Leitsatz (amtlich)
Tritt zu einer nicht unfallbedingten Erkrankung, deretwegen Krankengeld gezahlt wird, eine unfallbedingte Erkrankung hinzu, die den Versicherten ebenfalls zum Bezug von Krankengeld berechtigen würde, besteht keine Ersatzpflicht des Trägers der UV nach RVO § 1504, solange die durch die nicht unfallbedingte Erkrankung hervorgerufene AU andauert (Weiterentwicklung von BSG 1962-06-29 2 RU 177/60 = BSGE 17, 157).
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a Fassung: 1963-04-30, § 1504 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 1509a Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 01.09.1976; Aktenzeichen I UBf 60/74) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 24.09.1974; Aktenzeichen 23 U 54/74) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 1. September 1976 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der bei der Klägerin versicherte ... (Versicherter) bemerkte am 13. Februar 1972 beim Einsteigen in die Straßenbahn, daß eine auf der obersten Stufe des Einstiegs stehende Frau ihm rückwärts entgegenfiel. Er breitete die Arme aus, fing sie auf und fiel, die Frau in den Armen haltend, rückwärts aus der Straßenbahn auf die Straße. Dabei zog er sich am Trittbrett eine Prellung der rechten Schienbeinkante mit einer ca. 8 cm langen Schürfwunde und ein Hämatom zu. Wegen einer phlegmonösen Entzündung an der verletzten Stelle und einer thrombophlebitischen Reizung war er vom 9. Mai bis zum 8. Juni 1972 in stationärer Behandlung. Am Unfalltag war er wegen eines seit Jahren bestehenden Diabetes mellitus arbeitsunfähig.
Die Beklagte lehnte Ersatzansprüche der Klägerin ab, weil der Versicherte in einer Zwangslage gehandelt habe, wobei ihm lediglich die Möglichkeit verblieben sei, entweder den Fall der Frau zu verhindern oder von sich abzuwenden.
Mit der Klage hat die Klägerin einen Ersatzanspruch in Höhe von insgesamt 8.095,80 DM geltend gemacht, der sich wie folgt zusammensetzt: Krankengeld in der Zeit vom 3. März bis zum 4. Juli 1972 insgesamt 5.534,12 DM, Krankenhauskosten in der Zeit vom 9. Mai bis zum 8. Juni 1972 insgesamt 2.441,- DM, Verwaltungskosten bei kassenärztlicher Behandlung 10,- DM und 2 v. H. von 5.534,12 DM = 110,68 DM.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 24. September 1974 die Klage abgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt: Der Versicherte habe zwar einen Schaden von der stürzenden Frau objektiv abgewendet. Es sei aber auch möglich, daß der Verletzte die rückwärtsfallende oder hinsinkende Frau aufgefangen habe, um gleichzeitig sich selbst und diese oder um nur sich zu schützen.
Die Klägerin hat Berufung eingelegt und beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie 7.975,12 DM zu zahlen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 1. September 1976 das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin aus Anlaß des Unfalles des Verletzten 7.975,12 DM zu zahlen. Es hat zur Begründung u. a. ausgeführt: Der Versicherte habe der stürzenden Frau Hilfe geleistet. Er habe damit aktiv in ein Geschehen eingegriffen und sei nicht etwa, wie die Beklagte meine, passiv an einem Geschehen beteiligt gewesen, ohne sich ihm entziehen zu können. Dabei könne es nicht gegen den Versicherungsschutz sprechen, daß der Verletzte auch ohne ein Tätigwerden in eine gefährliche Lage gekommen und dabei ebenfalls verunglückt wäre. Gerade bei dem hier gegebenen Sachverhalt sei nicht auszuschließen, daß sich der Sturz sowohl für den Verletzten als auch für die Passantin ohne das Eingreifen des Verletzten ungünstiger hätte auswirken können. Jedenfalls sei das Verhalten des Verletzten zumindest der Passantin zugute gekommen, wobei es dahingestellt bleiben könne, ob der Verletzte selbst, wenn er nicht oder anders reagiert hätte, glimpflicher hätte davonkommen können. Der Senat sei der Überzeugung, daß der Verletzte durch sein reaktionsschnelles Zugreifen objektiv zugunsten der Passantin eine Hilfeleistung im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a der Reichsversicherungsordnung (RVO) erbracht habe. Zwar setze eine Hilfeleistung begrifflich grundsätzlich einen zweckgerichteten Einsatz zugunsten eines Dritten voraus und damit ein auf die Hilfeleistung gerichtetes subjektiv motiviertes Handeln. Wo dieses aber wegen der Spontaneität des Eingreifens nicht möglich sei oder ein subjektiv auf die Hilfeleistung gerichteter Wille wie hier von der Beklagten in Abrede gestellt werde, müsse es ausreichen, daß sich das aktive Handeln objektiv als Hilfeleistung darstelle. Die geltend gemachte Ersatzforderung sei auch der Höhe nach begründet. Nach den Ausführungen des medizinischen Sachverständigen, denen der Senat folge, sowie der beigezogenen ärztlichen Unterlagen sei neben dem Grundleiden (Diabetes mellitus) die Unfallverletzung eine wesentlich mitwirkende Ursache der vom 13. Februar 1972 an notwendig gewordenen Krankenhausbehandlung und der Arbeitsunfähigkeit gewesen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie trägt vor: Der Unfallversicherungsschutz bei Hilfeleistung setze ein aktives Handeln zugunsten eines Dritten und ein subjektives Willenselement voraus. Beides habe hier nicht vorgelegen. Der Versicherte sei vielmehr passiv in das Geschehen hineingezogen worden. Seine Handlung habe einer natürlichen Bewegung entsprochen, wie sie häufig auf vielbegangenen Treppen und in öffentlichen Verkehrsmitteln vorkomme, um sich vor den Folgen eines möglichen Falles zu schützen. Die objektive Abwendung eines Unglücksfalles reiche nicht aus, um das Tatbestandsmerkmal des "Hilfe leisten" im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a RVO zu erfüllen. Vorsorglich werde die Höhe der geltend gemachten Ersatzforderung bestritten. Der Versicherte sei zur Unfallzeit arbeitsunfähig gewesen und habe Krankengeld aus der gesetzlichen Krankenversicherung bezogen. Solange Arbeitsunfähigkeit wegen einer unfallfremden Erkrankung bestehe, könne keine weitere Arbeitsunfähigkeit wegen Unfallfolgen eintreten.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Zur Höhe der Ersatzforderung macht sie geltend, daß seit dem Unfall die Unfallfolgen die Arbeitsunfähigkeit überwiegend bedingt hätten.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat mit Einwilligung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die zulässige Revision ist insofern begründet, als die Sache wegen der Höhe des Ersatzanspruches zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Die Beklagte hat gemäß § 1504 Abs. 1 RVO die Kosten mit Ausnahme der Krankenpflege zu ersetzen, die der Klägerin aus Anlaß des Arbeitsunfalles ihres Versicherten nach Ablauf des 18. Tages nach dem Arbeitsunfall entstanden sind.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Versicherte im Zeitpunkt des Unfalles gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a RVO unter Versicherungsschutz gestanden und einen Arbeitsunfall erlitten hat.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hat der Versicherte die Arme ausgebreitet, um die von der obersten Stufe des Einstiegs der Straßenbahn fallende Frau aufzufangen. Er hat es demnach unternommen, bei einem Unglücksfall Hilfe zu leisten. Es ist für die Anwendung des § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a RVO nicht erforderlich, daß der Unglücksfall bereits eingetreten ist; es genügt, daß er - was hier zumindest der Fall war - einzutreten droht (BSG SozR Nr. 4 zu § 539 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl., S 474 a; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 539 Anm. 53, 56; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kennzahl 300, S. 11). Es kann deshalb dahinstehen, ob der Unglücksfall durch den beginnenden Sturz bereits eingetreten war oder nur unmittelbar drohte. Die Hilfeleistung bei Unglücksfällen im Sinne dieser Vorschrift setzt ein aktives Tun voraus (Brackmann aaO S. 474 b; Lauterbach aaO § 539 Anm. 58). Entgegen der Auffassung der Revision bedeutet dies jedoch nicht, daß das aktive Tun auf einer mehr oder minder längeren Überlegung darüber beruht, ob und wie ggf. Hilfe geleistet werden soll. Auch bei einer aufgrund eines sekundenschnell gefaßten Entschlusses oder bei einer aufgrund innerer Bereitschaft, jederzeit einem Menschen im Rahmen des zumutbar Möglichen zu helfen, spontan geleisteten aktiven Hilfe besteht Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a RVO. Die gegenteilige Ansicht würde zu dem vom Gesetzgeber nicht gewollten und sinnwidrigen Ergebnis führen, den Helfer vom Versicherungsschutz auszunehmen, der die Hilfe ohne Abwägen der Gefahren leistet, weil der drohende oder bereits eingetretene Unglücksfall ein sofortiges Handeln erfordert. Hinzu kommt, daß eine sichere Abgrenzung zwischen spontaner und aufgrund sekundenschneller Überlegung erbrachten Hilfeleistung häufig nicht möglich wäre. Der Hilfeleistung stand nicht entgegen, falls der Versicherte durch das Auffangen der Frau wesentlich mitbezweckte, auch sich selbst zu schützen. Abgesehen davon, daß hierfür die auf die Vernehmung des Versicherten gestützten tatsächlichen Feststellungen des LSG keinen Anlaß bieten, hätte die Hilfeleistung für die Frau sein Handeln jedenfalls wesentlich mitbestimmt.
Neben dem Vorliegen eines Arbeitsunfalles ist jedoch allgemein Voraussetzung für den Ersatzanspruch nach § 1504 Abs. 1 RVO, daß der Träger der Krankenversicherung für den Versicherten wegen der Folgen des Arbeitsunfalles Leistungen erbracht hat und der Träger der Unfallversicherung wegen der Vorleistungspflicht der Krankenkasse nicht hat leisten müssen (sog. Einheit des Leistungsgrundes; s. BSG SozR Nr. 7 zu § 1504 RVO; Brackmann aaO S. 964 u, 966 b).
Diese Voraussetzung ist hinsichtlich der nach dem 18. Tage nach dem Arbeitsunfall durchgeführten Krankenhauspflege erfüllt. Nach den dem Urteil des LSG zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen war die Krankenhausbehandlung nach Eintritt des Arbeitsunfalles wegen dessen Folgen notwendig geworden. Die Beklagte hat danach der Klägerin die Kosten der Krankenhausbehandlung zu ersetzen.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG war der Versicherte im Zeitpunkt des Arbeitsunfalles jedoch wegen einer unfallunabhängigen Erkrankung arbeitsunfähig. Das ihm bis zum Ende dieser Arbeitsunfähigkeit gezahlte Krankengeld hat die Klägerin demnach nicht aufgrund ihrer Vorleistungspflicht gezahlt, sondern weil nur sie als Krankenkasse und nicht auch die Beklagte zur Leistung aus Anlaß der unfallunabhängigen Erkrankung (Diabetes mellitus) verpflichtet war. Der Senat hat entschieden, daß der einheitliche Leistungsgrund und damit die Pflicht des Trägers der Unfallversicherung, Ersatz zu leisten, bestehenbleiben, wenn zu der Erkrankung, die Folge eines Arbeitsunfalles ist und deretwegen Krankengeld gezahlt wird, eine unfallunabhängige Erkrankung hinzutritt, die den Versicherten ebenfalls zum Bezug von Krankengeld berechtigen würde (BSGE 17, 157, 158; Brackmann aaO S. 966 b ; DOK 1965, 597; Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften Rundschreiben VB 55/65 vom 30. April 1965 und VB 109/75 vom 25. Juni 1975, hier 4.2.1). Hierdurch wird nicht eine weitere Arbeitsunfähigkeit begründet, die etwa neben der bereits bestehenden, vom Unfall herrührenden Arbeitsunfähigkeit selbständige rechtliche Folgen äußern konnte (BSG aaO). Andererseits werden - wie im vorliegenden Fall - die Einheit des Leistungsgrundes und die Ersatzpflicht des Trägers der Unfallversicherung für das Krankengeld nicht begründet, wenn zu einer unfallunabhängigen Erkrankung, deretwegen Krankengeld gezahlt wird, eine unfallbedingte Erkrankung hinzutritt, die den Versicherten ebenfalls zum Bezug von Krankengeld berechtigen würde (ebenso Marburger, Ersatzkasse 1973, 70, 73). Auch hierdurch wird nicht eine weitere Arbeitsunfähigkeit begründet, die etwa neben der bereits bestehenden, nicht vom Arbeitsunfall herrührenden selbständige rechtliche Folgen äußern konnte. Entfällt die Arbeitsunfähigkeit wegen der unfallunabhängigen Erkrankung, bleibt der Versicherte jedoch wegen der unfallbedingten Erkrankung weiterhin arbeitsunfähig, so tritt die Einheit des Leistungsgrundes ein; denn die Krankenkasse leistet nunmehr aufgrund ihrer Vorleistungspflicht in einem dem Risikobereich der Unfallversicherung zuzurechnenden Versicherungsfall.
Solange demnach der Versicherte wegen der im Zeitpunkt des Arbeitsunfalles bereits bestehenden Arbeitsunfähigkeit weiterhin arbeitsunfähig blieb, war hinsichtlich des Krankengeldes ein einheitlicher Leistungsgrund nicht gegeben und die Beklagte nicht verpflichtet, der Klägerin das gezahlte Krankengeld zu ersetzen. Das LSG hat jedoch nicht festgestellt, wie lange die durch die unfallunabhängige Erkrankung bei Eintritt des Arbeitsunfalles vorliegende Arbeitsunfähigkeit gedauert hat. Da der Senat diese erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, war die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Obgleich nach den vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen die Ersatzpflicht der Beklagten hinsichtlich der Kosten der Krankenhauspflege besteht, ist das Urteil im vollen Umfang aufzuheben, weil das LSG über die Leistungsklage insgesamt entschieden hat.
Eine Kostenentscheidung entfällt (s. § 193 Abs. 4 SGG).
Fundstellen