Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. April 1997 aufgehoben.
Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über den Anspruch des Klägers auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Der Kläger wurde in der Nacht vom 1. auf den 2. Januar 1991 von dem Täter R. eine Treppe hinuntergestoßen und dabei schwer verletzt. Das beim Sturz erlittene Schädelhirntrauma hat zu einem hirnorganischen Psychosyndrom mit spastischer Halbseitenlähmung links und zu epileptischen Anfällen als Ausdruck einer symptomatischen Epilepsie geführt. R. ist wegen schwerer Körperverletzung in einem minderschweren Fall (§§ 223, 224 Abs 1 und 2 Strafgesetzbuch) zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt worden (Urteil vom 18. Dezember 1991).
Nach den vom Landessozialgericht (LSG) wiedergegebenen Feststellungen im Strafurteil hat der Kläger am Abend des 1. Januar 1991 zusammen mit anderen, darunter R., in einer Gaststätte Alkohol getrunken. In der Stunde vor Mitternacht, als beide angetrunken waren, kam es zwischen dem Kläger und R. zu Differenzen, die verbal und – durch Gerangel und Geschubse – körperlich ausgetragen wurden. Kurz vor Mitternacht verließ der Kläger zusammen mit R. den Gastraum des Lokals. Im Vorraum der Gaststätte packte R. den Kläger an der Kleidung und stieß ihn die vierstufige Ausgangstreppe zur Straße hinunter. Der Kläger stand auf, ging die Treppe hinauf und stellte sich wieder neben R. Dieser stieß ihn erneut hinunter. Dieses Mal blieb der Kläger schwerverletzt am Fuß der Treppe liegen.
Der Beklagte lehnte es ab, den Kläger als Gewaltopfer zu entschädigen (Bescheid vom 11. November 1992; Widerspruchsbescheid vom 3. Dezember 1992), weil er die Schädigung mitverursacht habe, indem er sich auf eine tätliche Auseinandersetzung mit R. eingelassen habe. Im übrigen sei eine Versorgung nach dem OEG hier unbillig. Denn der Kläger habe sich leichtfertig in Gefahr begeben.
Die Klage hatte keinen Erfolg (Urteil vom 12. Januar 1995). Das LSG hat dagegen den Beklagten auf die Berufung des Klägers verurteilt, diesem dem Grunde nach Versorgungsleistungen zu gewähren (Urteil vom 15. April 1997). Der Anspruch auf Entschädigung als Gewaltopfer sei nicht ausgeschlossen. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, des Strafgerichts und nach der Beweisaufnahme im sozialgerichtlichen Berufungsverfahren lasse sich nicht feststellen, daß der Kläger den R. zur Tat provoziert und seine eigene Schädigung dadurch mitverursacht habe. Auch die tatsächlichen Voraussetzungen für eine anspuchsausschließende Selbstgefährdung hätten sich nicht feststellen lassen. Es bleibe letztlich offen, ob vor der Tat überhaupt eine Auseinandersetzung zwischen R. und dem Kläger stattgefunden habe und, wenn das der Fall gewesen sein sollte, ob die Streitenden sie nicht vor dem Hinausgehen aus der Gaststätte bereits beendet hätten. Die Beweislosigkeit gehe zu Lasten des Beklagten, der sich auf die Gegennorm des § 2 Abs 1 OEG berufe.
Der Beklagte macht mit der Revision geltend, der Kläger habe die Schädigung mitverursacht (§ 2 Abs 1 OEG), weil er sich den ersten Sturz nicht habe zur Warnung dienen lassen. Er habe sich erneut oben an der Treppe neben R. gestellt und damit in hohem Maße vernunftwidrig gehandelt.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. April 1997 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 12. Januar 1995 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angegriffene Urteil für zutreffend und trägt vor, ihm sei angesichts der Jahres- und Tageszeit gar nichts anderes übrig geblieben, als wieder die Treppe hochzugehen, zumal er 20 km vom Tatort entfernt wohne und er seine Sachen aus der Gaststätte habe holen müssen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist iS der Zurückverweisung begründet. Das LSG hat zwar zu Recht angenommen, daß der Kläger infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs eine gesundheitliche Schädigung erlitten und deshalb wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung Anspruch auf Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes hat (§ 1 Abs 1 OEG). Das LSG hat allerdings weiter angenommen, der Anspruch sei nicht nach § 2 Abs 1 erste Alternative OEG ausgeschlossen, weil der Kläger, anders als dort gefordert, seine Schädigung nicht (mit)verursacht habe. Ob das zutrifft, läßt sich nach den vom LSG getroffenen Feststellungen nicht abschließend entscheiden.
Der Beklagte rügt zu Recht, das LSG habe entgegen § 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) seiner Entscheidung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde gelegt. Im angefochtenen Urteil sei nicht berücksichtigt, daß der Kläger sich nach dem ersten Sturz wieder neben den am Kopf der Treppe stehenden R. gestellt habe. Dieser Vorwurf trifft zu.
Das Berufungsurteil würdigt lediglich, daß der Kläger die Treppe zur Gaststätte wieder hinaufgestiegen ist und führt dazu als Begründung aus: Der Kläger habe sich nicht leichtfertig in eine risikoreiche Situation begeben. Der Gehweg vor der Gaststätte sei nur schmal, und der Kläger habe sich deshalb zwangsläufig vor dem zur Tatzeit regen Autoverkehr auf der vorbeiführenden Straße in Sicherheit bringen müssen. Damit hat das LSG aber nur erklärt, weshalb der Kläger nicht draußen bleiben konnte, sondern in die Gaststätte zurückkehren mußte. Unberücksichtigt und unerklärt bleibt der Umstand, daß der Kläger eben nicht in die Gaststätte gegangen, sondern sich im Vorraum neben den gewalttätigen R. gestellt hat, der ihn gerade eben die Treppe hinuntergestoßen hatte.
Anders als der Beklagte vermag der Senat hierin allein allerdings noch nicht ohne weiteres einen Umstand zu erkennen, auf den sich der Vorwurf leichtfertiger Selbstgefährdung (zum Begriff der Leichtfertigkeit siehe das Senatsurteil vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 6/97 R – zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen) stützen ließe, so daß der Anspruch auf Entschädigung als Gewaltopfer ausgeschlossen wäre. Dies könnte nur angenommen werden, wenn der Angriff des Täters mit dem erstmaligen Hinunterstoßen nicht beendet gewesen sein sollte, das Opfer mit weiteren Tätlichkeiten hätte rechnen müssen und ihm ein Ausweichen möglich und zumutbar gewesen wäre. Erst dann hätte der Kläger – wie von der Rechtsprechung für eine Leistungsversagung wegen Unbilligkeit bereits gefordert (BSGE 50, 95, 98 = SozR 3800 § 2 Nr 2; SozR 3800 § 2 Nr 6) – in hohem Maße vernunftwidrig gehandelt und es in grob fahrlässiger Weise unterlassen, einer höchstwahrscheinlich zu erwartenden Gefahr auszuweichen. Ob dies der Fall gewesen ist, wird das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren aufzuklären haben. Dabei wird einmal die Aussage des vom LSG bereits gehörten Zeugen K. … zu berücksichtigen sein, der die Lage als so gefährlich eingeschätzt hat, daß er R. durch einen Zuruf vom Kläger abzulenken suchte. Zum anderen drängt es sich auf, den bisher unvernommenen Täter R. als Zeugen zu hören. Er war am Geschehen unmittelbar beteiligt, hat als bereits verurteilter Straftäter kein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 202 SGG iVm § 384 Nr 2 Zivilprozeßordnung (ZPO) mehr (vgl BVerfG MDR 1985, 464 f) und ist, anders als bei seiner Äußerung zur Sache im Strafverfahren, nunmehr zu einer wahrheitsgemäßen Aussage verpflichtet, sofern er auch kein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 202 SGG iVm § 384 Nr 1 ZPO haben oder davon keinen Gebrauch machen sollte. Je nach dem Inhalt einer möglichen Aussage und nach der Glaubwürdigkeit des Zeugen R. wird das LSG ggf auch zu prüfen haben, ob der Kläger nach einer durch den ersten Treppensturz – zunächst – beendeten Auseinandersetzung den R. zum weiteren Angriff provoziert hat.
Sollte auch nach dem Ergebnis dieser noch anzustellenden Ermittlungen offen bleiben, ob der Kläger sich leichtfertig selbst gefährdet hat, so wären die Voraussetzungen der Gegennorm des § 2 Abs 1 1. Alternative OEG nicht nachgewiesen und deshalb wäre der Anspruch auf Versorgung nicht ausgeschlossen. Denn die Beweislast dafür, daß der Tatbeitrag des Gewaltopfers wesentlich mitursächlich für die Schädigung war, trifft den Versorgungsträger (BSGE 78, 270, 272 = SozR 3-3800 § 2 Nr 4).
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen
Haufe-Index 1175973 |
SGb 1999, 27 |