Beteiligte
Kläger und Revisionsbeklagter |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I.
Streitig ist die Familienversicherung der Ehefrau des Klägers.
Der Kläger und seine Ehefrau (die Beigeladene) kamen im November 1992 aus Bosnien-Herzegowina als Bürgerkriegsflüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland. Der Aufenthalt war zunächst nach § 55 des Ausländergesetzes vom 9. Juli 1990 (BGBl. I S. 1354 AuslG ) geduldet. Eine Aufenthaltsbefugnis (§ 30 AuslG) wurde im Oktober 1995 befristet bis zum 22. Oktober 1996 erteilt. Der Kläger ist im Besitz einer Arbeitserlaubnis, seit dem 21. Juni 1993 erwerbstätig, in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig und Mitglied der Beklagten. Den Antrag des Klägers, für die Beigeladene die Familienversicherung nach § 10 des Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) durchzuführen, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 21. Juli 1993). Den Widerspruch wies sie zurück (Widerspruchsbescheid vom 27. September 1994). Die Beigeladene habe weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland.
Der Kläger hat Klage erhoben. Während des Klageverfahrens hat die Beklagte die Familienversicherung der Beigeladenen für die Zeit ab 15. November 1994 anerkannt und der Kläger dieses Anerkenntnis angenommen. Wegen der Familienversicherung für die Zeit vom 21. Juni 1993 bis 14. November 1994 hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben und unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide festgestellt, daß die Beigeladene bereits seit dem 21. Juni 1993 bei der Beklagten nach § 10 SGB V versichert war (Urteil vom 19. April 1995).
Die Berufung gegen dieses Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Beschluß vom 30. Mai 1996). Die Beigeladene habe ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt bereits am 21. Juni 1993 in Deutschland gehabt. Ihr Aufenthalt sei von Anfang an wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen, die eine Abschiebung nicht zugelassen hätten, auf unbestimmte längere Zeit ausgerichtet gewesen. Das SG habe seine Entscheidung zutreffend begründet.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten. Sie rügt eine Verletzung des § 136 Abs. 1 Nr. 6 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und des § 10 SGB V.
Die Beklagte beantragt, den Beschluß des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. Mai 1996 und das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 19. April 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält den Beschluß für zutreffend.
Die Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat die Berufung der Beklagten gegen das der Klage stattgebende Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen. Der Kläger als Stammversicherter konnte die Familienversicherung der Beigeladenen feststellen lassen und das Feststellungsverfahren für die Vergangenheit weiterbetreiben (vgl. BSGE 72, 292 = SozR 3-2500 § 10 Nr. 2).
Die Beigeladene ist nicht erst, wie von der Beklagten anerkannt, seit dem 15. November 1994 versichert, sondern bereits seit dem Beginn der Mitgliedschaft des Klägers am 21. Juni 1993. Nach § 10 Abs. 1 SGB V (seit 1. Januar 1995: § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB V i.d.F. des Art 14 Nr. 1 des Gesetzes zur Reform der agrarsozialen Sicherung ASRG vom 29. Juli 1994 BGBl. I S. 1890 ) ist der Ehegatte eines Mitglieds versichert, wenn er seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (§ 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB V) und keiner der in § 10 Abs. 1 Nrn. 2 bis 5 SGB V aufgeführten Ausschlußtatbestände vorliegt. Letzteres war bei der Beigeladenen nicht der Fall. Dies hat das LSG in seinem Beschluß durch die nach § 153 Abs. 4 SGG zulässige Bezugnahme auf das Urteil des SG festgestellt.
Die Beklagte kann nicht mit Erfolg geltend machen, die Beigeladene sei vom 21. Juni 1993 bis zum 14. November 1994 nicht familienversichert gewesen, weil sie bei Beginn der Mitgliedschaft des Klägers weder den Wohnsitz noch den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt habe. Selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, folgt die Familienversicherung der Beigeladenen während ihres Aufenthalts im Inland aus den Vorschriften des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über soziale Sicherheit (AbkJugSozSich) vom 12. Oktober 1968 (BGBl. II 1969 S. 1438). Dieses Abkommen ist wie alle zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien geschlossenen Verträge im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bosnien und Herzegowina weiter anzuwenden (Bekanntmachung über die Fortgeltung der deutsch-jugoslawischen Verträge im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bosnien und Herzegowina vom 16. November 1992 BGBl. II 1992 S. 1196 ).
Das AbkJugSozSich (im folgenden: Abk) bezieht sich nach seinem Art 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst a sachlich auf die deutschen Rechtsvorschriften über die Krankenversicherung. Nach Art 3 Abs. 1 Buchst a Abk stehen auch persönlich bei Anwendung der Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland deren Staatsangehörigen die Staatsangehörigen des anderen Vertragsstaates (Jugoslawiens, hier nunmehr Bosnien-Herzegowinas) gleich, wenn sie sich im Gebiet eines Vertragsstaates (Bundesrepublik Deutschland oder Bosnien-Herzegowina) gewöhnlich aufhalten. Dieses traf auf den Kläger und die Beigeladene zu. Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, in welchem der Staaten der Kläger und die Beigeladene ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Zeit hatten, um die es hier geht. Der Kläger war jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt und Mitglied der Beklagten. Nach Art 4 Abs. 1 Satz 1 Abk gelten, soweit das Abkommen nichts anderes bestimmt, die Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates (hier: der Bundesrepublik Deutschland), nach denen die Entstehung von Ansprüchen auf Leistungen vom Inlandsaufenthalt abhängig ist, nicht für die in Art 3 Abs. 1 genannten Personen, die sich im Gebiet des anderen Vertragsstaates (Jugoslawiens, nunmehr Bosnien-Herzegowinas) aufhalten. Bis Ende 1988 gehörte § 205 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu den deutschen Vorschriften, die in der Krankenversicherung Ansprüche des Stammversicherten auf Familienhilfe für Angehörige vom gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich der RVO abhängig machten. Diese Leistungseinschränkung galt nach Art 4 Abs. 1 Satz 1 Abk bei einem Aufenthalt des Angehörigen im anderen Vertragsstaat grundsätzlich nicht. Nichts anderes gilt für die Zeit seit dem Inkrafttreten des SGB V am 1. Januar 1989 für das Bestehen einer Familienversicherung nach § 10 SGB V. Der deutsche Gesetzgeber hat zu diesem Zeitpunkt die nach § 205 RVO bestehenden Ansprüche des Stammversicherten auf Leistungen für seine mitversicherten Angehörigen durch die Begründung einer eigenen (Familien-) Versicherung der Angehörigen (§ 10 SGB V) mit eigenen Leistungsansprüchen der Angehörigen ersetzt. Soweit nunmehr das Bestehen einer Familienversicherung als solcher nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB V ursprünglicher Fassung (nunmehr § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V) vom Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt des Angehörigen im Inland abhängt, ist Art 4 Abs. 1 Satz 1 Abk dahin aufzufassen, daß auch ein gewöhnlicher Aufenthalt im anderen Vertragsstaat der Familienversicherung nicht entgegensteht.
Der Senat vermag auf dieser Grundlage der Ansicht der Beklagten nicht zu folgen, die Vorschriften des Abkommens griffen hier nicht ein, weil die Beigeladene sich bei Beginn der Mitgliedschaft des Klägers tatsächlich nicht mehr in Bosnien-Herzegowina aufgehalten, andererseits aber zu diesem Zeitpunkt auch noch keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt habe. Die Beigeladene des vorliegenden Verfahrens kann jedenfalls nicht schlechter stehen als die Ehefrau eines in Deutschland Stammversicherten, die ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt im anderen Vertragsstaat hat und sich nur besuchsweise im Inland aufhält. Diese Ehefrau ist nach Art 4 Abs. 1 Abs. 1 Abk familienversichert. Nichts anderes kann für die Beigeladene des vorliegenden Verfahrens gelten.
Wegen Art 14 Abs. 1 Abk ist für die Beigeladene die Familienversicherung als solche nicht ausgeschlossen. In dieser Vorschrift wird die in Art 4 Abs. 1 Satz 1 bestimmte Unschädlichkeit des Aufenthalts im anderen Vertragsstaat teilweise zurückgenommen. Dieses bezieht sich jedoch, wie das Abstellen auf den Eintritt des Versicherungsfalls ergibt, nur auf einzelne Leistungsansprüche und nicht auf das Bestehen einer Versicherung als solcher, die in dieser Vorschrift als bestehend vorausgesetzt wird. Die Leistungseinschränkungen, zu denen Art 14 Abs. 1 Abk führt, betreffen alle Versicherten, also Pflichtversicherte nach § 5 SGB V, freiwillig Versicherte nach § 9 SGB V und Familienversicherte nach § 10 SGB V. Im vorliegenden Verfahren sind einzelne Leistungsansprüche nicht Streitgegenstand. Vielmehr ist es das Bestehen der Familienversicherung als solcher. Dieses kann nicht davon abhängig sein, wann und wo der Versicherungsfall eintritt. Hiervon abgesehen kann aus tatsächlichen Gründen im vorliegenden Verfahren allenfalls Buchst b des Art 14 Abs. 1 Abk Bedeutung gewinnen. Nach dieser Vorschrift gilt die Gebietsgleichstellung des Art 4 Abs. 1 Satz 1 Abk, wenn der Versicherungsfall während des vorübergehenden Aufenthalts im Gebiet des anderen Vertragsstaates eingetreten ist, nur, wenn wegen des Zustandes sofort Leistungen benötigt werden. Soweit damit der Fall geregelt ist, daß Leistungen aus der Familienversicherung bei vorübergehendem Aufenthalt im anderen Vertragsstaat nur unter der genannten Voraussetzung zu gewähren sind, scheidet die Anwendung der Vorschrift aus, wenn sich die Beigeladene ständig im Inland aufgehalten hat. Aber auch wenn sich die Regelung im Hinblick auf die unterschiedliche Zuständigkeit zur Leistungsgewährung im Inland und im Ausland (Art 15 Abk) auch auf die Fälle beziehen sollte, in denen Versicherte mit gewöhnlichem Aufenthalt im anderen Vertragsstaat bei einem Aufenthalt im Inland erkranken, könnte sie nur gelten, wenn der Versicherte bei vorübergehendem Aufenthalt im Inland zumutbar in den anderen Vertragsstaat zurückkehren und dort alle Leistungen in Anspruch nehmen könnte. Dieses war bei der Beigeladenen als Bürgerkriegsflüchtling nicht der Fall.
Im übrigen gilt selbst die Gleichstellungsregelung des Art 4 Abs. 1 Abk mit ihren Ausnahmen in Art 14 Abs. 1 Abk nach Art 14 Abs. 3 Abk nicht für eine Person, solange für sie Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Vertragsstaates (Bundesrepublik Deutschland) beansprucht werden können, in dessen Gebiet sie sich aufhält. Dieses trifft hier für die Beigeladene nach den deutschen Rechtsvorschriften zu. Die Beigeladene war auch ohne Anwendung des Abkommens nach innerstaatlichem Recht familienversichert. Sie hatte, seit der Kläger Mitglied der Beklagten war, ihren gewöhnlichen Aufenthalt i.S. des § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB V im Inland. § 30 Abs. 3 Satz 2 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil (SGB I) bestimmt, daß jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort hat, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die Annahme des gewöhnlichen Aufenthaltes im Inland lagen vor. Die Beigeladene hielt sich seit November 1992 als Bürgerkriegsflüchtling in Deutschland auf. Nach den Feststellungen des LSG waren im Zeitpunkt der Aufnahme der versicherungspflichtigen Beschäftigung durch den Kläger Anhaltspunkte für ein kurzes Verweilen der Beigeladenen im Inland nicht erkennbar und ein Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen in Bosnien zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar. Der gewöhnliche Aufenthalt der Beigeladenen war nicht ausgeschlossen, weil deren Aufenthalt ausländerrechtlich nur geduldet war. Der Senat hat in Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung zu § 205 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 RVO entschieden, daß Asylbewerber ihren gewöhnlichen Aufenthalt i.S. des § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB V im Inland haben können, auch wenn ihr Aufenthalt nur zur Durchführung des Asylverfahrens gestattet ist (Urteil vom 30. April 1997 - 12 RK 30/96, zur Veröffentlichung vorgesehen). Ein ausländerrechtlich beständiger (zukunftsoffener) Aufenthaltsstatus ist für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthaltes i.S. des § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB V nicht erforderlich. Es genügt, daß der Familienversicherte einen ausländerrechtlich ebenso beständigen Aufenthaltsstatus hat wie das Mitglied. Die in dieser Entscheidung aufgestellten Grundsätze zum gewöhnlichen Aufenthalt i.S. des § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB V von Asylbewerbern gelten in gleicher Weise bei Bürgerkriegsflüchtlingen. Auch bei diesen ist es ausreichend, wenn der Angehörige einen ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus hat, der dem des Stammversicherten entspricht. Diese Voraussetzung war hier gegeben. Sowohl die Beigeladene als auch der Kläger waren im Besitz einer Duldung nach § 55 AuslG.
Die Rüge der Beklagten, das Urteil des LSG enthalte keine hinreichenden Entscheidungsgründe, denn es lasse nicht erkennen, ob von dem LSG das Tatbestandsmerkmal Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt bejaht werde, greift nicht durch. Insoweit sieht der Senat nach § 170 Abs. 3 SGG von einer Begründung ab.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 517608 |
SozSi 1998, 119 |