweist. § 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG ist eine leistungsrechtliche Spezialregelung (§ 37 Satz 1 Halbs 1 SGB I) zu § 30 Abs 1 SGB I, wonach alle, auch die nicht leistungs-, dh eingriffsrechtlichen Vorschriften dieses Gesetzbuches für alle Personen gelten, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Geltungsbereich haben. Der spezielle Zweck von § 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG besteht darin, als sog einseitige Kollisionsnorm diejenigen Personen von der Anwendung des BErzGG auszunehmen, die entweder den Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse im Ausland haben oder deren Verweilen im Inland wegen einer konkreten Auslandsbeziehung rechtlich nur vorübergehender Natur ist. Hält sich ein Erziehender – wie hier der Kläger – langdauernd im Inland auf, ist in Rechnung zu stellen, daß er als ausländischer Staatsbürger grundsätzlich unter Schutz und Fürsorge (Personalhoheit) seines Heimatstaates steht und jederzeit nach freiem Willen das Recht ausüben kann, dorthin zurückzukehren, ferner, daß – außer bei anerkannten Asylberechtigten (Art 16 Abs 2 Satz 2 des Grundgesetzes -GG; dazu: BSGE 65, 261 = SozR 7933 § 1 Nr 7) – sein Inlandsaufenthalt nach materiellem Ausländerrecht (§ 2 AuslG) solange unberechtigt bzw nicht als dauerhaft gebilligt ist, bis ihm eine Aufenthaltserlaubnis (Aufenthaltsberechtigung; ab 1. Januar 1991 auch eine Aufenthaltsbefugnis) erteilt wird, die sein andauerndes Verweilen im Inland erlaubt. Solange der Ausländer nicht im Besitz einer solchen Erlaubnis oder hiervon befreit ist, hat er kraft unmittelbarer, keines ausführenden Verwaltungsaktes bedürftiger gesetzlicher Anordnung (§ 12 Abs 1 AuslG) „den Geltungsbereich dieses Gesetzes unverzüglich zu verlassen”. Dies gilt auch dann, wenn die Ausländerbehörde nach § 17 AuslG seinen Aufenthalt duldet, dh die Abschiebung und damit die Vollstreckung des gesetzlichen Ausreisegebots aussetzt.
Der Kläger hatte im entscheidungserheblichen Zeitraum keinen gewöhnlichen Aufenthalt (bzw Wohnsitz) im Geltungsbereich des BErzGG, weil er weder als Asylberechtigter anerkannt ist noch eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung hatte. Ihm war gemäß § 19 Abs 1 iVm § 20 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) der Aufenthalt lediglich zur Durchführung des Asylverfahrens und damit nur zu einem vorübergehenden Zweck, rechtlich also nicht beständig, gestattet. Darauf, daß die Ausländerbehörde seine Pflicht, das Inland zu verlassen, nicht durchgesetzt hat (Duldung), kommt es – wie ausgeführt – nicht an.
Nach alledem war die Entscheidung des Berufungsgerichts im Ergebnis zu bestätigen und die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen