Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. Alkoholgenuß. Fußgänger
Leitsatz (amtlich)
Alkoholgenuß führt bei Unfällen außerhalb des Straßenverkehrs nur dann zum Ausschluß des Versicherungsschutzes, wenn neben der Blutalkoholkonzentration (kein allgemeiner Grenzwert) weitere beweiskräftige Umstände für ein alkoholtypisches Fehlverhalten vorhanden sind (Anschluß an BSG vom 25.11.1977 - 2 RU 55/77 = BSGE 45, 176 = SozR 2200 § 548 Nr 37).
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 13.03.1984; Aktenzeichen S 8 U 148/82) |
Hessisches LSG (Entscheidung vom 19.04.1989; Aktenzeichen L 3 U 775/84) |
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung von Hinterbliebenenrente an die Witwe des am 2. Oktober 1981 verstorbenen H. S. (S.).
S. nahm am 2. Oktober 1981 als Verwaltungsangestellter des Finanzamtes F. an einer zentralen Beförderungsfeier seiner Dienstbehörde teil, zu der der Personalrat im Einvernehmen mit dem Amtsvorsteher eingeladen hatte. Die Feier fand von 13.00 bis 18.45 Uhr in dem im 5. Stockwerk des Dienstgebäudes gelegenen Sitzungssaal statt. Nach dem Ende der Feier beteiligte sich S. an Aufräumungsarbeiten. Gegen 19.10 Uhr hörte der Bedienstete C. Stolpergeräusche im oberen Treppenhaus und anschließend einen Aufschlag im Erdgeschoß. Er fand S. auf dem Boden liegend; S. wies Knochenbrüche im Halswirbelbereich sowie an Armen und Beinen auf; er verstarb am Unfallort. Die Blutentnahme ergab eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 2 o/oo.
Bei den vom Beklagten durchgeführten Ermittlungen ließ sich die Absturzstelle nicht mit Sicherheit feststellen. Im Bericht des Technischen Aufsichtsdienstes wurde darauf hingewiesen, daß nach der Hessischen Bauordnung für mögliche Absturzhöhen über 12 m, was im Finanzamt F. im 4. und 5. Stockwerk der Fall sei, eine Geländerhöhe von mindestens 1,10 m erforderlich sei. Die tatsächliche Höhe im Bereich der Treppenpodeste liege dagegen bei 95 bis 96 cm.
Durch Bescheid vom 23. April 1982 lehnte der Beklagte die Gewährung von Witwenrente ab, weil der Alkohol die allein rechtlich wesentliche Ursache für den Unfall (Tod) des Versicherten gewesen sei. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung dieses Bescheides verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenleistungen zu gewähren; der Tod des S. sei Folge eines Arbeitsunfalles, weil die von der Betriebseinrichtung ausgehende Gefahr als wesentliche Mitursache für den Unfall angesehen werden müsse (Urteil vom 13. März 1984).
Das Landessozialgericht (LSG) hat weitere Ermittlungen durchgeführt, insbesondere hat es eine Reihe von Mitarbeitern des Finanzamtes als Zeugen gehört und ein medizinisches Sachverständigengutachten von Prof. Dr. G. (vom 8. Januar 1987) eingeholt. Es hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen, soweit diese den Anspruch auf Witwenrente betrifft. Bezüglich der Ansprüche auf Sterbegeld und Überbrückungshilfe hat es die Berufung als unzulässig verworfen (Urteil vom 19. April 1989). Seiner Ansicht nach habe S. keinen Arbeitsunfall erlitten. Zwar habe sich der Versicherte beim Verlassen der Betriebsfeier auf einem Weg befunden, der gemäß § 548 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unfallversicherungsrechtlich geschützt gewesen sei. Rechtlich allein wesentliche Unfallursache sei jedoch der vorangegangene Alkoholgenuß gewesen. Dieser schließe den Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall zwar nur dann aus, wenn neben der BAK weitere beweiskräftige Umstände für ein alkoholtypisches Fehlverhalten vorlägen, wofür es im vorliegenden Fall keine brauchbaren Zeugenaussagen gebe. Auch sei hier von einer guten Alkoholverträglichkeit des S. auszugehen und weiter festzustellen, daß keine gröberen, äußerlich erkennbaren Ausfallerscheinungen wie eine lallende Sprache und/oder ein schwankender Gang aufgefallen seien. Bei der festgestellten BAK von 2 o/oo bestünden jedoch - wie Prof. Dr. G. ausgeführt habe- regelhaft Persönlichkeitsveränderungen, die uU in Situationen hineinführten, denen der Betreffende dann nicht mehr ausreichend gewachsen sei. Gehe man von der Erfahrung aus, daß das Treppenhaus des Finanzamtes problemlos habe begangen werden können und daß S. die Verhältnisse gut gekannt habe, dann komme der BAK und den damit verbundenen Ausfallerscheinungen die entscheidende rechtliche Bedeutung zu. Es sei davon auszugehen, daß der Versicherte aus dem 5. Stockwerk nach Durchschreiten der Pendeltür abgestürzt sei. Diese Annahme liege wegen der kurzen Wegstrecke zwischen Pendeltür und dem Treppengeländer nahe. Dabei sei möglicherweise nicht ohne Bedeutung, daß die Anpassung an die Dunkelheit im unbeleuchteten Treppenhaus alkoholbedingt erheblich verzögert gewesen sein könne. Eine schnelle, nicht ausreichend kontrollierte Bewegung auf das Geländer zu habe dann in Anbetracht des deutlich über der Geländeroberkante gelegenen Körperschwerpunktes zum Absturz führen können. Andererseits komme betriebsbezogenen Umständen - "zu niedriges Geländer" - keine entscheidende rechtliche Bedeutung zu. Insoweit sei festzustellen, daß das Geländer ursprünglich den gesetzlichen Bestimmungen entsprochen habe und von der Bauaufsicht zwischenzeitlich keine Anpassung an die geänderten Vorschriften verlangt worden sei. Daraus ergebe sich, daß die Geländerhöhe keine besondere Gefahr dargestellt habe. Nach der Erfahrung des täglichen Lebens sei davon auszugehen, daß der Versicherte bei sonst gleicher Sachlage wahrscheinlich nicht verunglückt wäre.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das LSG hätte schon aufgrund seiner eigenen Feststellungen nicht zu dem Ergebnis gelangen dürfen, der Alkoholgenuß sei die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen. Es sei in sich widersprüchlich, wenn das LSG einerseits kein alkoholtypisches Fehlverhalten habe feststellen können, andererseits aber den übrigen Gefahrenmomenten (kurze Entfernung zum Geländer, zu niedriges Geländer, Dunkelheit) keine kausale Bedeutung habe zukommen lassen. Diese Beweiswürdigung stehe auch im Widerspruch zum Gutachten des Prof. Dr. G. , der ausdrücklich auf das "relativ niedrige" Geländer und die daraus für einen Alkoholisierten erhöhte Gefahrenlage hingewiesen habe. Ferner habe das LSG insofern gegen §§ 548, 550 RVO verstoßen, als es die darin enthaltenen Kausalitätsgrundsätze nicht beachtet habe. Insbesondere habe das LSG nicht beachtet, daß der Mitursächlichkeit betrieblicher Einrichtungen entscheidende Bedeutung zukomme, wenn ein alkoholtypisches Fehlverhalten nicht vorgelegen habe.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. April 1989 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 13. März 1984 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt, die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. April 1989 zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet.
Im Gegensatz zur Auffassung des LSG hat S. am 2. Oktober 1981 einen zum Tode führenden Arbeitsunfall erlitten, so daß das Urteil des SG zu bestätigen ist. Bezüglich der Ansprüche auf Sterbegeld und Überbrückungshilfe hat das LSG die Berufung zu Recht unter Hinweis auf § 144 Abs 1 Nrn 1 und 2 SGG als unzulässig verworfen. Hinsichtlich des Anspruchs auf Witwenrente (§§ 589 Abs 1 Nr 3, 590 ff RVO) hätte es die Berufung dagegen als unbegründet zurückweisen müssen.
Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Im vorliegenden Fall hat der Versicherte den tödlichen Unfall bei einer nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO versicherten Tätigkeit erlitten. Hierzu zählt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch die Teilnahme an einer betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 482k ff mit zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung des BSG). Bei der Beförderungsfeier am 2. Oktober 1981 handelte es sich um eine solche Gemeinschaftsveranstaltung, was unter den Beteiligten nicht streitig ist und die Vorinstanzen mit zutreffender Begründung bejaht haben. Zutreffend hat das LSG auch erkannt, daß der Versicherte nicht nur bei seiner Teilnahme an der Beförderungsfeier, sondern auch nach deren Beendigung auf dem begonnenen Weg vom Sitzungssaal im 5. Stockwerk zu seinem Dienstzimmer im 4. Stockwerk unter Versicherungsschutz gestanden hat.
Zu Unrecht hat es dagegen ausgesprochen, der Versicherungsschutz sei im Unfallzeitpunkt ausgeschlossen gewesen, weil der Unfall rechtlich allein wesentlich durch den vorangegangenen Alkoholgenuß verursacht worden sei. Dieses Ergebnis wird von den tatsächlichen Feststellungen des LSG und der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Theorie der wesentlichen (Mit-)Bedingung nicht getragen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG fehlt es an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis (haftungsbegründende Kausalität), wenn der Versicherte derart betrunken ist, daß er zu keiner dem Unternehmen förderlichen Arbeit mehr fähig ist (vgl BSGE 45, 176, 178; 48, 224, 226 mwN). Dies hat das LSG im Hinblick auf die Zeugenaussagen ausdrücklich verneint, weil S. sich nicht wie ein Volltrunkener benommen habe. In Übereinstimmung mit der zitierten Rechtsprechung ist es weiterhin davon ausgegangen, daß es für Fußgänger außerhalb des Straßenverkehrs keinen allgemeinen Grenzwert der BAK gibt, der auf einen den Versicherungsschutz ausschließenden Alkoholisierungsgrad schließen läßt, sondern neben der BAK vielmehr weitere beweiskräftige Umstände erforderlich sind, um einen alkoholbedingten Leistungsabfall als die rechtlich allein wesentliche Bedingung des Unfalls zu werten. Zu prüfen ist auch hier die Unfallsituation und vor allem das Verhalten des Versicherten unmittelbar vor und während des Unfallereignisses. Ein etwaiges Fehlverhalten ist grundsätzlich nur dann als beweiskräftig für einen alkoholbedingten Leistungsabfall als die allein wesentliche Bedingung des Unfalls zu erachten, wenn es typisch für einen unter Alkoholeinfluß stehenden Versicherten ist und nicht ebensogut andere Ursachen haben kann, wie etwa Unaufmerksamkeit, Leichtsinn, Übermüdung, körperliche Verfassung uä, die ihren Grund nicht in einem vorausgegangenen Alkoholgenuß haben können (BSGE 45, 176, 179).
Ein alkoholtypisches Fehlverhalten hat das LSG aber nicht festgestellt. Nach den weder mit zulässigen noch mit begründeten Verfahrensrügen angegriffenen und daher für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) waren bei dem Versicherten vielmehr bei einer guten Alkoholverträglichkeit und dem mutmaßlichen Trinkrhythmus ("Herantrinken") keine gröberen Ausfallerscheinungen wie eine lallende Sprache und/ oder ein schwankender Gang erkennbar. Auch hat das LSG aus den Zeugenaussagen keine Anhaltspunkte für ein alkoholtypisches Fehlverhalten unmittelbar vor dem Unfallgeschehen gewinnen können. Die Erkenntnis, daß der Alkoholgenuß gleichwohl die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen sei, hat das LSG mit Erwägungen begründet, die seinem - zutreffenden - rechtlichen Ausgangspunkt widersprechen. Dies hat die Revision zu Recht gerügt.
Zur Begründung seiner Auffassung hat das LSG auf die bei einer BAK von 2 o/oo "regelhaft" vorliegenden Persönlichkeitsveränderungen abgestellt. Gesteigerte Risiko- und Wagnisbereitschaft, vermehrter Antriebsreichtum und eine unkritische Selbsteinschätzung könnten "unter Umständen" in Situationen hineinführen, denen der Betreffende dann nicht mehr oder nicht ausreichend gewachsen sei. Als solche Umstände hat das LSG im vorliegenden Fall mit Prof. Dr. G. die kurze Wegstrecke zwischen Pendeltür und Treppengeländer im 5. Stockwerk, das Hinaustreten aus der Helligkeit des Sitzungssaales in die Dunkelheit des Treppenhauses und den deutlich über der Geländeroberkante gelegenen Körperschwerpunkt des Versicherten angesehen. Diese Umstände hätten sich wegen des vorangegangenen Alkoholgenusses verhängnisvoll auswirken können. Damit hat das LSG den alkoholbedingten Leistungsabfall aber ausschließlich aus der BAK von 2 o/oo abgeleitet, was - wie oben dargelegt - nach der Rechtsprechung des BSG unzulässig ist.
Ebensowenig kann aus allgemeinen Erfahrungssätzen auf einen alkoholbedingten Leistungsabfall als allein wesentliche Unfallursache geschlossen werden (vgl BSGE 45, 176, 180). Das geht vor allem dann fehl, wenn das Unfallgeschehen - wie hier - aus den übrigen betriebsbedingten Umständen erklärt wird. Das gilt insbesondere für die zu niedrige Geländeroberkante, die in Anbetracht des deutlich höher gelegenen Körperschwerpunkts des Versicherten auch nach der Auffassung des LSG für den Absturz mitverantwortlich war. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist der Versicherte aus dem 5. Stockwerk des Treppenhauses abgestürzt, und zwar aus einer Höhe, bei der nach den Vorschriften der Hessischen Bauordnung eine Geländerhöhe von mindestens 1,10 m erforderlich ist, während die tatsächliche Geländerhöhe nur bei 95 bis 96 cm gelegen hat. Der Mitursächlichkeit dieses Gefahrenmoments kann nicht entgegengehalten werden, die Geländerhöhe habe früheren Bauvorschriften entsprochen und sei von der Bauaufsicht zwischenzeitlich nicht beanstandet worden. Denn für die Frage, ob eine Ursache nach der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm als wesentliche Mitursache anzusehen ist, kommt es nicht darauf an, ob die mitwirkende Ursache eine Gefahr im baupolizeilichen Sinne dargestellt hat. Entscheidend ist allein, ob die betriebsbedingten Ursachen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben (vgl ua BSGE 63, 277, 280). Dies ist wertend zu beantworten und im vorliegenden Fall zu bejahen, weil der Alkoholgenuß keine gröberen Ausfallerscheinungen zur Folge hatte. In diesem Zusammenhang konnte sich das LSG auch nicht auf das Urteil des erkennenden Senats vom 27. November 1986 (- 2 RU 67/85 -) berufen; denn in jener Entscheidung hat der Senat betriebsbezogenen Umständen deshalb keine wesentliche Mitursächlichkeit beigemessen, weil ein alkoholbedingtes Fehlverhalten des Versicherten als rechtlich allein wesentliche Bedingung für den Eintritt des Unfalls festgestellt war. Im vorliegenden Fall kam der versicherten Tätigkeit dagegen die Bedeutung einer wesentlichen Mitursache zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 517617 |
NZA 1992, 93 |