Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisbarkeit auf die Tätigkeit als Lampenwärter bzw Verwieger 1. rechtliches Gehör. Überraschungsurteil
Orientierungssatz
1. Beachtung des rechtlichen Gehörs und zur Verweisbarkeit auf die Tätigkeit eines Lampenwärters oder Verwiegers 1.
2. Die Berücksichtigung der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bei der Prüfung eines Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit ist auch nach Inkrafttreten des § 43 Abs 2 letzter Satz SGB 6 idF des SGB6ÄndG 2 vom 2.5.1996 möglich. Bei der Zugänglichkeit bestimmter Tätigkeiten für Betriebsfremde handelt es sich nicht um eine Frage der "jeweiligen Arbeitsmarktlage" iS der oben genannten Vorschrift. Denn mit der Neufassung des § 43 Abs 2 SGB 6 sollten jedenfalls keine Verschlechterungen zu Lasten der Versicherten verbunden sein, insbesondere sind die in der Rechtsprechung des BSG entwickelten Seltenheitsfälle weiterhin anzuwenden.
Normenkette
SGB VI § 43 Abs. 2 S. 4 Fassung: 1996-05-02; SGG §§ 62, 128 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger begehrt Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Der im Jahre 1957 geborene Kläger war bis November 1991 als Hauer beschäftigt. Nach längerer Arbeitsunfähigkeit wurde er im Oktober 1992 auf die Tätigkeit eines Kauenwärters des zur R. W. AG, später R. B. AG, gehörenden Bergwerks A. umgesetzt; der sozialmedizinische Dienst hatte wegen eines beiderseitigen Kniegelenksleidens nur noch Arbeiten zu ebener Erde, ohne lange Wegstrecken und ohne Kniebelastung für möglich gehalten.
Auf seinen Rentenantrag vom Februar 1992 gewährte die Beklagte dem Kläger Bergmannsrente ab 1. Dezember 1991, lehnte jedoch mit Bescheid vom 17. März 1992 und Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 1992 die Bewilligung von Rente wegen BU ab.
Die hiergegen erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) Dortmund mit Urteil vom 19. Oktober 1993 ab. Der Kläger könne nach dem Ergebnis der medizinischen Beweiserhebung noch die ihm sozial zumutbaren Tätigkeiten eines Verwiegers 1 und eines Lampenwärters ausüben; der hierfür in Betracht kommende Arbeitsmarkt sei ihm nicht verschlossen, da der nach wie vor bei der R. AG beschäftigte Kläger noch eine reale, wenn auch schlechte Chance auf eine entsprechende Beschäftigung habe.
Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Beklagte mit Urteil vom 9. Mai 1995 verurteilt, dem Kläger ab 1. März 1992 Rente wegen BU zu gewähren. Für den Kläger bestehe keine zumutbare Verweisungstätigkeit. In Betracht kämen allenfalls die bereits vom SG benannten Tätigkeiten. Im Bergbau seien jedoch Arbeitsplätze für Lampenwärter - wie auch für Verwieger 1 - regelmäßig leistungsgeminderten Betriebsangehörigen vorbehalten; dies sei auch der Beklagten aus anderen Verfahren bekannt. Deshalb sei für die Frage, ob der Kläger auf die Tätigkeit eines Lampenwärters verwiesen werden könne, allein auf die Arbeitsbedingungen in der Lampenstube der Zeche A. abzustellen, auf der der Kläger derzeit als Kauenwärter arbeite. Diesen Bedingungen werde der Kläger jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht gerecht, denn das dort erforderliche häufige Umhergehen und gelegentliche Knien verbiete sich wegen seines Knieleidens. Ebensowenig sei der Kläger auf die Tätigkeit eines Verwiegers 1 verweisbar. Denn auf der Zeche A. sei aufgrund einer Umorganisation nur noch ein leistungsgeminderter Verwieger 1 beschäftigt, weitere Arbeitsplätze dieser Art ständen nicht zu Verfügung. Damit bestehe nicht einmal eine schlechte Chance für einen Zugang zu einem solchen Arbeitsplatz.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des rechtlichen Gehörs iS der §§ 62, 128 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und des Art 103 Abs 1 Grundgesetz (GG). Aufgrund der Aktenlage sei sie bis zum Erlaß des Urteils davon ausgegangen, daß Versicherte als Betriebsangehörige der R. B. AG grundsätzlich auf alle bei den Bergwerken dieses Unternehmens vorhandenen Arbeitsplätze verwiesen werden könnten. Auch das Berufungsgericht habe den Beteiligten Erkenntnisse übersandt, auf denen Arbeitsplätze auf verschiedenen Bergwerken des Unternehmens beschrieben worden seien. Sie hätte, wäre ihr die Auffassung des Berufungsgerichts bekannt gewesen, rechtzeitig durch einen Beweisantrag eine Anfrage an die R. B. AG bewirken können, um nachzuweisen, daß der Kläger eine (zumindest schlechte) Chance habe, auf anderen Bergwerken des Unternehmens einen Arbeitsplatz als Lampenwärter oder Verwieger 1 zu erlangen. In der Sache meint die Beklagte, der Kläger sei schon deshalb nicht berufsunfähig (bu), da mit dem 2. Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (2. SGB VI-ÄndG) vom 2. Mai 1996 (BGBl I 659) § 43 Abs 2 SGB VI dahingehend ergänzt worden sei, daß nicht bu sei, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben könne, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen sei. Dies gelte für alle Versicherten, deren Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor dem 1. Juni 1996 begonnen habe (§ 302b Abs 3 SGB VI idF des 2. SGB VI-ÄndG), und, wie sich aus der entsprechenden Änderung des § 45 Abs 2 SGB VI ergebe, auch für die Verhältnisse des Bergbaus.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Mai 1995 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 19. Oktober 1993 zurückzuweisen, hilfsweise, das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er verteidigt das Berufungsurteil. Daß frei werdende Verwieger-1-Stellen ausschließlich mit Betriebsangehörigen besetzt werden, sei der Beklagten bereits im Verfahren 5a RKn 16/86 (Urteil vom 20. August 1987, SozR 1500 § 62 Nr 24) bekannt gewesen.
Während des Revisionsverfahrens hat der Kläger ein Teilanerkenntnis der Beklagten dahingehend angenommen, daß bei ihm ab dem 9. Mai 1996 BU gemäß § 43 Abs 2 SGB VI angenommen werde und dementsprechend Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zuerkannt würden.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Gerichts durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinne ihres Hilfsantrags begründet. Der Rechtsstreit ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Dem LSG ist hinsichtlich seiner tatsächlichen Feststellung, im Bergbau seien Arbeitsplätze für Lampenwärter und für Verwieger 1 regelmäßig leistungsgeminderten Angehörigen der jeweiligen Betriebe (Zechen) vorbehalten, der von der Revision gerügte Verfahrensfehler unterlaufen (1). Auf der Grundlage der verfahrensfehlerfrei getroffenen Feststellungen des LSG läßt sich nicht entscheiden, ob dem Kläger Rente wegen BU für den noch streitigen Zeitraum zusteht (2). Dies gilt auch angesichts der Neufassung des § 43 Abs 2 SGB VI durch das 2. SGB VI-ÄndG (3).
(zu 1) Die Beklagte rügt hinsichtlich der Zugänglichkeit von Arbeitsplätzen als Lampenwärter und Verwieger 1 zu Recht die Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs. Dieser soll gewährleisten, daß den Beteiligten von Amts wegen Gelegenheit gegeben wird, sich zu jedem tatsächlichen Vorbringen und zu allen Beweisergebnissen zu äußern (§ 128 Abs 2 SGG).
Erkenntnisse zu der oben genannten Tatsache waren jedoch im vorliegenden Fall weder in das Klage- noch in das Berufungsverfahren eingeführt worden. Die Vorsitzende des Berufungs-Senats hat zwar in ihrer dienstlichen Äußerung im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde darauf hingewiesen, daß der Beklagten in anderen Verfahren vor dem LSG und dem SG Dortmund entsprechende Auskünfte der R. AG zur Kenntnis gebracht worden seien. Dies kann jedoch nicht zur Wahrung des rechtlichen Gehörs auch im vorliegenden Verfahren ausreichen. Denn die Beklagte hätte nur dann damit zu rechnen brauchen, daß sich das LSG auf entsprechende Erkenntnisse stützen werde, und sich in ihrer Argumentation darauf einstellen können, wenn die entsprechenden Auskünfte entweder auch in das vorliegende Gerichtsverfahren eingeführt worden wären oder aber bereits Urteilen des Berufungssenats zugrunde gelegen hätten, die der Beklagten bekannt waren (s Bundessozialgericht ≪BSG≫ Urteile vom 20. August 1987, SozR 1500 § 62 Nrn 23 und 24, wonach eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dann nicht vorliegt, wenn den Beteiligten eine Auskunft und ein darauf beruhendes früheres Urteil in einer Parallelsache bekannt sind). Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, daß das BSG bereits in Revisionsverfahren des Jahres 1987 aufgrund von Feststellungen des LSG davon ausgegangen war, daß freiwerdende Verwieger-1-Stellen nur mit Betriebsangehörigen besetzt würden (Urteile vom 20. August 1987, aa0). Zum einen ist denkbar, daß damit nicht Betriebsangehörige im engeren Sinne, sondern Unternehmensangehörige gemeint waren. Denn streitig war die Verweisbarkeit von vom Bergbau Abgekehrten. Zum anderen bleibt jedenfalls die Möglichkeit der Verweisung auf Lampenwärter-Tätigkeiten offen.
Augenscheinlich hat das LSG selbst bis kurz vor der mündlichen Verhandlung am 9. Mai 1995 ebenfalls die Einsatzfähigkeit des Klägers als Lampenwärter auch in anderen Zechen für möglicherweise erheblich gehalten. Mit Verfügung vom 13. April 1995 hatte die Vorsitzende einen Zeugen zum Beweisthema "Arbeitsbedingungen auf den Lampenstuben des Bergwerks E." geladen, unter dem 2. Mai 1995 jedoch wieder abgeladen; statt seiner hatte sie den Lampenmeister auf A. als Zeugen geladen, der auch im Termin zu den dortigen Arbeitsbedingungen vernommen wurde. Dieser Wechsel der Zeugen ist jedoch den Beteiligten nicht erläutert worden.
(zu 2) Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, daß dem Kläger für die noch streitige Zeit Rente wegen BU zustünde, wenn für ihn als Verweisungstätigkeiten nur die eines Verwiegers 1 oder die eines Lampenwärters sozial und gesundheitlich in Betracht kämen, entsprechende Arbeitsplätze jedoch generell nur innerhalb anderer Betriebe vergeben würden und somit als Eingangsstelle für einen Betriebsfremden, wie den Kläger, nicht zur Verfügung ständen ("Katalogfall" nach BSG vom 9. September 1986, SozR 2200 § 1246 Nr 139, S 450, dort Nr 4). Daß dies auch für die Verweisungsberufe eines Lampenwärters oder eines Verwiegers 1 zutrifft, hat, wie soeben dargelegt, das LSG jedoch nicht verfahrensfehlerfrei festgestellt.
Dem Senat ist eine abschließende Entscheidung in der Sache nicht möglich.
Selbst auf der Grundlage der Annahme des LSG, Arbeitsplätze als Verwieger 1 würden nur an leistungsgeminderte Betriebsangehörige innerhalb des jeweiligen Bergwerks vergeben, könnte im übrigen die Verweisung auf eine entsprechende Tätigkeit in Betracht kommen. Das LSG hat festgestellt, auf der Zeche A. werde nur noch ein leistungsgeminderter Verwieger 1 beschäftigt; weitere Arbeitsplätze ständen nicht zur Verfügung. Hieraus hat es gefolgert, daß für den Kläger dort nicht einmal eine schlechte Chance für den Zugang zu einem solchen Arbeitsplatz bestehe.
Es erscheint jedoch fraglich, ob dem gefolgt werden kann: Allein aus dem Umstand, daß alle für eine Verweisungstätigkeit in Betracht kommenden Stellen besetzt sind, ergibt sich noch nicht, daß hierauf im Rahmen der Prüfung der BU nicht verwiesen werden könnte. Ganz grundsätzlich ist rechtlich unerheblich, ob die Arbeitsplätze, an denen qualitativ gleichwertige Vergleichsberufe (sog Verweisungsberufe) ausgeübt werden, frei oder besetzt sind (s zB BSG vom 14. Mai 1996 - 4 RA 60/94 ≪zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen≫ unter A II c mwN, abgedruckt auch in AmtlMitt LVA Rheinpr 1997, 156). Es ist bisher vom BSG nicht entschieden worden, ob hieran der Umstand etwas ändert, daß es sich insoweit um den einzigen, dem Versicherten (zB wegen seiner Betriebszugehörigkeit) denkbarerweise zugänglichen Arbeitsplatz handelt. Selbst dann bestünde, nach der auch vom LSG benutzten Formel, eine - wenn auch vielleicht schlechte - Chance, in diesem Vergleichsberuf erwerbswirtschaftlich tätig zu sein. Das LSG hat jedenfalls nicht festgestellt, daß der fragliche Arbeitsplatz nach dem Ausscheiden des gegenwärtigen Inhabers ganz wegfallen soll (die Auskunft des Bergwerks vom 3. August 1994, Bl 220 LSG-Akte mag allerdings darauf hindeuten). Sollte dies nicht der Fall sein, bliebe die gesundheitliche Eignung des Klägers für diese Tätigkeit zu prüfen. Das LSG hat dies - aus seiner Sicht zu Recht - für unerheblich gehalten; die entsprechenden Feststellungen des SG können schon deshalb nicht auf den Zeitpunkt der Berufungsentscheidung bezogen werden, da eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes nicht ausgeschlossen werden kann: Zwischen SG- und LSG-Urteil liegen mehr als 18 Monate.
(zu 3) Nicht zu folgen vermag der Senat der Argumentation der Revision, nach der Ergänzung des § 43 Abs 2 SGB VI durch das 2. SGB VI-ÄndG sei nicht mehr erheblich, ob für den Kläger der Arbeitsmarkt innerhalb der R. B. AG verschlossen sei oder nicht.
Die Berücksichtigung dieses Umstandes bei der Prüfung eines Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit ist vielmehr auch nach Inkrafttreten des § 43 Abs 2 letzter Satz SGB VI idF des 2. SGB VI-ÄndG vom 2. Mai 1996 (BGBl I 659) möglich. Bei der Zugänglichkeit bestimmter Tätigkeiten für Betriebsfremde handelt es sich nicht um eine Frage der "jeweiligen Arbeitsmarktlage" iS der oben genannten Vorschrift. Denn mit der Neufassung des § 43 Abs 2 SGB VI sollten jedenfalls keine Verschlechterungen zu Lasten der Versicherten verbunden sein (s Beschluß des Bundesrats vom 22. März 1996, BR-Drucks 138/96). Insbesondere sind die in der Rechtsprechung des BSG entwickelten Seltenheitsfälle weiterhin anzuwenden (Ausschußbericht, BT-Drucks 13/3907, S 6 zu IV). Hierzu aber gehört die Untergruppe der "Schonarbeitsplätze", die regelmäßig leistungsgeminderten Angehörigen des eigenen Betriebs vorbehalten sind und somit als Eingangsstelle für Betriebsfremde außer Betracht bleiben (so bereits das Urteil des Senats vom 28. Oktober 1996 - 8 RKn 5/96, Umdruck S 6). An dieser Beurteilung ändert auch nichts, daß das 2. SGB VI-ÄndG die Vorschrift über die Rente für Bergleute (§ 45 SGB VI) ebenso ergänzt hat wie die des § 43 Abs 2 SGB VI. Denn die Übernahme der neuen Formulierung nicht nur in die §§ 43 und 44 SGB VI, sondern auch in die Vorschrift des § 45 SGB VI ist in den Gesetzesmaterialien nicht gesondert begründet worden. Dann aber gilt auch insoweit die jenem Gesetzesvorhaben zugrundeliegende Absicht, die bisherige Rechtsprechung des BSG - auch zu den "Seltenheitsfällen" - als "Status quo" festzuschreiben (s neben den bereits zitierten Äußerungen des Bundesrats und des Bundestagsausschusses für Arbeit und Sozialordnung zB auch Manfred Grund, MdB, in: BT-Plenarprotokoll 13/90, S 7980 ≪D≫ sowie BMA Blüm in BR-Plenarprotokoll 695 S 156 ≪B≫).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen