Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 25.08.1989) |
SG Oldenburg (Urteil vom 25.02.1988) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten und des Beigeladenen wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. August 1989 abgeändert. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 25. Februar 1988 wird zurückgewiesen.
Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Tod des Ehemannes der Klägerin, der sich im Dienst erschossen hat, als Folge einer Wehrdienstbeschädigung beurteilt werden kann.
Der Verstorbene war Berufssoldat und zuletzt seit 1983 als Hauptfeldwebel Leiter eines Sicherheitszuges von 130 Mann. Der Dienst in diesem Zug wurde als schwierig angesehen, weil es unter den Soldaten Aggressionen und Alkoholprobleme gab.
In der Nacht von Freitag, dem 7. zum Samstag, den 8. September 1984 mußte der Verstorbene als stellvertretender Offizier vom Wachdienst in der Kaserne bleiben. Nach einer von ihm aufgenommenen Meldung erhielt er gegen 21.30 Uhr einen Anruf, daß zwei Gefreite seiner Einheit auf dem Hauptbahnhof Reisende angepöbelt hätten und über die Gleise gelaufen seien. Beide Soldaten seien stark angetrunken gewesen. Sie seien von der weiteren Fahrt ausgeschlossen und mit einem Bußgeld von 20,– DM verwarnt worden.
Gegen Morgen wurde die Leiche des Verstorbenen vor seinem Schreibtisch liegend gefunden. Der herbeigerufene Arzt stellte den wahrscheinlich gegen 22.00 Uhr eingetretenen Tod durch Kopfschuß fest. Nach dem Todesermittlungsbericht der Kriminalpolizei wurde Selbsttötung mit der eigenen Pistole angenommen. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. Ein Klageerzwingungsverfahren der Klägerin hatte keinen Erfolg.
Im Juni 1985 stellte die Klägerin einen Antrag auf Anerkennung des Todes ihres Ehemannes als Schädigungsfolge. Nach Anhörung mehrerer Kameraden, Vorgesetzten und Freunden und der Erstattung eines fachärztlichen Gutachtens von Prof. Dr. A. lehnte die Beklagte den Antrag ab (Bescheid vom 30. September 1985). Ein schädigender Vorgang iS des § 81 Soldatenversorgungsgesetz (SVG) könne nicht festgestellt werden. Die Ursache der Selbsttötung sei mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Primärpersönlichkeit des Versicherten zu sehen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das inzwischen beigeladene Land hatte sich unter Vorlage eines Gutachtens des Versorgungsarztes Dr. Kl. der Auffassung der Beklagten angeschlossen. Der gerichtlich gehörte Sachverständige Dr. Kr., Arzt für Neurologie und Psychiatrie, war zu dem Ergebnis gekommen, es sei nicht wahrscheinlich, daß bei dem Verstorbenen zur Zeit seiner Selbsttötung eine Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung vorgelegen habe, die auf den Dienst zurückzuführen sei (Urteil vom 25. Februar 1988). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Klägerin das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten aufgehoben und festgestellt, daß der Tod des verstorbenen Ehemannes der Klägerin Folge einer Wehrdienstbeschädigung sei. Den Beigeladenen hat das LSG verurteilt, der Klägerin ab Oktober 1984 Witwenrente zu zahlen. Es hat sich auf das von ihm eingeholte Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. M.-F. berufen, der im Unterschied zu den vorgenannten Ärzten und Oberstabsarzt Dr. V. zu dem Ergebnis gekommen ist, es sei wahrscheinlich, daß bei dem Verstorbenen zur Zeit der Selbsttötung eine Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung vorgelegen habe, und es sei weiter wahrscheinlich, daß diese Beeinträchtigung durch wehrdiensteigentümliche Verhältnisse herbeigeführt worden sei. Die Beklagte und der Beigeladene haben gegen dieses Urteil die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision eingelegt. Sie beantragen übereinstimmend,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
II
Die Revisionen der beklagten Bundesrepublik und des beigeladenen Landes sind begründet. Das SG hat im Gegensatz zu dem Urteil des LSG zutreffend entschieden, daß die Klägerin keinen Anspruch auf Witwenversorgung nach § 38 Bundesversorgungsgesetz (BVG) iVm § 80 SVG hat. Denn der Tod ihres Ehemannes kann weder als Wehrdienstbeschädigung noch als Folge einer solchen Beschädigung beurteilt werden.
Zutreffend führt das LSG allerdings zunächst aus, daß der Tod hier nicht als Wehrdienstbeschädigung angesehen werden kann, weil ihn der Soldat selbst herbeigeführt hat: Zu entscheiden ist hier nur, ob die Selbsttötung die Folge einer Wehrdienstbeschädigung ist. Dies wäre dann der Fall, wenn der Selbsttötung eine Wehrdienstbeschädigung vorausgegangen wäre, die die Selbsttötung zur Folge hatte.
Das LSG hat weiter zutreffend ausgeführt, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen einer solchen Schädigung und der Schädigungsfolge nach § 81 Abs 5 SVG aF (seit Inkrafttreten des Art 4 des Gesetzes vom 26. Juni 1990 – BGBl I S 1211 = Abs 6) nur wahrscheinlich zu sein braucht. In Betracht kommen hier Wehrdiensteinflüsse, die den Soldaten in einen psychisch krankhaften Zustand gebracht haben, in dem ihm die Selbsttötung unausweichlich erschien.
Nicht überzeugend ist aber die Meinung des LSG, es genüge „wenn dieser Zustand mit Wahrscheinlichkeit durch wesentliche Einwirkungen iS des § 81 SVG verursacht worden ist”. Das LSG hätte davon ausgehen müssen, daß die dienstlichen Einflüsse, die im wesentlichen die Schädigung herbeigeführt haben, nachzuweisen sind. Nach ständiger Rechtsprechung in allen Zweigen der sozialen Entschädigung müssen die Schädigung und die Schädigungsfolge nachgewiesen werden. Nur für die Kausalität zwischen diesen beiden Tatbestandsmerkmalen genügt die Wahrscheinlichkeit. Anders als möglicherweise im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl dazu BSGE 58, 76) ist für die Ursächlichkeit zwischen geschützter Tätigkeit und Schädigung der Nachweis erforderlich, weil die Kausalkette im Entschädigungsrecht nicht bereits von der geschützten Tätigkeit, sondern erst von dem schädigenden Vorgang ihren Ausgang nimmt. Auch bei der Schädigung „durch” wehrdiensteigentümliche Verhältnisse zählt die sog haftungsbegründende Kausalität zum Schädigungstatbestand und verlangt daher Vollbeweis.
Das LSG hat keinen schädigenden Vorgang für nachgewiesen gehalten. Es hat lediglich festgestellt, daß eine Beeinträchtigung der Willensbestimmung vorgelegen habe, wobei aber nur wahrscheinlich sei, daß dieser Zustand zum Teil auf dienstliche Überforderung zurückgeführt werden könne, soweit der Ehemann der Klägerin in den letzten Monaten nach der Versetzung auf einem neuen Dienstposten überfordert worden sei.
Dabei hat das LSG die Anforderungen an die Überzeugungsbildung nicht überspannt. Eine sichere Feststellung zum ursächlichen Zusammenhang konnte nicht getroffen werden. Denn keiner der Sachverständigen konnte in den umfangreichen Ermittlungen der Beklagten und der Staatsanwaltschaft deutliche Hinweise dafür finden, daß der Ehemann der Klägerin vor der Selbsttötung überhaupt in eine psychische Ausnahmesituation geraten war. Noch weniger konnten Hinweise dafür gefunden werden, daß er dienstlichen Einflüssen ausgesetzt war, die geeignet waren, einen solchen Zustand herbeizuführen. Die vier zunächst gehörten Sachverständigen haben es für unwahrscheinlich gehalten, daß die Ursache für den Entschluß zur Selbsttötung im Dienst liegen könnte. Selbst der zuletzt gehörte Sachverständige, auf den sich das LSG allein stützt, hat nur ausgeführt, daß es „Hinweise” dafür gäbe, daß die freie Willensbestimmung des Verstorbenen beeinträchtigt oder ausgeschlossen gewesen sei und daß dieser Zustand zum großen Teil auf wehrdienstbedingte Verhältnisse zurückzuführen sei.
Irrtümlich hat das LSG sich für die Feststellung der Schädigung mit diesem geringen Grad der Wahrscheinlichkeit begnügt, möglicherweise weil die psychischen Vorgänge vor einer Selbsttötung außerordentlich schwierig festzustellen sind. Diese Schwierigkeit rechtfertigt es aber nicht, auf einen Nachweis zu verzichten und den äußeren Zusammenhang der Selbsttötung mit dem versorgungsrechtlich geschützten Dienst genügen zu lassen, wie es das LSG im Ergebnis getan hat. Deshalb ist zwar die Anerkennung einer Selbsttötung als Schädigungsfolge nicht schon dann abzulehnen, wenn nicht jegliche Zweifel an der versorgungsrechtlich geschützten psychischen Schädigung beseitigt sind. Denn die Gerichte sind häufig genötigt, rechtlich erhebliche Tatsachen im geistigen oder seelischen Bereich einer Person festzustellen, die darüber nicht mehr Auskunft geben kann. Das geschieht mit Hilfe äußerer Umstände und Vorgänge. Diese müssen aber zweifelsfrei bewiesen und derart sein, daß sie den überzeugenden Schluß zulassen, daß die rechtserhebliche Tatsache vorlag. Ein solcher Beweis ist zB dann erbracht, wenn der Selbsttötung ein Unfall vorausgegangen ist, dessen Folgen geeignet waren, den Versorgungsberechtigten oder Versicherten in eine so verzweifelte Stimmung zu versetzen, daß ihm die Selbsttötung als einziger Ausweg erschien (vgl BSG Urteil vom 18. Dezember 1962 – 2 RU 56/58, Breithaupt 1963, 788; BSG Urteil vom 29. April 1964 – 2 RU 215/60, VdK-Mitt 1964, 252). Das kann auch dann der Fall sein, wenn ein psychischer Schock, der einem Unfallgeschehen gleichkommt, festgestellt werden kann (vgl BSG Urteil vom 22. November 1988 – 5 RJ 15/88, SozSich 1989, 317; BSGE 61, 113; vgl auch BSG Urteil vom 29. Februar 1984 – 2 RU 35/83, SozSich 1984, 390 „Psychisches Trauma”). Keine prinzipiellen Schwierigkeiten bestehen auch in den Fällen, in denen eine anerkannte Berufskrankheit vorliegt, die geeignet war, den Versicherten in eine psychische Situation zu bringen, in der die Selbsttötung verständlich ist (vgl neuerdings BSGE 66, 156).
Hier hat das LSG zu Recht kein akutes psychisches Trauma angenommen. Allenfalls könnte der psychische Zustand durch eine Reihe von belastenden Momenten herbeigeführt worden sein. Das würde in der Unfallversicherung zur Anspruchsbegründung nicht ausreichen (BSG SozR 2200 § 548 Nr 71), es sei denn, der psychische Zustand selbst könnte als Berufskrankheit anerkannt werden. Da sich Krankheiten jedoch meist multi-kausal entwickeln, dh ihre Ursachen oft auch in der persönlichen Lebensführung, in der Erbanlage oder in der Umwelt zu finden sind, ist eine Anerkennung als Berufskrankheit grundsätzlich nur möglich, wenn sie sich typischerweise durch berufliche Einwirkung entwickelt hat. Ob bestimmte Einwirkungen typischerweise eine bestimmte Krankheit herbeiführen, wird in der Unfallversicherung nicht aufgrund von Ermittlungen im Einzelfall festgestellt, sondern nach umfassenden Ermittlungen allgemein durch Verordnung entschieden (§ 551 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫ iVm mit der jeweiligen Berufskrankheiten-Verordnung ≪BKVO≫). Durch die Aufnahme einer Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten wird nicht nur allgemeingültig entschieden, daß sie entschädigungsfähig ist; es wird damit auch normativ festgelegt, daß besondere Einwirkungen des Arbeitslebens schädigenden Charakter haben und allgemein geeignet sind, diese Krankheit hervorzurufen. Ferner ist damit geklärt, daß die Krankheit im Einzelfall wie eine Unfallfolge zu entschädigen ist, wenn der Betroffene längere Zeit den schädlichen Einwirkungen ausgesetzt war. Schließlich können nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises denkbare Einwirkungen aus dem außerbetrieblichen Bereich außer Betracht bleiben, jedenfalls dann, wenn kein besonderer Anlaß für die Annahme solcher Verursachungen besteht (vgl dazu Lauterbach/Watermann, Unfallversicherung, Stand Juni 1991, § 551 Anm 10c).
Im Soldatenversorgungsrecht fehlen normative Vorgaben dafür, unter welchen Voraussetzungen eine Krankheit, die nicht durch ein plötzliches Ereignis im Dienst hervorgerufen worden ist, als typische Wehrdienstbeschädigung beurteilt werden kann. Es ist im Einzelfall zu prüfen, ob „wehrdiensteigentümliche Verhältnisse” als Ursachen in dem Maße vorliegen, daß andere Ursachen in den Hintergrund treten. Das dürfte dann ohne größere Schwierigkeiten möglich sein, wenn der Soldat im Dienst Einwirkungen ausgesetzt war, die im Unfallversicherungsrecht zu der Erkenntnis geführt haben, daß sie in auffallender Weise das Unfallrisiko erhöhen und deshalb in der BKVO berücksichtigt worden sind. Handelt es sich aber, wie hier, um eine Krankheit, die nicht in der BKVO berücksichtigt worden ist, kann an eine Anerkennung als Wehrdienstbeschädigung nur gedacht werden, wenn Verhältnisse vorliegen, die derart sind, daß sie den Dienstherrn wegen der Gefährdung der Soldaten zum Handeln veranlassen müßten. Hier ist der Rechtsgedanke des § 551 Abs 2 RVO zu berücksichtigen, wonach auch in der Unfallversicherung „im Einzelfall” eine Krankheit wie ein Unfall behandelt werden kann, wenn an sich der Verordnungsgeber zum Handeln aufgerufen ist. Für das Vorliegen derartiger Umstände geht aus den Feststellungen des LSG nichts hervor.
Damit scheidet die Annahme einer Krankheit aus, die wie ein Unfall hätte beurteilt werden können. Das LSG hat außerdem festgestellt, daß das allenfalls als herausragendes Einzelereignis in Betracht kommende Telefongespräch über unbotmäßiges Verhalten von Untergebenen nicht über das alltägliche dienstliche Geschehen hinausrage. Damit scheidet auch die immerhin denkbare Möglichkeit aus anzunehmen, die psychische Ausnahmesituation sei durch ein „Schockerlebnis” ausgelöst worden.
Abgesehen davon, daß diese Feststellungen des LSG nach Sachlage überzeugend sind, ist der Senat auch nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) daran gebunden, weil dagegen keine Gegenrüge erhoben worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen