Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachteilsausgleich "G". Anhaltspunkte 1996. Klagezulässigkeit. Prüfungsumfang. Entbehrlichkeit eines Vorverfahrens
Orientierungssatz
1. Das Revisionsgericht hat von Amts wegen insbesondere solche Mängel zu berücksichtigen, die sich aus dem Fehlen unverzichtbarer Prozeßvoraussetzungen ergeben, gleichgültig, ob der Mangel nur das Revisionsverfahren oder schon das Klage- und Berufungsverfahren betrifft. Hierzu gehört auch die Zulässigkeit der Klage. Sie ist von Amts wegen zu prüfen, da anderenfalls das Revisionsverfahren einer entscheidenden Grundlage entbehrt (vgl BSG vom 26.7.1979 - 8b RKg 11/78 = SozR 1500 § 150 Nr 18).
2. Ein an sich notwendiges eigenständiges, mit einem abschließenden Bescheid endendes Verwaltungsverfahren kann im Verlauf eines sozialgerichtlichen Verfahrens entbehrlich werden, wenn von der Verwaltungsentscheidung nichts anderes zu erwarten ist, als eine Bestätigung des prozessualen Vorbringens, und die Verwaltung durch rügelose Einlassung auf die klägerischen Anträge auf ihren Vorrang zur Gesetzesausführung verzichtet hat. In diesem Fall würde die förmliche Nachholung des Verwaltungsverfahrens lediglich dazu führen, die Entscheidung des Rechtsstreits zu verzögern (vgl BSG vom 15.8.1996 - 9 RVs 10/94 = SozR 3-3870 § 4 Nr 13).
3. Zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung an das LSG - zu erneuter Verhandlung und Entscheidung -, weil es die normgleichen Anhaltspunkte (AHP) nicht hinreichend beachtet hat.
Normenkette
SchwbG § 60 Abs. 1 S. 1; SGG §§ 169, 78, 170
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger ist wegen zahlreicher Leiden, darunter auch solcher der Wirbelsäule und der unteren Gliedmaßen Behinderter mit einem Grad der Behinderung (GdB) von - jetzt - 70. Im Revisionsverfahren streiten die Beteiligten nur noch um den Nachteilsausgleich "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr). Die auf diesen Nachteilsausgleich gerichtete Klage hatte in den Vorinstanzen Erfolg (Urteile des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 29. November 1995 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 19. November 1996). SG und LSG haben es - gestützt auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. F. - nach den festgestellten Gesundheitsstörungen für nachvollziehbar gehalten, daß der Kläger - wie von ihm behauptet - nur noch 15 bis 20 Minuten, nicht aber die vom Bundessozialgericht (BSG) geforderten 30 Minuten gehen könne (BSGE 62, 273 ff = SozR 3870 § 60 Nr 2).
Mit seiner - vom Senat zugelassenen - Revision macht der Beklagte im wesentlichen geltend, das LSG habe bei seiner Entscheidung die normähnlichen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) unbeachtet gelassen.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts München vom 29. November 1995 und des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. November 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für richtig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist begründet; allerdings nicht schon deshalb, weil der Beklagte über den hier allein noch streitigen Nachteilsausgleich "G" bisher durch Verwaltungsakt nicht entschieden hat.
Bei einer zulässigen Revision ist, bevor über die sachlich-rechtlichen Voraussetzungen des streitigen Anspruchs entschieden werden kann, zu prüfen, ob die Voraussetzungen erfüllt sind, von denen die Rechtswirksamkeit des Verfahrens als Ganzes abhängt. Der Beklagte hat zwar mit seiner Revision insoweit keinen Verfahrensmangel gerügt. Das Revisionsgericht hat jedoch von Amts wegen insbesondere solche Mängel zu berücksichtigen, die sich aus dem Fehlen unverzichtbarer Prozeßvoraussetzungen ergeben, gleichgültig, ob der Mangel nur das Revisionsverfahren oder schon das Klage- und Berufungsverfahren betrifft. Hierzu gehört auch die Zulässigkeit der Klage. Sie ist von Amts wegen zu prüfen, da anderenfalls das Revisionsverfahren einer entscheidenden Grundlage entbehrt (vgl zum Vorstehenden BSG SozR 1500 § 150 Nr 18).
Die Klage war zunächst unzulässig, soweit mit ihr neben einem höheren GdB beantragt worden war, die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" festzustellen. Beim Beklagten hatte der Kläger Nachteilsausgleiche noch nicht geltend gemacht, und darüber hatte weder ein Verwaltungs- noch - anders als nach § 78 SGG grundsätzlich erforderlich - ein Widerspruchsverfahren stattgefunden. Der Beklagte hat im Bescheid vom 5. Januar 1993 - wie vom Kläger beantragt - lediglich über die Höhe des GdB entschieden und den allein dagegen gerichteten Widerspruch mit Bescheid vom 19. Oktober 1993 zurückgewiesen. Erstmals mit seiner Klagebegründung hat der Kläger dann beantragt, die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "G" festzustellen (vgl zu dieser prozessualen Situation BSG SozR 3870 § 4 Nr 1).
Die in diesem Punkt zunächst unzulässige Klage ist aber auch insoweit im Verlauf des sozialgerichtlichen Verfahrens zulässig geworden. Der Senat hat bereits entschieden, daß ein an sich notwendiges eigenständiges, mit einem abschließenden Bescheid endendes Verwaltungsverfahren im Verlauf eines sozialgerichtlichen Verfahrens entbehrlich werden kann, wenn von der Verwaltungsentscheidung nichts anders zu erwarten ist, als eine Bestätigung des prozessualen Vorbringens, und die Verwaltung durch rügelose Einlassung auf die klägerischen Anträge auf ihren Vorrang zur Gesetzesausführung verzichtet hat. In diesem Fall würde die förmliche Nachholung des Verwaltungsverfahrens lediglich dazu führen, die Entscheidung des Rechtsstreits zu verzögern (vgl BSG SozR 3-3870 Nr 13). So liegt der Fall hier. Der Sachverhalt war vom SG auch wegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" aufgeklärt. Dazu hatte sich der Sachverständige Dr. F. in seinem Gutachten vom 13. Mai 1995 nebst Ergänzung vom 1. September 1995 geäußert. Der Beklagte hatte daraufhin, gestützt auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme, in seinem Vergleichsangebot vom 30. Juni 1995 festgestellt: "Merkzeichen stehen nicht zu" und in der mündlichen Verhandlung vor dem SG lediglich beantragt, die - auch auf den Nachteilsausgleich "G" gerichtete - Klage abzuweisen.
Die Revision des Beklagten hat jedoch deshalb Erfolg, weil das LSG die normgleichen AHP nicht hinreichend beachtet hat. Ob der Kläger Anspruch auf die Feststellung hat, daß bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" vorliegen, läßt sich nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt durch das Revisionsgericht allerdings nicht abschließend entscheiden. Das Berufungsurteil ist deshalb aufzuheben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Nach § 59 Abs 1 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) sind Schwerbehinderte, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, im Nahverkehr unentgeltlich zu befördern. Ob ein Schwerbehinderter infolge seiner Behinderung im Straßenverkehr bewegungsbehindert ist, bestimmt sich nach der ergänzenden Definitionsnorm des § 60 Abs 1 SchwbG: Er muß ua infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich und andere Personen Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen können, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Diese Voraussetzung hat das BSG konkretisiert.
Der Senat hat als allgemeine Tatsache ermittelt und festgelegt, welche Wegstrecken nach den tatsächlichen Gehgewohnheiten der Bevölkerung "im Ortsverkehr ... üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden" (BSGE 62, 273, 277 = SozR 3870 § 60 Nr 2). Dies sind 2.000 Meter. Ferner wurde der Vergleichsmaßstab für die rechtserhebliche Bewegungsbeeinträchtigung von der Rechtsprechung um einen Zeitfaktor, nämlich eine Gehzeit von 30 Minuten für die genannte Strecke, ergänzt. Die ansonsten mit den AHP 1983 inhaltsgleichen AHP 1996 haben diesen Maßstab übernommen (Ziff 30 Abs 2 ≪S 165≫). Die AHP geben darüber hinaus als antizipierte Sachverständigengutachten (BSGE 72, 285, 286 = SozR 3-3870 § 4 Nr 6) aber auch an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, daß ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit tragen die AHP dem Umstand Rechnung, daß das Gehvermögen des Menschen keine statische Meßgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen (vgl Gebauer, MedSach 1995, 350). Von diesen Faktoren filtern die AHP all jene heraus, die nach § 60 Abs 1 Satz 1 SchwbG außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des Schwerbehinderten im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen. Die AHP 1983 beschreiben dazu in Ziff 30 Abs 3 bis 5 (S 127; ebenso AHP 1996, S 166 f) Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" als erfüllt anzusehen sind, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (vgl Rauschelbach/Pohlmann in Rohr/Sträßer, Bundesversorgungsrecht mit Verfahrensrecht, Band V, Stand 1992, S A 254 und zum Vorstehenden insgesamt BSG SozR 3-3870 § 60 Nr 2).
Entscheidend ist danach im vorliegenden Fall, ob allein die bei dem Kläger festgestellten körperlichen Regelwidrigkeiten mit den von ihnen ausgehenden Funktionsbeeinträchtigungen die Bewegungsfähigkeit einer gedachten Person ebensoweit herabsetzen, wie in den in den AHP (beispielhaft) genannten Fällen. Erst dann ist nach dem Erfahrungswissen ärztlicher Sachverständiger, das sich in den AHP niedergeschlagen hat, anzunehmen, daß der Kläger die Strecke von 2.000 Metern nicht mehr innerhalb einer halben Stunde zurücklegen kann. Der Sachverständige Dr. F. und ihm folgend das LSG haben die Einschränkung der Bewegungsfähigkeit beim Kläger nicht an diesem Maßstab geprüft, sondern unabhängig davon gefragt, ob er noch 30 Minuten gehen könne. Diese Frage haben sie bejaht, weil die von ihm behauptete Einschränkung seiner Bewegungsfähigkeit auf eine Gehzeit von nur noch 15 bis 20 Minuten nach den bei ihm erhobenen Befunden nachvollziehbar sei.
Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren - mit sachverständiger Hilfe - festzustellen haben, ob Gesundheitsstörungen, wie sie beim Kläger vorliegen, die Gehfähigkeit allgemein derart beeinträchtigen, wie dies bei den in den AHP beispielhaft genannten Personenkreisen der Fall ist.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen