Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des rechtlichen Gehörs. Ablehnung eines Vertagungsantrags. Erkrankung des Klägers
Orientierungssatz
Das Gericht verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es einen Vertagungsantrag ablehnt, obwohl der Kläger nachweislich eines ärztlichen Attests arbeitsunfähig erkrankt ist. Das Gericht ist, jedenfalls ohne nähere Erkundigungen über Ausmaß und Umstände der Erkrankung anzustellen, nicht berechtigt, die ärztliche Bescheinigung als nicht ausreichend anzusehen.
Normenkette
SGG § 62; GG Art. 103 Abs. 1; SGG § 110 Abs. 1 S. 1, § 111 Abs. 1, § 202; ZPO § 227 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der zur vertragszahnärztlichen Versorgung zugelassene Kläger wendet sich gegen einen Bescheid des beklagten Prothetik-Beschwerdeausschusses bei der zu 2) beigeladenen Kassenzahnärztlichen Vereinigung, wonach er wegen einer mangelhaften prothetischen Versorgung seiner Patientin W.-S. im Jahre 1994 den auf diese Behandlung entfallenden Kassenanteil zu erstatten hat. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, weil der Kläger bei der prothetischen Versorgung der Zähne 11, 12 und 16 der Versicherten nicht hinreichend sorgfältig vorgegangen sei (Urteil vom 7. Mai 1997).
Auf die Berufung des anwaltlich nicht vertretenen Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) am 10. Oktober 1997 Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 10. Dezember 1997 anberaumt und das persönliche Erscheinen des Klägers angeordnet. Nach Terminsbestimmung hat der Kläger die Berufung schriftsätzlich begründet und zusätzliche Unterlagen vorgelegt. Am 9. Dezember 1997, dem Tag vor dem Verhandlungstermin, ist per Telefax bei dem Berufungsgericht ein Vertagungsantrag eingegangen. Der Kläger hat mitgeteilt, sein angeordnetes Erscheinen sei wegen Krankheit nicht möglich, ihm liege aber wegen der Vorlage weiterer Beweismittel viel daran, am Termin persönlich teilzunehmen. Dem Antrag war eine ebenfalls per Fax übermittelte Bescheinigung des Arztes Dr. K. vom 9. Dezember 1997 beigefügt, in der dem Kläger Arbeitsunfähigkeit voraussichtlich bis zum 15. Dezember 1997 bescheinigt wurde.
Im Verhandlungstermin am 10. Dezember 1997 ist der Kläger nicht erschienen. Das Berufungsgericht hat den Vertagungsantrag durch Beschluß mit der Begründung abgelehnt, ein erheblicher Grund zur Vertagung sei nicht vorgetragen; die vorgelegte Bescheinigung über Arbeitsunfähigkeit in der Tätigkeit als Zahnarzt sage nichts über die Verhinderung des Klägers aus, nach Essen reisen und in der mündlichen Verhandlung vortragen zu können. Im Anschluß daran hat das LSG die Berufung zurückgewiesen und gemäß § 153 Abs 2 SGG auf das Urteil des SG Bezug genommen. In einer "fachlichen Klarstellung" hat es sich "ergänzend" mit der zahnmedizinischen Versorgung der Zähne 12 und 16 der Versicherten W.-S. durch den Kläger befaßt und sich in diesem Zusammenhang auf die Sachkunde des ehrenamtlichen Richters Dr. O. bezogen, der an der Entscheidung mitgewirkt hat (Urteil vom 10. Dezember 1997).
Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger als Verfahrensfehler eine Verletzung seines Anspruchs auf angemessene Gewährung rechtlichen Gehörs. Das LSG habe seinen ordnungsgemäß begründeten Vertagungsantrag zu Unrecht abgelehnt. Wenn das LSG diesem Antrag nachgekommen wäre, hätte er Gelegenheit gehabt, Ausführungen zur Sache zu machen und insbesondere auf Mängel des im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachtens hinzuweisen, das dem angefochtenen Regreßbescheid zugrunde liege. Zudem habe ihm das LSG die Möglichkeit genommen, zu den ergänzenden Feststellungen Stellung zu nehmen, die das Gericht auf die Sachkunde des ehrenamtlichen Richters Dr. O. gestützt habe. Schließlich sei das Berufungsgericht nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen, weil der ehrenamtliche Richter Dr. O. an der Entscheidung mitgewirkt habe, obwohl dieser Richter aufgrund seiner Funktionen bei der Beigeladenen zu 2) als befangen angesehen werden müsse.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Dezember 1997 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 7. Mai 1997 sowie den Bescheid des Beklagten vom 28. September/30. Oktober 1995 aufzuheben, hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Dezember 1997 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Rüge der fehlerhaften Besetzung des Berufungsgericht gehe fehl, weil Dr. O. zwar vom Vorstand der Beigeladenen zu 2) als ehrenamtlicher Richter vorgeschlagen worden sei, indessen keine über seine Mitgliedschaft hinausgehenden Funktionen bei der Beigeladenen zu 2) wahrnehme. Im übrigen ergäbe sich aus dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten des Dr. Sch., daß die vom Kläger gefertigte Prothetik bei der Patientin W.-S. fehlerhaft gewesen sei, weil die Überkronung der Zähne 12 und 16 nicht angezeigt gewesen sei.
Die Beigeladenen zu 1) und 2) beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG Erfolg.
Soweit der Kläger als Verfahrensfehler die Mitwirkung des ehrenamtlichen Richters Dr. O. am angefochtenen Urteil rügt, ist die Revision allerdings unzulässig. Der Kläger bezeichnet entgegen der Vorschrift des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG nicht die Tatsachen, die den Verfahrensmangel ergeben können. Die Revisionsbegründung enthält keinen Hinweis, welche Funktion der ehrenamtliche Richter ausübt oder ausgeübt hat, aus der sich ein Mitwirkungsausschluß nach § 41 ZPO iVm § 60 Abs 1 SGG oder Anhaltspunkte für eine Befangenheit iS des § 42 Abs 2 ZPO iVm § 60 Abs 1 SGG ergeben könnten.
Zu Recht rügt der Kläger indessen, daß das LSG mit der Entscheidung des Rechtsstreits im Termin der mündlichen Verhandlung vom 10. Dezember 1997 seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz, § 62 SGG) verletzt und damit verfahrensfehlerhaft entschieden hat.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne der aufgezeigten Vorschriften gebietet, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muß den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in einer mündlichen Verhandlung darzulegen (Senatsurteil vom 27. Januar 1993 - 6 RKa 19/92 -; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 4 S 5). Dabei ist dem Anspruch auf rechtliches Gehör in der Regel dadurch genügt, daß das Gericht die mündliche Verhandlung anberaumt (§ 110 Abs 1 Satz 1 SGG), der Beteiligte bzw sein Prozeßbevollmächtigter ordnungsgemäß geladen und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt eröffnet wird. Ein Termin zur mündlichen Verhandlung kann - und ggf muß - jedoch gemäß § 202 SGG iVm dem entsprechend anwendbaren § 227 Abs 1 Satz 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) bei Vorliegen erheblicher Gründe aufgehoben werden. Ein iS des § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO ordnungsgemäß gestellter und hinreichend substantiierter Vertagungsantrag eröffnet nicht nur die Möglichkeit einer Terminsverlegung, sondern begründet eine entsprechende Pflicht des Gerichts (vgl BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2). Das LSG hat hier den Vertagungsantrag des Klägers vom 9. Dezember 1997 zu Unrecht zurückgewiesen, denn der Kläger war ohne sein Verschulden iS des § 227 Abs 1 Satz 2 Nr 1 ZPO am Erscheinen verhindert.
Der Kläger hat in seinem Vertagungsantrag darauf hingewiesen, daß er wegen einer Erkrankung zum Termin nicht erscheinen könne, daß ihm aber viel daran liege, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Seine Erkrankung hat er durch ein Attest des behandelnden Arztes hinreichend belegt. Das Berufungsgericht war, jedenfalls ohne nähere Erkundigungen über Ausmaß und Umstände der Erkrankung des Klägers anzustellen, nicht berechtigt, diese ärztliche Bescheinigung als nicht ausreichend anzusehen. Wenn das LSG aus dem Umstand, daß der behandelnde Arzt bestätigt hat, der Kläger sei "arbeitsunfähig erkrankt", schließen wollte, der Kläger könne lediglich nicht zahnärztlich tätig sein, gleichwohl aber zum Termin nach Essen reisen und an der mündlichen Verhandlung teilnehmen, hätte es dazu den Kläger befragen bzw eine nähere Stellungnahme des Arztes einholen müssen. Dessen Anschrift und Telefonnummer waren dem per Fax übermittelten Attest zu entnehmen. Im übrigen ist der vom Kläger in seinem Fax vom 9. Dezember 1997 angekündigten ausführlichen Stellungnahme des behandelnden Arztes vom selben Tag, die auf dem Postweg am 11. Dezember 1997, also erst nach Schluß der mündlichen Verhandlung, bei dem Berufungsgericht eingegangen ist, zu entnehmen, daß der Kläger schwerwiegend erkrankt sei und sogar eine stationäre Behandlung notwendig werden könne.
Der im Klage- und im Berufungsverfahren anwaltlich nicht vertretene Kläger hat damit aus seiner Sicht alles getan, was ihm zumutbar war, um das LSG von der Notwendigkeit zu überzeugen, den Termin der mündlichen Verhandlung zu vertagen, um ihm eine Teilnahme zu ermöglichen. Insoweit liegt der Fall anders als derjenige, über den das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mit Beschluß vom 9. Dezember 1994 entschieden hat (BVerwG NJW 1995, 799, 800). In dieser Entscheidung hat das BVerwG aus den "konkret gegebenen Umständen" des zu beurteilenden Falles geschlossen, daß eine am Abend vor dem geplanten Termin der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingegangene ärztliche Stellungnahme hinsichtlich der "Arbeitsunfähigkeit" des dortigen Klägers dem Gericht keinen Anlaß zur Vertagung hat geben müssen, weil das Verwaltungsgericht dem gesamten prozessualen Verhalten des Klägers im dortigen Verfahren habe entnehmen dürfen, daß es ihm ohnehin nur um eine Prozeßverschleppung gehe. Ergänzend hat das BVerwG darauf hingewiesen, daß sich die Verschleppungsabsicht des dortigen Klägers auch daraus ergebe, daß die in dem Attest aufgeführte Diagnose, die zur Arbeitsunfähigkeit geführt haben soll, unleserlich war und Anschrift bzw Telefonnummer des die Bescheinigung ausstellenden Arztes nicht angegeben waren, so daß das Verwaltungsgericht keine Möglichkeit gehabt habe, bei dem Arzt Nachfrage zu erhalten. Derartige auf mutwillige Prozeßverschleppung hindeutende Umstände hat das Berufungsgericht hier nicht festgestellt. Es hätte deshalb den Rechtsstreit vertagen und den Kläger Gelegenheit geben müssen, zur Sache Stellung zu nehmen.
Eine entsprechende Verpflichtung hat insbesondere auch deshalb bestanden, weil die schriftlich vorgelegte Berufungsbegründung des Klägers dem LSG Anlaß zu eingehenden fach- und zahnmedizinischen Ausführungen hinsichtlich der Mangelhaftigkeit der durchgeführten prothetischen Versorgung der Versicherten W.-S. gegeben hat. Gerade wenn sich das Berufungsgericht - wogegen grundsätzlich keine Bedenken bestehen - zur Widerlegung der vom Kläger für die Ordnungsgemäßheit seiner Behandlung angeführten Umstände (auch) auf die Sachkunde des als Vertragszahnarzt zugelassenen ehrenamtlichen Richters Dr. O. hat stützen wollen, hätte es dem Kläger Gelegenheit geben müssen, zur Fachkunde dieses Zahnarztes sowie zum Inhalt seiner Ausführungen Stellung zu nehmen. Dies gilt insbesondere, nachdem das LSG mit seiner Entscheidung, das persönliche Erscheinen des Klägers zum Termin der mündlichen Verhandlung anzuordnen (vgl § 153 Abs 1 SGG iVm § 111 Abs 1 SGG), zu erkennen gegeben hat, daß es Anlaß für eine Erörterung des Sach- und Streitstandes mit dem Kläger sieht.
Die Nichtvertagung des Termins stellt sich deshalb als Verstoß gegen die Verpflichtung zur Gewährung des rechtlichen Gehörs im gerichtlichen Verfahren und damit als wesentlicher Verfahrensmangel dar. Die angefochtene Entscheidung kann darauf beruhen. Das Urteil des LSG war daher aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen, da das Bundessozialgericht dem Vorbringen des Klägers hinsichtlich der Ordnungsgemäßheit der umstrittenen prothetischen Versorgung nicht nachgehen kann (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Das Berufungsgericht wird bei seiner erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen