Verfahrensgang

LSG Hamburg (Urteil vom 21.11.1989)

SG Hamburg (Urteil vom 09.12.1987)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 21. November 1989 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 9. Dezember 1987 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 18. Mai 1987 verurteilt, der Klägerin ab dem 1. Januar 1983 Witwenversorgung zu gewähren.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in allen Rechtszügen.

 

Tatbestand

I

Der Streit der Beteiligten betrifft die Frage, ob der Klägerin als Witwe des 1902 geborenen und am 28. März 1945 in der Nacht nach seiner Einberufung zum Wehrdienst durch Selbstmord aus dem Leben geschiedenen T. Versorgung zusteht. Anträge auf Hinterbliebenenversorgung sind mehrfach abgelehnt worden. Im Widerspruchsbescheid vom 19. März 1949 wird ausgeführt: Es könne zwar unter Berücksichtigung der Erklärungen der Klägerin und des Zeugen L. festgestellt werden, daß T. Kriegsgegner war und den Freitod dem Soldatenleben vorgezogen habe. Auch wenn er als überzeugter Pazifist den Freitod gesucht habe, um nicht andere Menschen im Krieg töten zu müssen, lägen die Voraussetzungen für die Bewilligung einer Witwenrente nicht vor. Bei Selbstmord könne Rente nur gewährt werden, wenn die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Freitod und den unmittelbaren Kriegseinwirkungen gegeben sei. Der Verstorbene sei zur Zeit seines Todes zwar bereits Soldat gewesen, aber noch nicht unmittelbaren Kriegseinwirkungen ausgesetzt gewesen. Die Einziehung zum Kriegsdienst könne auch nicht einer behördlichen Maßnahme in Erwartung bevorstehender Angriffe gleichgesetzt werden. Mit dieser Begründung sind auch die folgenden ablehnenden Bescheide und Urteile aufgrund von Zugunstenanträgen der Klägerin ergangen.

Am 12. März 1987 beantragte die Klägerin erneut Versorgung und trug erstmals vor, wegen der familiär nachgewiesenen Neigung zu Depressionen hätte ihr Mann nicht eingezogen werden dürfen. Der Antrag ist abgelehnt worden (Bescheid vom 18. Mai 1987). Das Sozialgericht (SG) hat einen Sohn des Verstorbenen vernommen, der ausgesagt hat, daß die Eltern seines Vaters, sein Vater selbst und dessen älterer Bruder Selbstmord begangen hätten; auch er habe noch zu Lebzeiten des Vaters einen Selbstmordversuch unternommen. Der Vater habe immer gegen seine Depressionen angekämpft; ohne den Gestellungsbefehl wäre es nicht zum Selbstmord gekommen. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil des SG Hamburg vom 9. Dezember 1987). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen. Es hat die Auffassung des SG geteilt, daß T. zur Zeit seines Freitodes bereits Soldat gewesen sei. Der Freitod sei aber weder das Ergebnis einer militärischen oder militärähnlichen Dienstverrichtung noch eines Unfalls während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder der diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse gewesen. Anders sei auch nicht deshalb zu entscheiden, weil die Behörden bei ordnungsgemäßer Tauglichkeitsprüfung, die damals unterblieben sei, die Neigung zum Selbstmord erkannt und von der Einberufung abgesehen hätten. Die familienbedingte abnorme Reaktionsbereitschaft hätte versorgungsrechtlich nur Bedeutung gehabt, wenn der Verstorbene Waffendienst geleistet hätte und er daran zerbrochen wäre. Im Zeitpunkt der Selbsttötung sei er nur seelischen Belastungen ausgesetzt gewesen, die unter den damaligen Kriegsverhältnissen nicht als außergewöhnlich zu werten seien. Das ergebe sich auch daraus, daß im allgemeinen auf die Einberufung zum Wehrdienst nicht mit dem Entschluß zur Selbsttötung reagiert worden sei (Urteil des LSG vom 21. November 1989).

Die Klägerin hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Nach ihrer Auffassung rechnet der Gestellungsbefehl zu den wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen, die angesichts der besonderen Disposition des Verstorbenen für den Freitod ursächlich geworden sind. Sie beantragt,

die angefochtenen Urteile zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18. Mai 1987 zu verurteilen, der Klägerin Witwenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und sieht in dem Gestellungsbefehl lediglich eine Gelegenheitsursache für die Selbsttötung.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist begründet. Der Klägerin steht Witwenversorgung zu, da der Tod ihres Ehemannes durch eine Schädigung iS des § 1 BVG verursacht worden ist (§ 38 Abs 1 Satz 1 BVG), ohne daß der Anerkennung § 1 Abs 4 BVG entgegensteht.

Angesichts der auf neuem Sachvortrag der Klägerin beruhenden Feststellungen der Vorinstanzen sind die früheren rechtsverbindlichen, aber unrichtigen ablehnenden Entscheidungen nach § 44 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch – (SGB X) aufzuheben. Der Anspruch ist begründet, weil der Verstorbene wegen seiner familiär bedingten Neigung zu Depressionen nicht hätte eingezogen werden dürfen. Der Gestellungsbefehl ist zur wesentlichen Ursache für die Selbsttötung geworden, weil der so vorbelastete Verstorbene zudem Pazifist und Kriegsgegner war, wie seit dem Abschlußbericht des Militärgerichts vom 12. April 1945 und dem Inhalt des Widerspruchsbescheides vom 19. März 1949 unstreitig feststeht.

Eine Schädigung in Form des Selbsttötens ist durch wehrdiensteigentümliche Verhältnisse verusacht, wenn der schädigende Vorgang zwar auch auf inneren Ursachen beruht, der eigentliche Anlaß aber durch wehrdiensteigentümliche Umstände wesentlich mitverursacht wird. Dies hat der Senat bereits in zwei Entscheidungen, die Selbstschädigungen im Zusammenhang mit Depressionen betrafen, dargestellt (Urteil vom 13. Dezember 1984 – 9a RVs 2/83 – USK 84268; und Urteil vom 30. Januar 1991 – 9a/9 RV 26/89 – SuP 1991, 576). In beiden Fällen hat der Senat darauf hingewiesen, daß zu den wehrdiensteigentümlichen Verhältissen alle Einflüsse des Wehrdienstes zählen, die sich aus der besonderen Rechtsnatur dieses Verhältnisses ergeben. Dabei ist nicht einmal erforderlich, daß diese typischen Besonderheiten des Wehrdienstes auch mit einer besonderen Gefährdung einhergehen, die im Zivilleben nicht vorkommt. Insbesondere ist es entgegen der Rechtsauffassung des LSG nicht erforderlich, daß es sich um außergewöhnliche Belastungen handelt, denen durchschnittlich belastbare Menschen nicht erliegen. Es kommt daher nicht darauf an, daß sich die wehrpflichtigen und wehrfähigen Männer regelmäßig nicht der Gestellung durch Selbstmord entzogen haben.

Wesentliche Ursache war der Gestellungsbefehl und damit die Einbeziehung in den Wehrdienst schon deshalb, weil das Maß der individuellen Belastbarkeit des Verstorbenen damit überschritten war und er sich in Verbindung mit der familienbedingten abnormen Reaktionsbereitschaft zur Selbsttötung genötigt gesehen hat. Für das Versorgungsrecht ist nie zweifelhaft gewesen, daß es nicht auf einen generellen typisierenden Maßstab, sondern auf die individuelle Belastbarkeit geschädigter Personen ankommt (vgl insbesondere für den Suizid BSGE 7, 192, 194; 10, 209, 213; 11, 50, 56; SozR 3200 § 8 Nr 3; und Urteil vom 23. November 1971 – 8 RV 179/71). Da der Verstorbene trotz der familiären Vorbelastung bis zum Gestellungsbefehl sein Leben gemeistert hat, dieser Gestellungsbefehl ihn als Pazifisten zu einem mit seinem Gewissen unvereinbaren Handeln einberief, kann es nach den Feststellungen des LSG nicht zweifelhaft sein, daß er die wesentliche Ursache für die Selbsttötung gesetzt hat.

Wehrdiensteigentümliche Verhältnisse werden entgegen den Vorinstanzen auch dann wirksam, wenn im Wehrdienst Waffendienst noch nicht geleistet wird. Das Dienstverhältnis begann schon vor dem Dienstantritt mit dem Gestellungstag, hier dem Tag vor der Selbsttötung (§ 21 Abs 3 Buchst a Wehrgesetz vom 21. Mai 1935 – RGBl I 609 -/24. September 1944 – RGBl I 313 –; dazu Absolon, Wehrgesetz und Wehrdienst 1935-1945, 1960, S 157; BSGE 21, 222,

223 = SozR Nr 71 zu § 1 BVG). Mit dem Gestellungsbefehl zum 27. März 1945 wurde der Verstorbene nicht nur Soldat, sondern seine Beteiligung am Kriegsgeschehen durch Waffendienst stand unabweisbar bevor. Der Verstorbene ist nicht etwa unbestimmten Vorstellungen und Zukunftsängsten, einer unbegründeten Furcht vor möglichen Entwicklungen aufgesessen, sondern hatte bei der damaligen Kriegslage unmittelbar bevorstehende Ereignisse und Handlungen vor Augen; er hat die volle psychische Belastung des Kriegsdienstes, den Zwang zur Anwendung der Waffe empfunden und diesem Druck psychisch nicht Stand gehalten. Nicht anders als bei dem Grundrecht auf Wehrdienstverweigerung (Art 4 Abs 3 GG iVm dem Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz vom 28. Februar 1983 ≪BGBl I, 203≫) setzt die Verweigerung nicht einmal die Heranziehung zum Waffendienst voraus; der Gewissenskonflikt entsteht nicht erst im Kampfgeschehen (vgl BVerfGE 12, 45, 56).

Selbst ohne die beim Verstorbenen festgestellte familiäre Disposition zum Selbstmord, die bei einem ordnungsgemäßen Musterungsverfahren seiner Einziehung zum Wehrdienst entgegengestanden hätte, ist einem Kriegsdienstverweigerer, der sich dem Waffendienst unter den Verhältnissen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nicht legitim entziehen konnte (vgl § 5 Kriegssonderstrafrechtsverordnung vom 17. August 1938 ≪RGBl I S 1457≫ und § 5a idF vom 31. März 1943 ≪RGBl I 261≫ sowie die Nachweise bei Messerschmidt/Wüllner, Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus, 1987, S 107 ff; vgl auch Wüllner, Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung, 1991, S 516 ff; vgl auch den Sachverhalt in BVerwG Buchholz 448.0, § 25 WpflG Nr 36) Entschädigung zuzubilligen. Diesen Personen wurde ihr Grundrecht auf Wehrdienstverweigerung genommen (vgl BGHSt 27, 191, 193; BVerwGE 7, 242, 250; BVerfGE 12, 45, 53 f; 32, 40, 45). Der damaligen Zeit vergleichbare Zwangslagen (außergewöhnliche Härte der drohenden Strafe für einen Kriegsdienstverweigerer, inbesondere in totalitären Staaten) werden heute als Asylgründe anerkannt (vgl die Nachweise in BVerwG in Info-Ausländerrecht 1991, 310, 313 = NVwZ 1992, 274); sie haben besondere Zwangslagen iS von § 3 Abs 1 des Bundesvertriebenengesetzes begründet, sofern es um die Verpflichtung zur Nationalen Volksarmee der DDR ging (vgl OVG Berlin in OVGE Bln 14, 127 ff). Man ließe die Unrechtsmaßstäbe der damaligen Verhältnisse in heutiger Zeit fortgelten, wenn der Witwe die Hinterbliebenenversorgung versagt würde, obwohl Wehrpflicht und Gestellungsbefehl, also militärische Maßnahmen iS des § 1 BVG, einen Kriegsdienstverweigerer in den Tod getrieben haben (in dieser Form rechnet auch § 1 Abs 3 Nr 1 Bundesentschädigungsgesetz ≪BEG≫, die Selbsttötung den staatlichen Verfolgungsmaßnahmen zu). Dies gilt insbesondere dann, wenn ein offenes Bekenntnis zum Pazifismus und die generelle Weigerung der Wehrpflicht nachzukommen, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ebenfalls den Tod zur Folge gehabt hätte (vgl § 69 Abs 1, § 70 Abs 2 Militärstrafgesetzbuch vom 10. Oktober 1990 ≪BGBl I 1347≫ und die Richtlinien des Führers, abgedruckt bei Absolon, Das Wehrmachtsstrafrecht im 2. Weltkrieg, 1958, S 77 f; vgl auch die Beispiele bei Wüllner, aa0). In diesem Entschädigungsrechtsstreit ist nicht darüber zu entscheiden, ob die Handlungen der Wehrmachtsangehörigen aller Befehlsebenen und die militärgerichtlichen Reaktionen an heutigen rechtsstaatlichen Grundsätzen zu messen wären. Jedenfalls darf aber die staatliche Entschädigung der Opfer nicht mit den damals geltenden Maßstäben und Argumenten versagt werden.

Der Anerkennung steht nicht entgegen, daß sich der Verstorbene „absichtlich” (§ 1 Abs 4 BVG) selbst getötet hat. Schon nach § 5 der SVD Nr 27 (vom 2. Mai 1947 – ABl fd Brit Zone S 155) iVm Nr 7 SVA Nr 11 (vom 5. Juli 1947 – aa0 S 234) galt ein Selbstmord nicht als vorsätzlich herbeigeführte Beschädigung, sofern die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs mit unmittelbaren Kriegseinwirkungen gegeben war. In den letzten Kriegsjahren sind auch in erheblichem Umfang Freitodfälle als entschädigungsberechtigender Tatbestand anerkannt worden (vgl Dubitscher, Der Suizid, 1957, S 126). Dabei waren unterschiedliche Fallkonstellationen zu unterscheiden, die zu der Wertung führten, daß ein Freitod nicht als absichtlich herbeigeführte Schädigung (§ 1 Abs 4 BVG) angesehen wurde. Das galt vor allem in den Fällen, in denen eine erhebliche Beeinträchtigung der Geistestätigkeit mit einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand angenommen wurde (vgl BSGE 1, 150; 12, 122 = SozR Nr 45 zu § 1 BVG; SozEntsch BSG 9/3 § 1 Nr 22; vgl zur Unfallversicherung BSGE 54, 184, 185 = SozR 2200 § 589 Nr 6). Gleiches galt dann, wenn der Freitod mittelbare Schädigungsfolge war (vgl BSG VdK-Mitteilungen 1964, 404; Urteil vom 15. September 1966 – 8 RV 883/64 –; vgl für die Unfallversicherung BSGE 66, 156 = SozR 3-2200 § 553 Nr 1). Dies galt aber auch dann, wenn ein krankhafter Gemütszustand infolge der dem Wehrdienst bzw dem Kriegsgeschehen eigentümlichen Verhältnisse in einen Selbstmord einmündete (vgl BSGE 7, 192 = SozR BVG § 1 Nr 26; BSG Breithaupt 1969, 836 = SozR Nr 10 zu § 85 BVG und Urteil vom 23. November 1971 – 8 RV 179/71 –; vgl für die Rentenversicherung BSGE 61, 113 = SozR 2200 § 1252 Nr 6 und BSG SozSich 1989, 317). Die in der älteren Rechtsprechung überwiegend vertretene Auffassung, daß der Freitod in aller Regel im Zustand einer zwanghaften Beeinträchtigung der Willens- und Handlungsfreiheit geschieht, hat auch in der medizinischen Literatur Bestätigung gefunden (vgl Dubitscher aa0, S 6; 42 ff, 82 ff und 115 ff). Dies festzustellen erübrigt sich jedoch dann, wenn bei einer festgestellten familiären Anlage die wehrdiensteigentümlichen Verhältnisse die Reaktion des Freitodes auslösen. Diese Kausalkette ist allein nach der im sozialen Entschädigungsrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu beurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1175100

BSGE, 164

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