Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Prozessurteil anstatt Sachurteil. wesentlicher Verfahrensmangel. fehlerhafte Auslegung von Prozesserklärungen (hier: vermeintliche Berufungsrücknahme). Prüfungsbefugnis des Revisionsgerichtes bei Prozesserklärungen im Gegensatz zur Prüfungsbefugnis bei materiell-rechtlichen Erklärungen
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Entscheidung eines Rechtsstreits durch Prozessurteil anstelle eines möglichen Sachurteils stellt einen wesentlichen Mangel des Verfahrens dar (st.Rspr.; vgl. BSGE 39, 200, 201).
2. Die Auslegungsregel des § 133 BGB, wonach bei der Auslegung von Erklärungen nicht am Wortlaut zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen ist, erstreckt sich nach der Rechtsprechung nicht nur auf Willenserklärungen, sondern auch auf Prozesshandlungen (hier: die Rücknahme der Berufung; st.Rspr., vgl. BSGE 75, 92, 95).
3. Bei materiell-rechtlichen Erklärungen (Verträgen, einseitigen Willenserklärungen) darf das Revisionsgericht in die auf tatsächlichem Gebiet liegende Würdigung des Tatsachengerichts nicht eingreifen, sondern hat lediglich die Rechtsanwendung zu überprüfen, d.h. der Frage nachzugehen, ob die Tatsacheninstanz die gesetzlichen Auslegungsregeln (§§ 133, 157 BGB) beachtet und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat (BSGE 75, 92, 96). Bei Prozesserklärungen hat das Revisionsgericht dagegen die Auslegung der Erklärung in vollem Umfang zu überprüfen, hat also das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln (st.Rspr.; vgl. BSGE 21, 13, 14).
Normenkette
SGG § 156 Abs. 2, § 160 Abs. 2 S. 3; BGB §§ 133, 157
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 4. Juli 2001 aufgehoben, soweit es die Berufung des Klägers verworfen hat. Insoweit wird der Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Nachdem das Bundessozialgericht (BSG) die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hinsichtlich des Anspruchs auf Konkursausfallgeld durch Beschluss vom 20. Februar 2002 verworfen hat, betrifft der Rechtsstreit nur noch die Versicherungspflicht des Klägers, über die die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) entschieden hat.
Der Kläger und Hans S.… waren Gesellschafter der G.… Wohnbau GmbH. Beide Gesellschafter hielten je 50 vH des Stammkapitals von 50.000 DM. Der Gesellschafter S.… war Geschäftsführer des Unternehmens, der Kläger als Polier eingesetzt. Über das Vermögen der GmbH eröffnete das Amtsgericht S.… mit Beschluss vom 22. Mai 1997 das Konkursverfahren. Konkursverwalter ist der Beigeladene zu 1.
Gegen die Ablehnung des Antrags auf Konkursausfallgeld richtete sich die Klage, mit der der Kläger geltend gemacht hat, er sei als Polier Arbeitnehmer der GmbH gewesen. Diese Klage hat das Sozialgericht R.… (SG) unter dem Aktenzeichen S 9 AL 1615/98 bearbeitet.
Mit einer weiteren Klage hat sich der Kläger gegen die von der beklagten BfA nach einer Betriebsprüfung getroffene Feststellung gewandt, der Kläger unterliege als mitarbeitender Gesellschafter einer GmbH mit einem Kapitalanteil von 50 vH nicht der Versicherungspflicht. Diese Klage hat das SG zunächst unter dem Aktenzeichen S 10 RA 1810/98 eingetragen. Mit Beschluss vom 10. Mai 2000 hat das SG beide Verfahren – auch zur Vermeidung abweichender Entscheidungen – zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und nunmehr einheitlich unter dem Aktenzeichen S 9 AL 1615/98 geführt.
Unter dem AktenzeichenS 9 AL 1615/98 hat das SG die Klagen mit Urteil vom 25. Mai 2000 abgewiesen. Die Entscheidung ist den Prozessbevollmächtigten des Klägers gegen Empfangsbekenntnis am 13. Juli 2000 zugestellt worden.
Mit zwei getrennten Schriftsätzen vom 30. Juni 2000 hat der Kläger durch seine Prozessbevollmächtigten Berufungen gegen das Urteil des SG vom 25. Mai 2000 eingelegt und dabei auf die Aktenzeichen S 9 AL 1615/98 bzw S 2 RA 1810/98 Bezug genommen. Die Verfahren hat das Landessozialgericht (LSG) unter den Aktenzeichen L 5 AL 2593/00 und L 10 RA 2637/00 eingetragen. Nachdem das Urteil des SG vom 25. Mai 2000 am 13. Juli 2000 den Prozessbevollmächtigten zugestellt worden war, haben diese nochmals mit Schriftsatz vom 31. Juli 2000 “Berufung eingelegt” und diese ausdrücklich 1. gegen die Bundesanstalt für Arbeit (BA) und 2. gegen die BfA gerichtet. Dieser Schriftsatz führt bereits das Aktenzeichen des LSG L 5 AL 2593/00 an. Mit weiterem Schriftsatz vom 31. Juli 2000, der auf das Aktenzeichen des LSG L 10 RA 2637/00 Bezug nimmt, hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers erklärt: “In dem Rechtsstreit Michele G.… gegen BfA nehme ich die Berufung vom 30. Juni 2000 zurück”. In einem Schriftsatz an das LSG vom 8. August 2000 haben die Prozessbevollmächtigen des Klägers klargestellt: “Die irrtümlich eingelegte Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts R.… vom 25. Mai 2000 – S 2 RA 1810/98 –, wurde mit Schriftsatz vom 31. Juli 2000 zurückgenommen, da es ein solches Urteil nicht gibt”.
Mit Urteil vom 4. Juli 2001 hat das LSG die Berufung des Klägers, soweit sie sich gegen die BA richtet, zurückgewiesen und, soweit sie sich gegen die BfA richtet, verworfen. Zu letzterem ist in den Entscheidungsgründen ausgeführt, die am 30. Juni 2000 eingelegte Berufung sei durch Rücknahme erledigt, die am 31. Juli 2000 eingelegte Berufung sei unzulässig, denn die Rücknahme der Berufung habe den Verlust des Rechtsmittels nach § 156 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bewirkt. Eine erneute Einlegung der Berufung sei auch innerhalb der offenen Berufungsfrist nicht zulässig.
Mit der vom BSG für das Verfahren gegen die BfA zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Das LSG habe den Schriftsatz vom 31. Juli 2001 rechtsfehlerhaft als Berufungsrücknahme ausgelegt. Auf Grund dieses Rechtsfehlers sei eine Entscheidung zur Sache unterblieben. Da tatsächliche Feststellungen im angefochtenen Urteil nicht getroffen seien, sei eine Entscheidung des BSG zur Sache untunlich.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 4. Juli 2001, soweit es das Verfahren gegen die beklagte BfA betrifft, aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen,
hilfsweise,
den Bescheid der beklagten BfA vom 8. Oktober 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Juni 1998 aufzuheben und die Beklagte zur Feststellung zu verpflichten, dass der Kläger als Polier bei der G.… Wohnbau GmbH ab 1. Juni 1991 versicherungspflichtig beschäftigt war.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Sie hält den Rechtsstreit in der Sache für spruchreif, weil das LSG in dem abgeschlossenen Verfahren gegen die BA tatsächliche Feststellungen getroffen habe, die eine Entscheidung in der Sache zuließen.
Da die BA im Revisionsverfahren nicht mehr als Beklagte beteiligt ist, hat das BSG sie mit ihrem Einverständnis durch Beschluss vom 3. Juni 2002 zum Verfahren beigeladen.
Die Prozessbevollmächtigten des Klägers, die Beklagte, und die Beigeladenen haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet. Die Verwerfung der Berufung des Klägers gegen die beklagte BfA verletzt den in § 133 BGB zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsgedanken, der auch im öffentlichen Recht und im Prozessrecht gilt. Da das LSG insoweit ein Prozessurteil erlassen hat, hat es tatsächliche Feststellungen zu dem vom Kläger gegen die beklagte BfA verfolgten Anspruch auf Feststellung der Versicherungspflicht nicht getroffen. Die Entscheidung eines Rechtsstreits durch Prozessurteil an Stelle eines möglichen Sachurteils stellt zugleich einen wesentlichen Mangel des Verfahrens dar ( BSGE 39, 200, 201 = SozR 1500 § 144 Nr 3; st Rspr).
Das LSG hat die Berufung des Klägers gegen die beklagte BfA verworfen, weil es den Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Klägers zum Aktenzeichen L 10 RA 2637/00 wörtlich genommen und als teilweise Rücknahme der Berufung gegen das Urteil des SG vom 25. Mai 2000 aufgefasst hat. Dieses Verständnis verletzt den in § 133 BGB enthaltenen Rechtsgedanken, wonach bei der Auslegung von Erklärungen nicht am Wortlaut zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen ist. Die Maßgeblichkeit dieser Auslegungsregel erstreckt sich nach der Rechtsprechung nicht nur auf Willenserklärungen, sondern auch auf Prozesshandlungen wie die Rücknahme der Berufung ( BSG Urteil vom 29. Mai 1980 - 9 RV 8/80 -; BSGE 21, 13, 14 = SozR Nr 5 zu § 156 SGG; BSGE 75, 92, 95 = SozR 3-4100 § 141b Nr 10 mwN). Bei materiell-rechtlichen Erklärungen (Verträgen, einseitigen Willenserklärungen) darf das Revisionsgericht allerdings in die auf tatsächlichem Gebiet liegende Würdigung des Tatsachengerichts nicht eingreifen, sondern hat lediglich die Rechtsanwendung zu überprüfen, dh der Frage nachzugehen, ob die Tatsacheninstanz die gesetzlichen Auslegungsregeln ( §§ 133 , 157 BGB ) beachtet und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat ( BSGE 75, 92, 96 = SozR 3-4100 § 141b Nr 10 mwN). Bei Prozesserklärungen - wie der Rücknahme einer Berufung - hat das Revisionsgericht dagegen die Auslegung der Erklärung in vollem Umfang zu überprüfen, hat also "das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln" ( BSG Urteil vom 29. Mai 1980 - 9 RV 8/80 -; BSGE 21, 13, 14 = SozR Nr 5 zu § 156 SGG). Der Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 31. Juli 2000 im Verfahren vor dem LSG - L 10 RA 2637/00 - bedarf trotz seines scheinbar eindeutigen Wortlautes der Auslegung. Die Umstände sprechen dagegen, dass mit diesem Schriftsatz eine Rücknahme der Berufung im Verfahren gegen die beklagte BfA mit den Folgen des § 156 Abs 2 Satz 1 SGG bewirkt werden sollte. Die Prozessbevollmächtigten hatten mit Schriftsätzen vom 30. Juni 2000 gegen das Urteil des SG vom 25. Mai 2000 Berufungen eingelegt und sich auf die Aktenzeichen des SG S 9 AL 1615/98 und S 2 RA 1810/98 bezogen. Tatsächlich hat das SG jedoch unter dem Aktenzeichen S 2 RA 1810/98 ein Urteil nicht erlassen. Durch Beschluss vom 10. Mai 2000 hatte das SG die unter diesen Aktenzeichen anhängigen Verfahren verbunden und deutlich gemacht, dass beide Verfahren nunmehr allein unter dem Aktenzeichen S 9 AL 1615/98 geführt würden. Schon dieser Umstand legt die Annahme nahe, der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe mit der "Rücknahme der Berufung" nicht das Prozessrechtsverhältnis selbst gegen die beklagte BfA beenden, sondern lediglich der durch die Verbindung der Verfahren überflüssige Rechtsverfolgung in zwei Verfahren Rechnung tragen wollen. Diese nahe liegende Annahme wird zur Gewissheit, weil die Prozessbevollmächtigten des Klägers mit weiterem Schriftsatz vom 31. Juli 2000 - also gleichzeitig - zum Aktenzeichen L 5 AL 2593/00 (überflüssiger Weise) nochmals Berufung gegen das unter dem Aktenzeichen S 9 AL 1615/98 ergangene Urteil des SG vom 25. Mai 2000 Berufung eingelegt und mit ihrem Sachantrag klargestellt haben, dass sich die Berufung auf beide Streitgegenstände beziehen solle, über die das SG geurteilt hat. Die Behandlung des Schriftsatzes vom 31. Juli 2000 zum Aktenzeichen des LSG L 10 RA 2637/00 als Rücknahme der Berufung im Verfahren gegen die beklagte BfA entspricht damit nicht dem von den Prozessbevollmächtigten des Klägers wirklich Gewollten. Da der Schriftsatz keine Rücknahme der Berufung iS des § 156 SGG enthält, ist der Erlass eines Prozessurteils durch das SG rechtsfehlerhaft und das Urteil insoweit aufzuheben.
Da das LSG im Verfahren gegen die beklagte BfA nicht zur Sache entschieden und mithin keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, ist eine abschließende Entscheidung des BSG nicht tunlich ( § 170 Abs 2 Satz 2 SGG ). Vielmehr wird das LSG auf Grund eigner Prüfung der Sach- und Rechtslage über die Berufung des Klägers gegen die BfA zu befinden haben. Dazu ist klarzustellen, dass das LSG durch sein teilweise rechtskräftiges Urteil vom 4. Juli 2001 nicht etwa an seine tatsächlichen Feststellungen und seine rechtliche Würdigung gebunden ist. Eine solche innerprozessuale Bindungswirkung ist nur bei Identität des Streitgegenstandes anzunehmen, die aber im Falle der objektiven Klagenhäufung gerade fehlt. Bei seiner erneuten Entscheidung wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen