Beteiligte
Kläger und Revisionsbeklagter |
Beklagter und Revisionskläger |
Tatbestand
I
Der 1930 geborene Kläger war von 1975 bis 1988 als Arzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe niedergelassen, zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen und an der vertragsärztlichen Versorgung beteiligt. Im März 1988 verkaufte er seine Praxis an den Beigeladenen zu 6) und verzichtete mit Ablauf des 1. Quartals 1988 auf seine Zulassung bzw. Beteiligung. Seinen im Februar 1991 gestellten Antrag auf Wiederzulassung als Kassenarzt und erneute Beteiligung als Vertragsarzt lehnten die Zulassungsinstanzen ab, weil er die in § 98 Abs. 2 Nr. 12 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) und § 25 der Zulassungsverordung für Kassenärzte (Ärzte-ZV) festgelegte Altersgrenze von fünfundfünfzig Jahren überschritten habe und eine unbillige Härte i.S. des § 25 Satz 2 Ärzte-ZV nicht gegeben sei (Bescheide des Zulassungsausschusses und der Beteiligungskommission vom 18. März 1991; Bescheide des beklagten Berufungsausschusses und der Berufungskommission für Ersatzkassen vom 19. Februar 1992).
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 2. September 1992 die Bescheide aufgehoben und den Beklagten sowie die Berufungskommission für Ersatzkassen verurteilt, den Kläger zur kassenärztlichen Versorgung zuzulassen und an der vertragsärztlichen Versorgung zu beteiligen. Es hat ausgeführt, die in § 98 Abs. 2 Nr. 12 SGB V und § 25 Satz 1 Ärzte-ZV festgelegte Altersgrenze beziehe sich nur auf die erstmalige Zulassung als Kassenarzt und gelte für Fälle einer Wiederzulassung nicht. Dies ergebe sich zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut, wohl aber aus der Entstehungsgeschichte dieser Vorschriften. Da der Kläger nur vorübergehend auf seine Zulassung verzichtet habe, werde er von der Regelung nicht erfaßt. Ob die Versagung der Zulassung in seinem Fall eine unbillige Härte i.S. des § 25 Satz 2 Ärzte-ZV begründe, habe nicht geprüft werden müssen.
Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 25 Ärzte-ZV. Der in dieser Vorschrift verwendete Begriff der Zulassung sei umfassend und einer einschränkenden Auslegung nicht zugänglich. Die Rechtsprechung überschreite die ihr durch Art 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) gezogenen Grenzen, wenn sie den eindeutigen Gesetzeswortlaut unter Berufung auf die Gesetzesmaterialien verändere. Eine Beschränkung des Anwendungsbereichs der Vorschrift auf Fälle der erstmaligen Zulassung sei auch von der Sache her nicht geboten. Besonderen Verhältnissen des Einzelfalles könne auch bei Wiederzulassungsanträgen über die Härteklausel des § 25 Satz 2 Ärzte-ZV Rechnung getragen werden.
Der Beklagte beantragt,
|
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 2. September 1992 aufzuheben und die Klage abzuweisen, |
|
hilfsweise: die Sache an das Sozialgericht (Landessozialgericht) zur weiteren Verhandlung und Entscheidung zurückzuweisen. |
|
Der Kläger beantragt,
|
die Revision zurückzuweisen. |
|
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladenen zu 1), 4), 5) und 7) schließen sich dem Vorbringen des Beklagten an. Die übrigen Beteiligten haben sich nicht geäußert.
II
Die Revision des Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet. Die vom SG getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen für eine Entscheidung in der Sache nicht aus.
Bei der erhobenen Anfechtungs- und Verpflichtungsklage beurteilt sich das Klagebegehren nach der Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung durch das Revisionsgericht. Maßgebend sind demnach die Vorschriften des SGB V und der Ärzte-ZV in der derzeit geltenden Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl. I S. 2266). Die Rechtsänderungen durch dieses Gesetz haben Auswirkungen auf die Verwaltungszuständigkeit und die Beteiligtenstellung im Prozeß. Das GSG hat die bis zu seinem Inkrafttreten bestehende Aufteilung der ambulanten ärztlichen Versorgung in einen kassenärztlichen und einen vertragsärztlichen Bereich beseitigt und ein für Primär- und Ersatzkassen gleichermaßen geltendes System der vertragsärztlichen Versorgung neuen Rechts mit einheitlicher Zulassung geschaffen (§ 72 Abs. 1 und 2 SGB V nF; §§ 11 ff. Ärzte-ZV n.F. [nunmehr: "Zulassungsverordung für Vertragsärzte"]). Gleichzeitig hat es die Aufgaben der bisher für den Ersatzkassenbereich gebildeten besonderen Beteiligungsgremien - auch mit Wirkung für bereits anhängige Verfahren - auf die seit 1. Januar 1993 für die gesamte vertragsärztliche Versorgung allein zuständigen Zulassungs- und Berufungsausschüsse (§§ 96, 97 SGB V nF) übertragen; diese sind im Wege der Funktionsnachfolge an die Stelle der früheren Beteiligungs- und Berufungskommissionen getreten. Prozessual hat der Funktionsübergang einen gesetzlichen Beteiligtenwechsel (Eintritt des Berufungsausschusses anstelle der Berufungskommission als Beklagter) bewirkt, der nicht den Beschränkungen der § 99 Abs. 1, § 168 Sozialgerichtsgesetz (SGG) unterliegt und daher auch noch im Revisionsverfahren zu beachten ist (ausführlich zu alledem: Urteil des Senats vom 14. Juli 1993 - 6 RKa 71/91 - in SozR 3-2500 § 116 Nr. 4).
Die für das materielle Begehren des Klägers maßgebenden Bestimmungen des § 98 Abs. 2 Nr. 12 SGB V und des § 25 Ärzte-ZV beruhen auf dem Gesundheitsreformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I S. 2477) und gelten seither unverändert. Gemäß § 25 Satz 1 Ärzte-ZV ist die Zulassung eines Arztes, der das fünfundfünfzigste Lebensjahr vollendet hat, ausgeschlossen. Nach Satz 2 der Vorschrift kann der Zulassungsausschuß in Ausnahmefällen hiervon abweichen, wenn dies zur Vermeidung von unbilligen Härten erforderlich ist. Diese Regelung ist verfassungsgemäß; der mit ihr verbundene Eingriff in das Grundrecht aus Art 12 Abs. 1 GG ist durch übergeordnete Gemeinwohlbelange gerechtfertigt. Wie der Senat in seinem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom heutigen Tage in der Sache 6 RKa 26/91 im einzelnen dargelegt hat, stellt sich die Zulassungssperre für ältere Ärzte nach geltendem Recht als Teil eines gesetzgeberischen Gesamtkonzepts dar, mit dem der wachsenden Überversorgung mit Vertragsärzten und der daraus resultierenden finanziellen Überforderung des öffentlich-rechtlichen Krankenversicherungssystems Einhalt geboten werden soll. Als eine von mehreren Maßnahmen zur Sicherung der Finanzgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung dient sie dem Schutz eines besonders wichtigen Gemeinschaftsgutes und ist auch unter den Gesichtspunkten der Geeignetheit und Erforderlichkeit sowie der Zumutbarkeit für die betroffenen Ärzte nicht zu beanstanden.
Die Annahme des SG, der Kläger werde von § 25 Satz 1 Ärzte-ZV nicht erfaßt, weil diese Bestimmung nur auf Fälle der erstmaligen Zulassung zur kassenärztlichen (vertragsärztlichen) Versorgung anwendbar sei, ist rechtsirrig. Das angefochtene Urteil stützt seine Auslegung auf die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum GRG, in der es (BT-Drucks 11/2237 S. 195 zu § 106 Abs. 2) heißt, die Vorschrift schließe grundsätzlich die erstmalige Zulassung oder Ermächtigung von Ärzten, die das fünfundfünfzigste Lebensjahr vollendet haben, aus. Aus den Ausführungen hierzu wird aber schon nicht deutlich, ob die Gesetzesinitiatoren die Zulassungssperre bewußt auf Erstzulassungen beschränken wollten oder bei der von ihnen gewählten Formulierung nur die Möglichkeit einer Wiederzulassung nicht im Blick gehabt haben. Denkbar ist auch, daß lediglich eine Abgrenzung und Klarstellung dahingehend beabsichtigt war, daß nur Neuzulassungen ausgeschlossen sein und nicht etwa auch bestehende Zulassungen mit dem Erreichen der Altersgrenze enden sollten.
Selbst wenn sich aber feststellen ließe, daß die Altersbegrenzungsregelung nach den Vorstellungen der Bundesregierung auf Fälle einer erstmaligen Kassenzulassung beschränkt bleiben sollte, könnte dies die vom SG vorgenommene einengende Interpretation nicht rechtfertigen, weil derartige Vorstellungen im Gesetzestext keinen Niederschlage gefunden haben. Der dort verwendete Ausdruck "Zulassung" wird als rechtstechnischer und damit in seiner Bedeutung festliegender Begriff im SGB V (§§ 95 bis 98) und in der Ärzte-ZV durchgehend im umfassenden, sowohl die Erst- als auch jede weitere Zulassung einschließenden Sinne verwendet (vgl. beispielhaft § 17 Ärzte-ZV). Weder im Gesetz noch in der Verordnung findet sich ein Anhaltspunkt dafür, daß im Zusammenhang mit der Einführung einer Altersgrenze für die Kassenzulassung von diesem nach dem Sprachgebrauch des Gesetzes eindeutigen Wortsinn abgewichen werden sollte. Bei dieser Sachlage ist für eine einschränkende Auslegung anhand der Entstehungsgeschichte des Gesetzes kein Raum. Die bloßen Normvorstellungen der an der Vorbereitung und Abfassung des Gesetzes beteiligten Personen und Organe können eine vom eindeutigen Gesetzeswortlaut abweichende Auslegung nicht rechtfertigen. Auch eine über den Bereich der reinen Auslegung hinausgehende Korrektur dieses Wortlautes im Wege einer teleologischen Reduktion käme nur in Betracht, wenn sich eine vom unmißverständlichen Wortsinn abweichende Regelungsabsicht des Gesetzgebers ermitteln ließe und die Formulierung im Gesetzestext zweifelsfrei ein bloßes Redaktionsversehen wäre. Dafür geben die weiteren Gesetzesmaterialien nichts her. Für eine Beschränkung des § 25 Satz 1 Ärzte-ZV auf Erstzulassungen fehlt auch eine sachliche Begründung. Die Auffassung des SG hätte zur Folge, daß auch solche Ärzte von der Regelung ausgenommen würden, die am Beginn ihres Berufslebens kurzzeitig zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen waren, sich dann einer anderen Tätigkeit zugewandt haben und nach Eintritt in den Ruhestand noch einmal als Kassenarzt arbeiten möchten. Hatte dagegen ein Arzt beispielsweise aus persönlichen Gründen vorübergehend auf seine Zulassung verzichtet, so kann dem über die Anwendung der Härteklausel des § 25 Satz 2 Ärzte-ZV Rechnung getragen werden.
Ist die Regelung des § 25 Satz 1 Ärzte-ZV danach grundsätzlich auch auf Fälle einer Wiederzulassung anwendbar, so bedarf es der Prüfung, ob ihre Heranziehung im Fall des Klägers eine unbillige Härte bedeuten würde. Aus der Fassung des § 25 Satz 2 Ärzte-ZV als Kannbestimmung wird teilweise gefolgert, daß die Zulassung in Härtefällen im Ermessen der Zulassungsgremien liege oder ihnen zumindest bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der unbilligen Härte ein Beurteilungsspielraum eingeräumt sei. Dem ist nicht zuzustimmen.
Die Zulassung als Kassen- bzw. Vertragsarzt entscheidet im Ergebnis darüber, ob der Betroffene seinen Beruf als freipraktizierender Arzt ausüben kann oder nicht.
Die Bestimmung des Berufszugangs kann aber grundsätzlich nicht in das Ermessen der darüber befindenden Verwaltungsbehörde gestellt werden. Zwar schließt Art 19 Abs. 4 GG auch bei grundrechtsbeschränkenden Normen die Eröffnung von Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräumen der Verwaltung nicht von vornherein aus, doch sind sie hier auf das aus Sachgründen unerläßliche Maß zu beschränken. Insbesondere bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen muß im Rahmen des Möglichen eine umfassende gerichtliche Überprüfung des Verwaltungshandelns gewährleistet werden (BVerfGE 84, 34, 53 ff.; 86, 28, 40 f.; BVerfG DVBl 1993, 485, 488 ff. mit Anm. Goerlich). Die Kannbestimmung in § 25 Satz 2 Ärzte-ZV ist vor diesem Hintergrund nicht als Ermessensvorschrift, sondern als bloße Befugnisnorm zu verstehen. Sie besagt, daß es dem Zulassungsausschuß erlaubt ist, in Fällen einer unbilligen Härte von dem Zulassungsverbot des Satzes 1 Ausnahmen zu machen, billigt ihm jedoch insoweit keinen eigenen Entscheidungsspielraum zu. Liegt eine unbillige Härte vor, so steht es nicht in seinem Ermessen, ob er daraus Konsequenzen ziehen will; er muß dann die Zulassung erteilen. Als Anspruchsvoraussetzung auf der Tatbestandsseite der Norm unterliegt der unbestimmte Rechtsbegriff der unbilligen Härte der vollen gerichtlichen Nachprüfung. Den Zulassungsinstanzen ist insoweit auch kein gerichtsfreier Beurteilungsspielraum zuzubilligen, denn es geht im wesentlichen um eine Bewertung der persönlichen Verhältnisse des antragstellenden Arztes und damit nicht um Fragen, deren Beantwortung der Verordnungsgeber erkennbar der speziellen Sachkenntnis oder der höchstpersönlichen Einschätzung der Mitglieder der Zulassungs-und Berufungsausschüsse überlassen wollte.
Was unter dem Begriff der unbilligen Härte zu verstehen ist, kann nur aus dem Gesamtzusammenhang und dem Zweck des § 25 Ärzte-ZV erschlossen werden. In der Begründung des Regierungsentwurfes zum GRG (BT-Drucks 11/2237 S. 195 zu § 106 Abs. 2) wird die Einführung der Altersgrenze von fünfundfünfzig Jahren damit gerechtfertigt, daß einerseits der Zustrom älterer Ärzte die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung gefährde, andererseits der betroffene Personenkreis ein abgeschlossenes vollständiges Berufsleben hinter sich habe und deshalb, von Ausnahmen abgesehen, auf eine Kassenzulassung nicht mehr angewiesen sei. Wo ausnahmsweise ein berechtigtes Interesse an der Teilnahme bestehe - als Beispiele werden Aussiedler und Ärzte aus der DDR sowie Ärzte, die aus dem Krankenhaus ausscheiden müssen, genannt -, bleibe die Möglichkeit einer Zulassung aufgrund der Härteklausel erhalten. Aus diesen Erwägungen wird deutlich, daß nicht etwa schon die Unmöglichkeit, außerhalb der vertragsärztlichen Tätigkeit eine der persönlichen Selbstverwirklichung dienende berufliche Betätigung zu finden, eine unbillige Härte begründen kann, zumal dann die Regelung weitgehend leerliefe. Auch die Tatsache, daß der Kläger nur während einer verhältnismäßig kurzen Zeit auf die Kassenzulassung verzichtet hatte, kann für sich alleine die Anwendung der Härteklausel nicht rechtfertigen. Im Hinblick auf die im Gesetzentwurf begründete Annahme, daß bei Erreichen der Altersgrenze von fünfundfünfzig Jahren ein im wesentlichen abgeschlossenes Berufsleben vorliege, so daß kein bedürfnis für eine Kassenzulassung mehr besteht, fallen unter die Härteregelung vor allem solche Ärzte, die aus wirtschaftlichen Gründen weiterhin zwingend auf eine Erwerbstätigkeit angewiesen sind. Dies könnte beim Kläger, der seine Ausbildung als Arzt erst mit 39 Jahren abgeschlossen hat und bis zum Verzicht auf die Zulassung lediglich 13 Jahre als Kassenarzt tätig gewesen ist, der Fall sein, zumal das Gesetz selbst in § 95 Abs. 7 SGB V (idF des GSG) davon ausgeht, daß im Regelfall eine berufliche Tätigkeit von ca 20 Jahren erforderlich ist, um eine ausreichende Altersversorgung aufzubauen. Bei Ärzten, die bereits zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen waren, kann ferner unabhängig von dem wirtschaftlichen Gesichtspunkt eine unbillige Härte in Betracht kommen, wenn sie ihre kassenärztliche Tätigkeit unfreiwillig, etwa wegen Krankheit oder aus anderen zwingenden persönlichen Gründen, aufgeben mußten und später, nachdem diese Umstände weggefallen sind, wieder zugelassen werden wollen. Der Kläger hat solche Gründe geltend gemacht, so daß dem nachgegangen werden muß.
Ob die Voraussetzungen für die Annahme einer unbilligen Härte vorliegen, kann der Senat nicht selbst entscheiden, weil das SG - von seinem Standpunkt zu Recht - die hierzu erforderlichen Feststellungen nicht getroffen hat. Das angefochtene Urteil muß deshalb aufgehoben und die Sache an das SG zurückverwiesen werden.
Bei seiner erneuten Entscheidung wird das SG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.6 RKa 36/92
BUNDESSOZIALGERICHT
Fundstellen