Verfahrensgang
SG Gelsenkirchen (Urteil vom 02.10.1990) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 2. Oktober 1990 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten auch des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist die Gewährung von Bundeserziehungsgeld (BErzG) vom 6. Juli bis zum 23. Oktober 1989.
Der Kläger, türkischer Staatsbürger, reiste im Juni 1989 zu seiner hier in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ehefrau ein. Seinen Antrag vom 31. August 1989, für seinen am 6. Juli 1989 geborenen Sohn Mehmet Erziehungsgeld zu gewähren, lehnte das Versorgungsamt Gelsenkirchen (VA) mit Bescheid vom 31. Oktober 1989 mit der Begründung ab, er erfülle nicht die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Nr 1 des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG), weil er nach Mitteilung der Ausländerbehörde nur im Besitz einer bis zum 28. November 1989 befristeten ausländerbehördlichen Erfassung sei.
Am 6. November 1989 übersandte der Kläger Fotokopie einer von der Ausländerbehörde am 24. Oktober 1989 erteilten und bis zum 23. Oktober 1990 befristeten Aufenthaltserlaubnis mit dem Vermerk: „Selbständige Erwerbstätigkeit oder vergleichbare unselbständige Erwerbstätigkeit nicht gestattet.” Daraufhin bewilligte das VA durch Bescheid vom 20. Dezember 1989 „in Verbindung mit” § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) Erziehungsgeld mit Wirkung vom 24. Oktober 1989. Den Widerspruch (mit dem der Kläger auch vorsorglich hinsichtlich der Widerspruchsfrist gegen den Bescheid vom 31. Oktober 1989 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt hatte) wies das Landesversorgungsamt Nordrhein-Westfalen zurück: Der Kläger müsse als Ausländer nach § 1 Abs 1 Satz 2 BErzGG im Besitz einer nicht nur für einen bestimmten, seiner Natur nach vorübergehenden Zweck erteilten Aufenthaltserlaubnis sein; die Erlaubnis für die Zeit vor dem 24. Oktober 1989 sei aber ausdrücklich auf Besuchszwecke beschränkt gewesen (Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 1990).
Das Sozialgericht Gelsenkirchen (SG) hat die Klage mit dem Antrag, den Beklagten (Land Nordrhein-Westfalen) zur Bewilligung des Erziehungsgeldes auch für die Zeit vom 6. Juli bis zum 23. Oktober 1989 zu verurteilen, abgewiesen (Urteil vom 2. Oktober 1990). Es ist der Auffassung, die förmliche Erteilung einer ausländerrechtlichen Aufenthaltserlaubnis oder -berechtigung sei Anspruchsvoraussetzung und habe während der streitigen Zeit nicht vorgelegen.
Das SG hat die Revision im Tenor seines Urteils zugelassen; der Beklagte hat zu Protokoll des SG der Einlegung der Sprungrevision durch den Kläger zugestimmt.
Der Kläger hat unter Beifügung einer beglaubigten Abschrift der sozialgerichtlichen Sitzungsniederschrift Revision eingelegt. Er ist der Ansicht, es komme nicht auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis an, sondern auf die (erfolgreiche) Antragstellung. Das ergebe sich aus § 1 Abs 1 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) in der seit dem 8. Juli 1989 geltenden Fassung, aber auch aus § 21 Abs 3 des Ausländergesetzes, wonach die spätere Aufenthaltserlaubnis auf den Zeitpunkt der Antragstellung zurückwirke. Im übrigen könne der Umfang des Anspruchs auf Erziehungsgeld nicht von der Zeit abhängig gemacht werden, bis die Ausländerbehörde einen Bescheid erteile.
Der Kläger hat keinen Revisionsantrag gestellt.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er weist auf das Fehlen eines Revisionsantrages hin und hält das Urteil des SG für zutreffend, zumal dem Kläger während der streitigen Zeit keine Erwerbstätigkeit gestattet gewesen sei (Hinweis auf Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 27. September 1990 – 4 REg 27/89).
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die (Sprung-)Revision des Klägers ist zulässig.
Die Voraussetzungen der Sprungrevision liegen vor. Die Beklagte hat schriftlich der Einlegung der Revision gegen das SG-Urteil zugestimmt (§ 161 Abs 1 Satz 1 SGG), wozu die Zustimmung zur Niederschrift des Gerichts in der mündlichen Verhandlung ausreicht (BSGE 12, 230 = SozR Nr 14 zu § 161 SGG), und von dieser Protokollerklärung ist auch, was ebenfalls genügt, eine beglaubigte Abschrift der Revisionsschrift beigefügt worden (§ 161 Abs 1 Satz 2 SGG, BSG aa0).
Unschädlich für die Zulässigkeit der Revision ist auch, daß nach § 164 Abs 2 Satz 3 erster Halbsatz SGG die Begründung (der Revision) „einen bestimmten Antrag enthalten” muß, hier indessen überhaupt kein förmlicher Revisionsantrag gestellt worden ist. Denn die Rechtsprechung hat die Grenzen des „bestimmten Antrags” weit gezogen und dieses Erfordernis schon in der Rüge eines Klägers als erfüllt gesehen, die Vorinstanz habe ihn mit seinem Anspruch zu Unrecht abgewiesen, wenn dadurch – gegebenenfalls in Verbindung mit der weiteren Revisionsbegründung oder dem in der Vorinstanz gestellten Antrag – das Ziel der Revision eindeutig bestimmbar wird (SozR 1500 § 164 Nr 8; vgl auch aaO Nr 10: Es genügt, wenn die Revisionsbegründung erkennen läßt, welches prozessuale Ziel der Revisionskläger erreichen will). So liegt der Fall hier. Der Kläger hat bereits eingangs seiner Revisionsbegründung ausgeführt, das SG habe „zu Unrecht die Versagung von Erziehungsgeld … für den Zeitraum vom 29.8.89 bis 23.10.89 für rechtmäßig erachtet”, und damit zugleich sinngemäß auf seinen vor dem SG gestellten prozessualen Antrag zurückgegriffen.
Die Revision ist jedoch unbegründet.
In verwaltungsverfahrensrechtlicher Hinsicht ist das SG zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger mit der am 6. November 1989 eingereichten Aufenthaltserlaubnis eine Überprüfung des Bescheides vom 31. Oktober 1989 angestrebt hat. Es hätte nahegelegen, hierin bereits einen Widerspruch zu sehen, sich zumindest aber aufgedrängt, durch Rückfrage zu klären, ob der Rechtsbehelf des Widerspruchs gemeint ist. Jedenfalls im Ergebnis zutreffend hat aber das SG entschieden, daß – auch bei Einbeziehung des Bescheides vom 31. Oktober 1989 in das Widerspruchsverfahren – die Beklagte zu Recht für die Zeit bis zum 23. Oktober 1989 kein Erziehungsgeld bewilligt hat.
Gemäß § 1 Abs 1 BErzGG idF vom 6. Dezember 1985 (BGBl I S 2154) hat Anspruch auf Erziehungsgeld, wer ua einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat (Nr 1 aaO). Durch das Gesetz zur Änderung des BErzGG und anderer Vorschriften vom 30. Juni 1989 (BGBl I S 1297) ist an § 1 Abs 1 BErzGG mit Wirkung vom 1. Juli 1989 (Art 8 Abs 1 des vorgenannten Änderungsgesetzes) folgender Satz 2 angefügt worden: „Für den Anspruch eines Ausländers ist Voraussetzung, daß er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis ist, die nicht nur für einen bestimmten, seiner Natur nach vorübergehenden Zweck erteilt worden ist”. Art 10 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts (AuslRNG) vom 9. Juli 1990 (BGBl I S 1354) ändert diese Neufassung des Satzes 2 zur Anpassung an die Neuregelung der Aufenthaltsgenehmigung (§§ 28 bis 35 AuslRNG) für die Zeit ab 1. Januar 1991 (Art 15 Abs 2 AuslRNG) wie folgt: „Für den Anspruch eines Ausländers ist Voraussetzung, daß er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung, Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis ist”.
Die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 und Satz 2 BErzGG sind nicht erfüllt, weil der Kläger während der streitigen Zeit weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes hatte. Wie der Senat bereits durch das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil vom 20. Dezember 1990 – 4 REg 10/90 – entschieden hat, begründet ein Ausländer, der zu seinem im Inland aufenthaltsberechtigten Ehegatten nachzieht, hier einen erziehungsgeldberechtigenden Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt frühestens, wenn ihm eine Aufenthaltserlaubnis, -berechtigung oder – bei Geburten ab 1. Januar 1991 – eine Aufenthaltsbefugnis erteilt worden ist. Dort ist unter Hinweis auf das Urteil des Senats vom 27. September 1990 (4 REg 30/89, zur Veröffentlichung vorgesehen) im einzelnen ausgeführt, daß Abs 1 Nr 1 aaO – abgesehen von der hier einschlägigen Spezialregelung in § 1 Abs 2 BErzGG – alle Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit von der Begünstigung durch BErzG ausschließt, die entweder den Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse tatsächlich (faktisch) im Ausland haben oder aber deren uU ausschließliches und zeitlich andauerndes Wohnen bzw Verweilen im Inland von der materiellen Rechtsordnung nur als vorübergehend, auf Beendigung angelegt und somit rechtlich nur als nicht beständig gebilligt wird. Denn BErzG sollen nur diejenigen erhalten, die bei der Erziehung eines Kindes den Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse materiell-rechtlich berechtigt dauerhaft im Inland haben. Dies folgt daraus, daß Abs 1 Satz 1 Nr 1 aaO – anders als die Nrn 2 bis 4 aaO -kein unmittelbar das Sachprogramm des BErzGG (Förderung der Hinwendung zum Kind) ausgestaltendes anspruchsbegründendes Tatbestandsmerkmal enthält. Es handelt sich vielmehr um eine sogenannte einseitige Kollisionsnorm, die im Falle einer „Auslandsberührung” den persönlichen Anwendungsbereich des Gesetzes einschränkt. Sie ist eine leistungsrechtliche Spezialregelung (§ 37 Satz 1 Halbsatz 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch -SGB I) zu § 30 Abs 1 SGB I, nach dem „die” Vorschriften (dh: alle, auch die nicht leistungsrechtlicher Art) dieses Gesetzbuches für alle Personen gelten, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Geltungsbereich haben. Ihr alleiniger Zweck ist, die Anwendung des BErzGG auf solche Personen hintanzuhalten, deren Verweilen im Inland wegen einer konkreten Auslandsbeziehung nur vorübergehender Natur ist. Auf den – subsidiär – für alle Leistungsbereiche des SGB geltenden § 30 Abs 3 SGB I, der die Begriffskerne von „Wohnsitz” und „gewöhnlicher Aufenthalt” iS des SGB nicht abschließend bestimmt, sondern nur eine den Begriffshof öffnende Typusbeschreibung enthält, ist nur nach Maßgabe des spezifisch kollisionsrechtlichen Zwecks von § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BErzGG zurückzugreifen. Das bedeutet: Besteht die kollisionsrechtlich relevante Auslandsberührung allein darin, daß der Betroffene – wie hier der Kläger -eine ausländische Staatsbürgerschaft hat, deswegen grundsätzlich unter Schutz und Fürsorge (Personalhoheit) seines Heimatstaates steht und jederzeit nach freiem Willen dorthin zurückkehren kann, kommt es dafür, ob der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse „nicht nur vorübergehend” (§ 30 Abs 3 Satz 1 und 2 SGB I) in das Inland verlegt worden ist, entscheidend darauf an, ob der Verbleib im Inland nach materiellem Aufenthaltsrecht als beständig gebilligt ist (Vorbehalt des berechtigten Aufenthalts; dazu: BSGE 65, 261, 263 f = SozR 7833 § 1 Nr 7). Der Ausländer, der zur Ausreise verpflichtet oder dem der Inlandsverbleib nur zu einem seiner Natur nach vorübergehenden Zweck erlaubt ist, hat weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BErzGG. Aus dem Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (13. Ausschuß) zur Beschlußempfehlung zum Entwurf des Gesetzes zur Änderung des BErzGG (BT-Drucks 11/4767 S 2) ergibt sich, daß § 1 Abs 1 Satz 2 BErzGG in der ab Juli 1989 – also hier – geltenden Fassung „jetzt ausdrücklich” einer Rechtsanwendung entgegentreten soll, nach der BErzG sogar dann gezahlt wurde, wenn trotz materiell-rechtlicher Ausreisepflicht des Ausländers nach der ausländerbehördlichen Praxis von aufenthaltsbeendenden (Vollzugs-) Maßnahmen bis auf weiteres abgesehen wurde oder wenn eine Aufenthaltserlaubnis nur für einen vorübergehenden Zweck erteilt worden war. Weil dies mit dem spezifisch kollisionsrechtlichen Inhalt von Abs 1 Satz 1 Nr 1 aaO im wesentlichen übereinstimmt, kann hier dahingestellt bleiben, ob die Neufassung des Wortlauts von Abs 1 aaO eine Klarstellung oder sogar eine authentische Interpretation enthält. Jedenfalls trägt Abs 1 Satz 2 aaO in der seit Juli 1989 geltenden Fassung nur der neuen materiell-rechtlichen Regelung des Aufenthaltsgenehmigungsrechts Rechnung.
Aus Art 6 des Grundgesetzes (GG), nach dem Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen, ergibt sich im Blick auf den Vortrag des Klägers, die Einreise sei zwecks Familienzusammenführung erfolgt, nichts anderes. Zwar schützt diese Vorschrift auch Ehe und Familie eines Ausländers. Jedoch ist der Bedeutung von Art 6 Abs 1 GG dadurch Rechnung getragen, daß der verfassungsrechtliche Schutz der Familie schon bei der ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung zu berücksichtigen ist (stellvertretend dazu: Bundesverwaltungsgericht -BVerwG- DÖV 1990, 570 mwN). Das BErzGG schließt sich – wie aufgezeigt -an die ausländerrechtliche Bewertung des Inlandsverbleibs des Familienangehörigen an.
Der Aufenthalt des Klägers im Inland während des hier maßgeblichen Zeitraums war rechtlich nicht als beständig gebilligt. Zwar galt er gemäß § 21 Abs 3 Satz 1 des Ausländergesetzes (AuslG) „bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde vorläufig als erlaubt”. Dieser kraft gesetzlicher Fiktion „vorläufig” gebilligte Aufenthalt war jedoch nur zu dem vorübergehenden Zweck der Prüfung der Voraussetzungen einer Entscheidung über die Erteilung oder Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis und damit lediglich zu einem vorübergehenden Zweck gestattet (so schon Urteil des erkennenden Senats vom 28. November 1990 – 4 REg 9/90). Ein auf Dauer gebilligter Aufenthalt konnte daher frühestens im Zeitpunkt der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis, also ab dem 24. Oktober 1989, beginnen.
Da sich der Kläger in der Zeit, für die er noch BErzG begehrt, nur „vorübergehend” im Geltungsbereich des BErzGG aufgehalten bzw gewohnt und deswegen die Voraussetzungen von § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 und Abs 1 Satz 2 BErzGG nicht erfüllt hat, war die Entscheidung der Vorinstanz zu bestätigen.
Keiner Erörterung bedarf, daß dem Kläger selbst ab dem 24. Oktober 1989 eine Erwerbstätigkeit nicht gestattet war (vgl Urteil des Senats vom 27. September 1990 – 4 REg 27/90).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen