Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenkasse. Zahlung. Risikostrukturausgleich. Versicherter. Beitragshöhe. Rechtsschutzinteresse. Verletzung. Verfassungsmäßigkeit. Gemeinschaftsrecht. Solidargemeinschaft
Leitsatz (amtlich)
Das Mitglied einer Krankenkasse wird nicht in einem Grundrecht verletzt, wenn sein Beitrag wegen Zahlungen seiner Kasse in den Risikostrukturausgleich erhöht wird.
Normenkette
SGB V § 266 Abs. 1, § 267; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4; EGVtr; EG
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. Januar 2000 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger wendet sich gegen die Erhöhung seines Krankenversicherungsbeitrags.
Der Kläger ist freiwilliges Mitglied der beklagten Krankenkasse. Als diese zum 1. Januar 1994 ihre Beitragssätze erhöhte, stieg der Beitrag des Klägers von monatlich 594 DM auf 690 DM. Der Kläger widersprach der Beitragserhöhung, weil diese im Wesentlichen auf den Risikostrukturausgleich (RSA) zurückzuführen und dieser mit dem Grundgesetz (GG) unvereinbar sei. Die Beklagte erteilte ihm zur Beitragserhöhung den Bescheid vom 23. Juni 1994. Die Anhebung des Beitragssatzes von 11,0 vH auf 12,1 vH und damit des Beitrages entspreche den gesetzlichen Vorschriften. Sie sei notwendig gewesen, um die vorgeschriebenen Ausgaben – insbesondere im Rahmen des RSA – zu decken. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 2. September 1994).
Der Kläger hat mit dem Antrag Klage erhoben, den Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufzuheben. Der RSA verstoße gegen Art 3 Abs 1, Art 14 Abs 1 und Art 20 GG sowie gegen europäisches Wettbewerbsrecht. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 13. Mai 1997 abgewiesen. Die Beklagte sei nach § 21 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV) zur Beitragserhöhung verpflichtet gewesen. Der Kläger könne sich nicht auf eine mögliche Unvereinbarkeit des RSA mit höherrangigem Recht berufen. Die Klärung dieser Frage sei den Krankenkassen im Verfahren mit dem Bundesversicherungsamt (BVA) vorbehalten.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 27. Januar 2000 zurückgewiesen. Die Beitragsfestsetzung entspreche den maßgeblichen Vorschriften und der Belastung der Beklagten durch den RSA. Dieser sei mit dem GG und europarechtlichen Vorschriften vereinbar.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des Art 2 Abs 1, des Art 3 Abs 1 und des Art 20 Abs 1, 3 GG. Durch die Einführung des RSA würden die Rahmenbedingungen der Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) grundlegend verändert. Dies sei ein unverhältnismäßiger Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit, weil zum Ausgleich der Folgen einer unterschiedlichen Mitgliederstruktur der Krankenkassen mildere Mittel zur Verfügung stünden. Zusätzlich bestehe eine Ungleichbehandlung zu seinem Nachteil darin, dass nur bestimmte risikorelevante Faktoren im RSA Berücksichtigung fänden, während erhöhte Morbidität, Schwerstrisiken, besonderes Nachfrageverhalten und regional ungünstige Kostenstrukturen nicht ausgeglichen würden. In der Verwendung alter und unvollständiger Daten liege zugleich auch eine Verletzung des Rechtsstaatsgebots, da es hierdurch zu einer Verzerrung des vom Gesetzgeber beabsichtigten Wettbewerbs zum Nachteil einzelner Kassen komme.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG vom 27. Januar 2000, das Urteil des SG vom 13. Mai 1997 und den Bescheid der Beklagten vom 23. Juni 1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 2. September 1994 aufzuheben,
hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie müsse die Zahlungen, zu denen sie im RSA verpflichtet sei, bei der Bemessung der Beitragssätze und damit der Beiträge berücksichtigen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, dass die Beklagte zum Ausgleich ihrer Verpflichtungen aus dem RSA die Beiträge erhöhen durfte.
1. Die Anfechtungsklage ist iS des § 54 Abs 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Der Kläger behauptet, durch die vorgenommene Beitragserhöhung in seinen Rechten verletzt zu sein. Die Auskehrung der gezahlten Versicherungsbeiträge ist weder im Vorverfahren noch in den Vorinstanzen begehrt worden. Das Fehlen eines entsprechenden Leistungsantrags lässt das Rechtsschutzbedürfnis für die Anfechtungsklage nicht entfallen (vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫ SozR 3-2500 § 217 Nr 1).
Das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers fehlt nicht deswegen, weil sich das Begehren des Klägers nicht auf die Aufhebung des angefochtenen Bescheids beschränkt, sondern auch auf die verfassungsrechtliche Überprüfung des RSA gerichtet ist. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat zwar in der Vergangenheit betont, dass sich auf dem Umweg über den Sozialgerichtsprozess nicht jedermann “zum Wächter über die objektive Verfassungsordnung” bestellen könne (BVerfGE 67, 26, 37 = SozR 1500 § 54 Nr 60 S 54). Deshalb haben Versicherte aus dem Mitgliedschaftsverhältnis keine Klagebefugnis hinsichtlich der Unterlassung einer bestimmten Mittelverwendung, soweit nicht über die Beitragspflicht hinaus in ihre Grundrechte eingegriffen wird (BVerfGE 78, 320 = SozR 1500 § 54 Nr 86; vgl auch BSGE 60, 248 = SozR 1500 § 54 Nr 67; BSGE 57, 184 = SozR 2200 § 385 Nr 10, Verfassungsbeschwerde nicht angenommen: BVerfG 1. Senat 2. Kammer 30. April 1986 – 1 BvR 218/85; jeweils zur Finanzierung nicht strafbarer Schwangerschaftsabbrüche durch die GKV). Der verfassungsrechtlich gebotene Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 GG) gegen eine ungerechtfertigte Belastung mit Beiträgen wird jedoch dadurch gewahrt, dass der Versicherte anhand eines konkreten Beitragsbescheids inzidenter die als verfassungswidrig angesehenen Bestimmungen überprüfen lassen kann (vgl BSGE 71, 42 = SozR 3-2500 § 87 Nr 4 zur Inzidentprüfung untergesetzlicher Bestimmungen). Insoweit trifft die Gerichte die Verpflichtung, das von ihnen im Rahmen der Gesetzesbindung (Art 20 Abs 3 GG) anzuwendende einschlägige Recht auf seine Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, insbesondere Verfassungsrecht, zu überprüfen und gegebenenfalls nach Art 100 Abs 1 GG eine Vorlage an das BVerfG zu beschließen (von Oertzen in Redeker/von Oertzen, VwGO, 13. Aufl 2000, § 1 RdNr 6 ff; Geiger in Eyermann/Fröhler, VwGO, 11. Aufl 2000, § 1 RdNr 10; Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl 2002, § 51 RdNr 87). Dementsprechend haben BVerfG und BSG wiederholt eine Klagebefugnis des einzelnen Versicherten angenommen, wenn er sich gegen die Höhe seiner Beiträge wandte und seine Klage auf die Behauptung stützte, die der Beitragsberechnung zu Grunde gelegten Normen seien verfassungswidrig (in Abgrenzung zu den og Urteilen: BSG SozR 3-1500 § 54 Nr 1 zur Klage gegen eine Erhöhung des Beitragssatzes; s auch BSGE 58, 134 = SozR 2200 § 385 Nr 14 zur Verfassungsmäßigkeit unterschiedlicher Beitragssätze in der GKV; nachgehend BVerfGE 89, 365 = SozR 3-2200 § 385 Nr 4; BSG SozR 2200 § 1385 Nr 16 zur Erhöhung des Beitragssatzes der Rentenversicherung und anschließender Kammerbeschluss des BVerfG SozR 2200 § 1385 Nr 17; BSGE 81, 276 = SozR 3-2600 § 158 Nr 1 zu versicherungsfremden Leistungen und anschließender Kammerbeschluss des BVerfG SozR 3-2600 § 158 Nr 2). Danach ist auch hier die Klagebefugnis anzunehmen, weil der Kläger nicht die Unterlassung der Ausgleichszahlungen im RSA durch die Beklagte begehrt, sondern eine Verletzung seiner Grundrechte durch die Beitragsfestsetzung unter Berücksichtigung der Ausgleichszahlungen der Beklagten im RSA geltend macht.
2. Der Bescheid vom 23. Juni 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. September 1994 verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
a) Der angefochtene Bescheid entspricht, was der Kläger nicht bezweifelt, der Satzung der Beklagten. Nach § 11 Abs 1 der Satzung vom 1. April 1989 idF des 15. Nachtrags galt ab dem 1. Januar 1994 für Mitglieder ein allgemeiner Beitragssatz von 12,1 vH der beitragspflichtigen Einnahmen. Dieser war nach § 12 Abs 1, 3 und 4 der Satzung auch auf freiwillige Mitglieder der Beitragsklasse 621 (Angestellte und Arbeiter nach Überschreitung der Jahresarbeitsentgeltgrenze mit Krankengeldanspruch) anzuwenden, wobei als monatliche beitragspflichtige Einnahme ein Betrag in Höhe der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze galt. Dies entspricht dem im angefochtenen Bescheid geforderten Beitrag von 690 DM monatlich.
b) Der Beitragsbescheid ist nicht wegen eines Verstoßes der Satzung gegen einfaches Gesetzesrecht rechtswidrig. Insbesondere wurde der 15. Nachtrag zur Satzung der Beklagten vom 1. April 1989 mit der angefochtenen Beitragsregelung am 12. November 1993 nach § 195 Abs 1 SGB V durch das BVA genehmigt. Er genügt den Anforderungen des § 220 Abs 1 Satz 1 und des § 260 Abs 1 SGB V, wonach die Beiträge so zu bemessen sind, dass sie die im Haushaltsplan vorgesehenen gesetzlich vorgeschriebenen Ausgaben decken. Zu diesen gehören auch die Ausgleichverpflichtungen der Beklagten im RSA. Da diese bei ihr nach den Angaben im angefochtenen Bescheid für 1994 etwa 1,5 Mrd DM und ungefähr 10 vH ihres Beitragsaufkommens entsprachen, konnte sie den Beitragssatz um 10 vH erhöhen. Dieses ist geschehen (von 11,0 vH auf 12,1 vH).
c) Der Beitragsbescheid ist nicht deshalb rechtswidrig, weil der RSA wegen seiner beitragsrechtlichen Auswirkungen Grundrechte des Klägers verletzte oder aus anderen Gründen verfassungswidrig wäre.
Der Kläger rügt eine Verletzung des Art 2 Abs 1 GG. Mit der Einführung des RSA seien die Rahmenbedingungen der Mitgliedschaft in der GKV grundlegend verändert worden. Hieraus folge für ihn eine höhere Beitragslast, die einen unverhältnismäßigen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit darstelle, weil zum Ausgleich der Folgen einer unterschiedlichen Mitgliederstruktur verschiedener Krankenkassen mit der “Korridorlösung” ein milderes Mittel zur Verfügung gestanden habe (Ramsauer, NJW 1998, 481 ff).
Die mit der Einführung des RSA verbundene Beitragserhöhung stellt keinen verfassungswidrigen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des Klägers dar. Dieses Grundrecht ist nur in den Schranken des zweiten Halbsatzes des Art 2 Abs 1 GG gewährleistet. Das Recht des Bürgers, nicht mit ungerechtfertigten Nachteilen belastet zu werden (vgl BVerfGE 19, 253, 257; 29, 402, 408), wird danach insbesondere durch die verfassungsmäßige Ordnung beschränkt. Darunter sind alle Rechtsnormen zu verstehen, die sich formell und materiell mit dem GG in Einklang befinden und insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Dieser Grundsatz ist gewahrt, wenn für die getroffene Regelung legitime Gründe des Allgemeinwohls vorliegen, die gewählte Regelung zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet und erforderlich ist sowie für den Betroffenen keine unangemessene Belastung darstellt (BVerfGE 103, 197 = SozR 3-1100 Art 74 Nr 4; stRspr). Dies ist hier der Fall.
Der Beitragsbescheid legt dem Kläger auf Grund der Vorschriften über den RSA zwar eine Beitragspflicht auf, die höher ist, als sie ohne diese Vorschriften über den RSA wäre. Der Kläger wird hierdurch jedoch nicht in seinen Grundrechten verletzt. Er nimmt als (freiwilliges) Mitglied am solidarischen Ausgleich innerhalb der GKV teil. Diese Solidarität ist nicht auf die einzelne Krankenkasse beschränkt, sondern erstreckt sich auf sämtliche Mitglieder der GKV. Der RSA ist vom BVerfG (BVerfGE 89, 365 = SozR 3-2200 § 385 Nr 4) als geeignetes Mittel angesehen worden, um zusammen mit den Kassenwahlrechten die verfassungsrechtlich bedenklich hohen Beitragssatzunterschiede zu verringern, die der erkennende Senat in seinem Urteil vom 22. Mai 1985 (BSGE 58, 134 = SozR 2200 § 385 Nr 14) aufgezeigt hatte. Seine Einführung mit dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I 2266) verfolgte den Zweck, die verfassungsrechtlich bedenklichen Beitragssatzunterschiede zwischen den verschiedenen Krankenkassen zu beseitigen. Der RSA stellte somit die innerhalb der Solidargemeinschaft verfassungsrechtlich gebotene Gleichbehandlung der Versicherten (wieder) her. Zugleich war der RSA notwendige Bedingung für einen das Solidarprinzip wahrenden Wettbewerb der Kassen untereinander in Hinblick auf die weiter gehende Einführung von Kassenwahlrechten ab 1996 (vgl BT-Drucks 12/3608 S 74 f und S 117 zu Nr 126).
Die Revision hat im Übrigen in ihrer knappen Begründung die Verletzung eines Grundrechts des Klägers nicht aufgezeigt. Zu den von der Revision in allgemeiner Form aufgeworfenen Fragen hat der Senat in seinen Urteilen vom 24. Januar 2003 ausführlich Stellung genommen. Er hat sich in seinen Urteilen vom 24. Januar 2003 ua in den Sachen B 12 KR 16/01 R, B 12 KR 18/01 R und B 12 KR 19/01 R mit den von einzelnen Krankenkassen gegen die Durchführung des RSA vorgetragenen zahlreichen Bedenken sowie den verfassungs- und europarechtlichen Angriffen gegen die Vorschriften über den RSA auseinander gesetzt; der Senat nimmt hierauf Bezug. Er ist, soweit darüber in diesen Verfahren zu entscheiden war, zu dem Ergebnis gelangt, dass die Durchführung des RSA in den Anfangsjahren zwar mit Schwierigkeiten verbunden war, sie jedoch insgesamt den einfachrechtlichen Vorschriften der §§ 266, 267 SGB V iVm der Verordnung über das Verfahren zum Risikostrukturausgleich in der GKV (Risikostruktur-Ausgleichsverordnung ≪RSAV≫) entspricht. Diese Vorschriften sind sowohl mit dem GG als auch dem Vertrag über die Europäische Gemeinschaft vereinbar. Insbesondere verstößt es nicht gegen Art 3 Abs 1 GG, dass sich der Gesetzgeber auf die in § 266 Abs 1 SGB V genannten Ausgleichskriterien beschränkt hat. Das Verfahren des RSA genügt auch sonst rechtsstaatlichen Grundsätzen. Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, dass der RSA trotz der in seiner Anfangsphase hinsichtlich der Datengrundlage festgestellten Mängel durchgeführt und die Fehlerbeseitigung auf künftige Ausgleiche beschränkt geblieben ist. – Im vorliegenden Verfahren gibt die Revisionsbegründung dem Senat zu weiter gehenden Ausführungen keinen Anlass.
Die Revision des Klägers war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
NZS 2004, 135 |
NZS 2004, 36 |
SozR 4-2500 § 266, Nr. 5 |