Entscheidungsstichwort (Thema)
Alterssicherung der Landwirte. doppelte Versicherungspflicht. Befreiung als (“Gilt”-)Landwirt. Pflichtversicherung gemäß § 27 GAL. keine absolute Wirkung der Befreiung
Leitsatz (redaktionell)
1. Die kraft Gesetzes nach § 1 Abs. 3 ALG zum 1. Januar 1995 eingetretene Versicherungspflicht von Ehegatten eines Landwirts (“Gilt-Landwirten”) wird von der Versicherungspflicht Weiterversicherter nach § 27 GAL i.V.m. § 84 Abs. 2 ALG verdrängt (st.Rspr.; vgl. BSG SozR 3-5868 § 84 Nr 2 und § 85 Nr 6). Wird nur von einer der beiden Versicherungspflichten befreit, so wird davon die andere Versicherungspflicht nicht zwangsläufig mit erfasst. Es gibt keinen Grundsatz einer absoluten Wirkung von Befreiungsentscheidungen (st.Rspr.; vgl. BSG SozR 3-5868 § 85 Nr 6). Bestand die andere Versicherungspflicht bis dahin nur latent, lebt sie vom Zeitpunkt der Befreiung an wieder auf.
2. Liegt eine Befreiung nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 ALG als (Gilt-) “Landwirt” von der Versicherungspflicht vor, weil das regelmäßige außerlandwirtschaftliche Erwerbseinkommen ein Siebtel der Bezugsgröße überschreitet, tritt die Versicherungspflicht des (Gilt) -“Landwirts” nach § 27 GAL i.V.m. § 84 Abs. 2 ALG wieder hervor, solange die andere Befreiung wirkt.
Normenkette
ALG § 1 Abs. 3, § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 84 Abs. 2; GAL § 27
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. Juli 2001 und des Sozialgerichts Landshut vom 13. Dezember 2000 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind für sämtliche Rechtszüge nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die – vollständige – Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht in der Alterssicherung der Landwirte.
Die Klägerin war nach Aufgabe ihres landwirtschaftlichen Unternehmens seit dem 1. Oktober 1973 – wie von ihr beantragt – gemäß § 27 des Gesetzes über eine Altershilfe für Landwirte (GAL) weiterversichert. Im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Agrarsozialreformgesetzes 1995 zum 1. Januar 1995 versandte die Beklagte verschiedene Hinweisschreiben an die Klägerin. Mit Bescheid vom 12. September 1995 stellte sie eine Versicherungspflicht der Klägerin als Ehegattin eines Landwirts nach § 1 Abs 3 des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) fest. Anfang 1999 beantragte die Klägerin, sie nach § 3 Abs 1 Nr 1 ALG von der Versicherungspflicht zu befreien, weil ihr außerlandwirtschaftliches Erwerbseinkommen ein Siebtel der Bezugsgröße überschreite. Dem entsprach die Beklagte mit Bescheid vom 19. März 1999. Darin heißt es:
“Für die Zeit ab 1.2.1999 werden Sie als Landwirt von der Versicherungspflicht zur landwirtschaftlichen Alterskasse Niederbayern/Oberpfalz befreit.”
Die insoweit bereits gezahlten Beiträge würden erstattet.
Mit – dem hier umstrittenen – Bescheid vom 7. Juni 1999 stellte die Beklagte dann fest, die Klägerin sei ab 1. Februar 1999 als Weiterversicherte nach § 27 GAL iVm § 84 Abs 2 ALG versicherungspflichtig, und forderte eine entsprechende Beitragszahlung. Der Widerspruch blieb im Wesentlichen aus folgenden Erwägungen erfolglos (Bescheid vom 13. Dezember 1999): Mit der Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 1 Abs 3 ALG sei die seit 1. Januar 1995 lediglich verdrängte Versicherungspflicht als Weiterversicherte nach § 27 GAL iVm § 84 Abs 2 ALG wieder aufgelebt. Die bis zum 31. Dezember 1995 befristete Möglichkeit, sich hiervon befreien zu lassen, habe die Klägerin trotz zeitgerechter Belehrung seitens der Beklagten nicht genutzt.
Das Sozialgericht Landshut (SG) hat die Bescheide der Beklagten vom 7. Juni und 13. Dezember 1999 aufgehoben (Urteil vom 13. Dezember 2000); das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit folgender Begründung zurückgewiesen (Urteil vom 18. Juli 2001): Der Befreiungsbescheid vom 19. März 1999 sei dahin auszulegen, dass die Beklagte die Klägerin – rechtswidrig – von jeglicher Versicherungspflicht in der Alterssicherung der Landwirte befreit habe. Maßgeblich sei der Verfügungssatz. Hinweise auf § 3 Abs 1 Nr 1 ALG fänden sich lediglich im weiteren Text des Bescheides, und änderten deshalb an der absoluten Wirkung der Befreiungsentscheidung für alle möglichen Versicherungspflichttatbestände nach dem ALG nichts. Diese Auslegung des Verwaltungsakts entspreche dem im Sozialversicherungsrecht allgemein geltenden Grundsatz, dass eine Befreiung von der Versicherungspflicht absolut wirke, sofern das Gesetz nichts anderes vorschreibe.
Die Beklagte macht mit der – vom Senat zugelassenen – Revision unter Berufung auf Urteile des erkennenden Senats vom 12. Juni 2001 (B 10 LW 16/00 R – SGb 2001, 622 und B 10 LW 7/00 R – SozR 3-5868 § 85 Nr 6) geltend, anders als vom LSG angenommen und in seiner Entscheidung zu Grunde gelegt, gelte der Grundsatz von der umfassenden Wirkung einer Befreiungsentscheidung nur im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung und auch dort nicht uneingeschränkt.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG vom 18. Juli 2001 und des SG vom 13. Dezember 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt das Berufungsurteil und behauptet, von der Beklagten über die Möglichkeit einer Befreiung von der Versicherungspflicht als Weiterversicherte nicht aufgeklärt worden zu sein. Sie habe die Antragsfrist unverschuldet versäumt und sei deshalb in die versäumte Frist wieder einzusetzen. Im Übrigen sei sie im Wege eines sozialrechtlichen Wiederherstellungsanspruchs von der Versicherungspflicht als Weiterversicherte zu befreien.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist begründet.
Die Beklagte war durch den Befreiungsbescheid vom 19. März 1999 rechtlich nicht gehindert, eine Versicherungspflicht der Klägerin als Weiterversicherte nach § 27 GAL iVm § 84 Abs 2 ALG festzustellen. Denn sie hatte die Klägerin mit dem genannten Bescheid nur von der Versicherungspflicht nach § 1 Abs 3 ALG befreit. Entgegen der Auffassung der Instanzgerichte sind die von der Klägerin angegriffenen Bescheide der Beklagten danach rechtmäßig. Die anders lautenden Urteile der Vorinstanzen sind aufzuheben.
Die Klägerin unterlag – bis zur Befreiungsentscheidung der Beklagten – einer doppelten Versicherungspflicht: Als Ehegattin eines Landwirts galt sie selbst als (versicherungspflichtige) Landwirtin (§ 1 Abs 3 ALG) und war außerdem als ehemalige Landwirtin nach Aufgabe des eigenen landwirtschaftlichen Unternehmens auf ihren Antrag seit 1973 weiterhin pflichtversichert (§ 27 GAL). Denn Personen, die – wie die Klägerin – am 31. Dezember 1994 unabhängig von einer Tätigkeit als Landwirt versicherungspflichtig waren, blieben unter der Geltung des am 1. Januar 1995 in Kraft getretenen ALG als solche versicherungspflichtig (§ 84 Abs 2 ALG).
Der erkennende Senat hat sich bereits verschiedentlich über das Verhältnis der kraft Gesetzes nach § 1 Abs 3 ALG zum 1. Januar 1995 eingetretenen Versicherungspflicht von Ehegatten eines Landwirts (“Gilt-Landwirten”) zu der Versicherungspflicht Weiterversicherter nach § 27 GAL iVm § 84 Abs 2 ALG geäußert: Diese wird von jener verdrängt (SozR 3-5868 § 84 Nr 2 und § 85 Nr 6). Wird – nur – von einer der beiden Versicherungspflichten befreit, so wird davon die andere Versicherungspflicht nicht zwangsläufig mit erfasst. Wie der Senat bereits entschieden hat, gibt es keinen Grundsatz einer absoluten Wirkung von Befreiungsentscheidungen (vgl Urteile vom 12. Juni 2001 – B 10 LW 16/00 R – SGb 2001, 622 und – B 10 LW 7/00 R – SozR 3-5868 § 85 Nr 6). Bestand die andere Versicherungspflicht bis dahin nur latent, lebt sie vom Zeitpunkt der Befreiung an wieder auf.
So liegt der Fall hier. Die Beklagte hat die Klägerin nach § 3 Abs 1 Nr 1 ALG als (Gilt-) “Landwirt” von der Versicherungspflicht befreit, weil ihr regelmäßiges außerlandwirtschaftliches Erwerbseinkommen ein Siebtel der Bezugsgröße überschreitet. Solange die Befreiung wirkt, tritt die Versicherungspflicht der Klägerin nach § 27 GAL iVm § 84 Abs 2 ALG wieder hervor.
An diesem Ergebnis ändert der Inhalt des Befreiungsbescheides vom 19. März 1999 nichts. Das LSG hat diesen Verwaltungsakt vom 19. März 1999 dahin ausgelegt, dass er nicht nur gemäß § 3 Abs 1 ALG von der Versicherungspflicht nach § 1 Abs 3 ALG befreie, sondern zugleich – rechtswidrig – von der Versicherungspflicht nach § 27 GAL iVm § 84 Abs 2 ALG. Diese Interpretation trifft nicht zu. Der Senat, der als Revisionsgericht das Berufungsurteil auch insoweit zu überprüfen hat (vgl BSG SozR 3-1300 § 32 Nr 2 mwN), legt den Bescheid anders aus: Darin wird nur eine Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht nach § 1 Abs 3 ALG ausgesprochen.
Verwaltungsakte sind nach denselben Grundsätzen auszulegen wie Willenserklärungen (§§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch). Maßgebend ist danach, wie der Empfänger die Erklärung bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalls objektiv verstehen musste (vgl von Wulffen/Engelmann, SGB X, 4. Aufl 2001, § 31 RdNr 26 mwN). Die Klägerin musste die im Bescheid vom 19. März 1999 getroffene Regelung allein als Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 1 Abs 3 ALG – und nur nach dieser Vorschrift – verstehen. Das ergibt sich bereits aus dem Verfügungssatz des Bescheides, der davon spricht, die Klägerin werde als “Landwirt” befreit. Als (Gilt-) “Landwirt” war die Klägerin ab 1. Januar 1995 gemäß § 1 Abs 3 ALG versicherungspflichtig geworden und als “Landwirt” hatte sie beantragt, nach § 3 Abs 1 Nr 1 ALG von der Versicherungspflicht befreit zu werden. Die Beitragspflicht als weiterversichertes Mitglied nach § 27 GAL und die daran anschließende Versicherungspflicht nach § 84 Abs 2 ALG waren demgegenüber unabhängig von einer Tätigkeit als “Landwirt” (zur Unterscheidung des Gesetzes zwischen Weiterversicherten und “aktiven” Landwirten vgl BSG SozR 3-5868 § 84 Nr 2). Gerade weil ihre Stellung als landwirtschaftliche Unternehmerin weggefallen war, hatte die Klägerin 1973 ihre – unwiderrufliche – Weiterversicherung beantragt.
Der Begründungsteil des Bescheides vom 19. März 1999 lässt – aus der Sicht eines verständigen Empfängers – keinen Zweifel am Umfang der im Verfügungssatz ausgesprochenen Befreiung. Denn dort findet sich außer einer Darstellung der gesetzlichen Grundlagen dieser Entscheidung (§ 3 Abs 1 Nr 1 ALG) vor allem ein Hinweis auf Meldepflichten und auf die Folgen ihrer Verletzung.
Ein verständiger, wie die Klägerin mit der Entwicklung des Versicherungsverhältnisses von Beginn an vertrauter Adressat durfte auch aus der Abrechnung des Beitragskontos und der Erstattung zweier Monatsbeiträge, die bereits für die Zeit nach der ab 1. Februar 1999 erfolgten Befreiung entrichtet worden waren (680,00 DM), nicht darauf schließen, er sei nunmehr auch von der Versicherungspflicht als Weiterversicherter befreit. Der Bescheid ist insgesamt ebenso klar wie ausführlich und lässt an dieser Stelle allein die Auffassung der Beklagten erkennen, ab 1. Februar 1999 bestehe wegen der ausgesprochenen Befreiung keine Beitragspflicht mehr. Aus diesem Irrtum über die Rechtsfolgen der erfolgten Befreiung kann nicht darauf geschlossen werden, die Beklagte habe die Klägerin, ohne dies im sonst detaillierten Bescheid ausdrücklich zu regeln, nebenbei auch von der wiederauflebenden Versicherungspflicht als Weiterversicherte befreien wollen.
Zu Recht hat das LSG eine Wiedereinsetzung in die versäumte Frist ausgeschlossen. Selbst wenn sich § 84 Abs 2 Satz 2 ALG dahin auslegen ließe, dass bei Versäumung der dort festgelegten Frist des materiellen Sozialrechts eine Wiedereinsetzung zulässig sein sollte, so war die Klägerin doch nicht – anders als in § 27 Abs 1 SGB X gefordert – ohne ihr Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten. Das folgt aus dem Grundsatz der formellen Publizität bei Verkündung von Gesetzen, der besagt, dass diese mit ihrer Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt allen Normadressaten als bekannt gelten, ohne Rücksicht darauf, ob und wann sie tatsächlich Kenntnis erlangt haben (vgl dazu BSGE 67, 90, 92 = SozR 3-1200 § 13 Nr 1; BSGE 72, 80, 83 = SozR 3-1300 § 27 Nr 3; BSGE 79, 168, 171 = SozR 3-2600 § 115 Nr 1).
Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch der Klägerin, so behandelt zu werden, als hätte sie rechtzeitig einen Befreiungsantrag gestellt, scheidet in Übereinstimmung mit der Auffassung des LSG aus, weil die Beklagte ihrer Aufklärungs- und Beratungspflicht hinreichend nachgekommen ist, indem sie die Klägerin mit Schreiben vom 9. Januar 1995 umfassend über die Änderung der Gesetzeslage und die ihr als Weiterversicherter eingeräumten Gestaltungsmöglichkeiten informiert hat. Die unsubstantiierte Behauptung der Klägerin, dieses Schreiben nicht erhalten zu haben, hat das LSG durch die Indizwirkung des Datumsstempels auf dem in der Verwaltungsakte abgehefteten Abdruck des Aufklärungsschreibens als entkräftet angesehen. Im Revisionsverfahren hat die Klägerin ihre Behauptung lediglich wiederholt, die Feststellung des LSG aber nicht mit ordnungsgemäßen Verfahrensrügen angegriffen, sodass der Senat daran gebunden ist (§ 163 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen