Entscheidungsstichwort (Thema)
Kürzung von Hinterbliebenenrenten. Hinzutritt eines neuen Berechtigten
Orientierungssatz
Hatte der Unfallversicherungsträger bereits bei der erstmaligen Feststellung der Hinterbliebenenrente Kenntnis von der Existenz eines Kindes und seiner Aufnahme in die Familie des Versicherten, dann kann seine erst danach getroffene Entscheidung, daß ein Pflegekindschaftsverhältnis iS des § 595 Abs 1 RVO vorgelegen hat, nicht als Hinzutreten eines Berechtigten iS von § 598 Abs 2 S 1 RVO gewertet werden.
Normenkette
RVO § 598 Abs 2 S 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Kürzung von Hinterbliebenenrenten wegen einer nachträglich zuerkannten Waisenrente.
Der am 24. Juli 1981 durch einen Arbeitsunfall tödlich verunglückte H. A. war bei der beklagten Berufsgenossenschaft versichert. Er hinterließ die Witwe L. A. - Klägerin zu 1) - und die Waisen M. A. - Klägerin zu 2) - und S. A. - Klägerin zu 3) -. Weiter lebte in der Familie des Versicherten zum Zeitpunkt des Versicherungsfalles die am 6. April 1965 geborene E. K.-Beigeladene zu 1) -. Sie war durch den Beigeladenen zu 2) als Pflegekind in die Familie des Versicherten vermittelt worden.
Die Beklagte erhielt zunächst am 11. August 1981 mit Eingang des von der Klägerin zu 1) ausgefüllten Fragebogens Kenntnis von der Existenz der als "Pflegekind" bezeichneten Beigeladenen zu 1). Am 12. Oktober 1981 teilte die Beigeladene zu 2) der Beklagten mit, daß E. K.vom 21. Mai 1980 bis 19. September 1981 in der Familie H. A. in Familienpflege gewesen wäre.
Durch Bescheide vom 5. November 1981 gewährte die Beklagte den Klägerinnen Hinterbliebenenrenten nach § 598 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) von zusammen 4/5 des Jahresarbeitsverdienstes. Diese stellte die Beklagte sodann durch Bescheid vom 24. Februar 1982 mit der Begründung neu fest; die Beigeladene zu 1) sei als waisenrentenberechtigtes Pflegekind hinzugetreten und die Hinterbliebenenrenten seien deshalb unter Berücksichtigung des durch § 598 Abs 1 Satz 1 RVO gesetzten Höchstbetrages von 4/5 des Jahresarbeitsverdienstes nach dem Verhältnis ihrer Höhen zu kürzen. Durch Bescheide vom 28. Juli 1982 und vom 16. Juni 1983 gewährte die Beklagte der Beigeladenen zu 1) Waisenrente.
Dem Kürzungsbescheid vom 24. Februar 1982 widersprachen die Klägerinnen mit der Begründung, die Beigeladene zu 1) sei für einen von vornherein begrenzten Zeitraum und also nicht als Pflegekind in die Familie aufgenommen worden. Die Beklagte wies die Widersprüche zurück (Bescheid vom 14. September 1983).
Das Sozialgericht (SG) hat sich der Auffassung der Beklagten angeschlossen. Die Beigeladene zu 1) sei Pflegekind des Versicherten und als neuer Berechtigter iS des § 598 Abs 2 Satz 1 RVO hinzugetreten, und die Klage abgewiesen (Urteil vom 18. Juni 1984). Auf die Berufung der Klägerinnen hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG geändert und die Kürzungsbescheide der Beklagten aufgehoben (Urteil vom 28. Mai 1986). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Über das streitige Kindschaftsverhältnis der Beigeladenen zu 1) brauche nicht entschieden zu werden; denn die Beklagte habe den Rentenbescheid vom 5. November 1981 schon aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht ohne weiteres zu Ungunsten der Klägerinnen ändern können. Die Neuberechnung der Hinterbliebenenbezüge erlaube § 598 Abs 2 RVO nur ausnahmsweise bei Hinzutreten eines neuen Berechtigten. Da der Beklagten der erhebliche Sachverhalt zum Zeitpunkt der erstmaligen Entscheidung über die zu gewährende Hinterbliebenenversorgung jedoch vollständig bekannt gewesen sei, sei es ihr verwehrt, aus demselben Sachverhalt nachträglich andere rechtliche Schlüsse zu ziehen.
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und rügt darin die Verletzung von § 598 Abs 2 RVO. Als Hinzutritt iS dieser Vorschrift sei nicht allein das Bekanntwerden der Existenz einer Person schlechthin, sondern ihr Bekanntwerden als anspruchsberechtigte Person zu verstehen. Zum Zeitpunkt der Erteilung des ersten Rentenbescheides habe die Anspruchsberechtigung der ihrer Person nach bekannten Beigeladenen zu 1) noch nicht festgestanden. Im Hinblick auf die Vielschichtigkeit des Pflegekindbegriffs seien noch umfangreiche tatsächliche und rechtliche Feststellungen zu treffen gewesen. Ein zeitlicher Aufschub der gemäß § 1545 Abs 2 RVO beschleunigt zu treffenden Feststellung der Hinterbliebenenrenten bis zur Entscheidung über den Anspruch der Beigeladenen zu 1) habe aber den Klägerinnen nicht zugemutet werden können.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. Mai 1986 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerinnen beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Sie halten die Entscheidung des LSG für zutreffend und weisen ua darauf hin, daß zum Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung über die Gewährung der Hinterbliebenenversorgung der bekannte Sachverhalt keine Veranlassung zu weiteren umfassenden Prüfungen hinsichtlich der Anspruchsberechtigung der Beigeladenen zu 1) geboten habe. Die Beklagte könne weder eine bloße Überlegungszeit, noch ein rechtliches Umdenken bezüglich der Anspruchsberechtigung der Beigeladenen zu 1) als Hinzutreten iS des § 598 Abs 2 RVO geltend machen. Im übrigen habe sie eine beschleunigte Vorabbescheidung durch einen entsprechenden Vorbehalt gegenüber den Klägerinnen kennzeichnen müssen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das LSG ist fehlerfrei und mit zutreffenden Gründen zu dem Ergebnis gekommen, daß die Beklagte zur Kürzung der den Klägerinnen durch Bescheid vom 5. November 1981 gewährten Renten nicht berechtigt war.
Der Bescheid vom 5. November 1981, durch den die Beklagte als Ergebnis ihrer Prüfung den Klägerinnen Hinterbliebenenrenten gewährte, ist mit seiner Zustellung für die Beklagte bindend geworden, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist (§ 77 SGG).
In den §§ 45, 47, 48 des Sozialgesetzbuches - Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) vom 8. August 1980 (BGBl I S 1469, ber. S 2218) ist allgemein geregelt, unter welchen Voraussetzungen die Verwaltung einen - wie vorliegend gegeben - bindend gewordenen begünstigenden Verwaltungsakt aufheben darf. Das SGB X gilt für alle Sozialleistungsbereiche des SGB, soweit sich aus seinen besonderen Teilen nichts Abweichendes ergibt (§ 37 SGB I). Aus § 598 Abs 2 RVO ergibt sich Abweichendes gegenüber § 48 SGB X. Nach § 598 Abs 2 Satz 1 RVO sind die Hinterbliebenenbezüge neu zu berechnen, wenn der Höchstbetrag der gemäß § 598 Abs 1 RVO berechneten Hinterbliebenenrenten ausgeschöpft ist und später ein weiterer Berechtigter hinzutritt. Der Gesetzgeber hat hierdurch die Rechtsgrundlage dafür geschaffen, daß die Bestandskraft des ursprünglichen Rentenbescheids durchbrochen und gegebenenfalls eine Kürzung der bereits festgestellten Hinterbliebenenrenten vorgenommen werden kann (Bundestagsausschuß, Bericht, BT-Drucks IV/938 -neu-, S 15).
Die Voraussetzungen des § 598 Abs 2 Satz 1 RVO sind jedoch, wie das LSG zutreffend entschieden hat, nicht erfüllt.
Die Beigeladene zu 1) ist nicht iS von § 598 Abs 2 Satz 1 RVO später als neue Berechtigte hinzugetreten. Dabei muß der erkennende Senat offen lassen, ob ein Pflegekindschaftsverhältnis der Beigeladenen zu 1) zum Versicherten bestand. Das LSG hat zwar festgestellt, daß sowohl der Beigeladene zu 2) wie auch die Klägerin zu 1) von der Existenz einer Familienpflege zum Zeitpunkt des Versicherungsfalles ausgegangen sind; gleichwohl reichte ihm der ermittelte Sachverhalt zur Entscheidung der aufgeworfenen Frage nicht aus, nachdem der Beigeladene zu 2) sich im Verfahren weder schriftsätzlich geäußert hatte, noch in der mündlichen Verhandlung durch schriftlich Bevollmächtigte vertreten war.
Selbst wenn jedoch die Beigeladene zu 1) waisenrentenberechtigt wäre, fehlt es an dem in § 598 Abs 2 RVO vorausgesetzten späteren Hinzutreten eines neuen Berechtigten. Als späteres Hinzutreten eines neuen Berechtigten gilt sowohl eine Änderung der objektiven Verhältnisse selbst - zB Geburt eines Kindes oder Feststellung der Vaterschaft nach dem Tode des Versicherten (BSGE 50, 239) - als auch eine Änderung der Kenntnis von diesen Verhältnissen - zB Bekanntwerden eines nichtehelichen Kindes (Ausschußbericht, aaO, s. Sachverhalt zu BSGE 50, 239) - nach der erstmaligen Feststellung der Hinterbliebenenversorgung. Der Gesetzgeber wollte die Höchstgrenze der Hinterbliebenen unabhängig davon stellen, zu welchem Zeitpunkt die Berechtigten dem Versicherungsträger bekannt werden (Ausschußbericht aaO).
Nach den von der Revision zulässig und begründet nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG war der dem Kürzungsbescheid vom 24. Februar 1982 zugrunde gelegte Sachverhalt jedoch bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des ursprünglichen Rentenbescheides vom 5. November 1981 nicht nur objektiv gegeben, sondern die Beklagte hatte schon bei Erlaß des Erstbescheides Kenntnis von der Existenz der Beigeladenen zu 1) sowie dem Umstand, daß diese nach den Angaben der Klägerin zu 1) und der Beigeladenen zu 2) im Zeitpunkt des Versicherungsfalles als Pflegekind Aufnahme in die Familie des Versicherten gefunden hatte. Die Beklagte hat jedoch trotz dieser Angaben der Klägerin zu 1) und einer Auskunft des Beigeladenen zu 2) vom 12. Oktober 1981 über den Bestand des Pflegekindschaftsverhältnisses, das einer weiteren förmlichen Feststellung - etwa wie in dem vom BSG entschiedenen Fall einer nichtehelichen Vaterschaft (BSGE 50, aaO) - nicht bedurfte, den Bescheid vom 5. November 1981 erteilt. Die erst danach getroffene Entscheidung der Beklagten, daß auch nach ihrer Auffassung hinsichtlich der Beigeladenen zu 1) ein Pflegekindschaftsverhältnis iS des § 595 Abs 1 RVO vorgelegen hat, kann nicht als Hinzutreten eines Berechtigten gewertet werden. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des BSG zu den ähnlichen Vorschriften über die Neufeststellung der Leistungen bei wesentlicher Änderung der für die Leistungsgewährung maßgebenden Verhältnisse (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 582 ff.). Das Bestreben der Beklagten, der Witwe und den Kindern des Verstorbenen möglichst schnell Hinterbliebenenentschädigung zu gewähren, rechtfertigt schon angesichts der Möglichkeit von Vorschüssen (s § 42 SGB I) entgegen der Auffassung der Revision keine andere Entscheidung.
Der Kürzungsbescheid vom 24. Februar 1982 kann auch nicht nach § 43 SGB X in einen Rücknahmebescheid nach § 45 SGB X umgedeutet werden. Die Beklagte hat eine solche Umdeutung in dem hier anhängigen Verfahren nicht vorgenommen. Es kann dahinstehen, ob auch Gerichte zu einer Umdeutung nach § 43 SGB X befugt sind (s zum Meinungsstreit Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 232 dI, Hauck/Haines, SGB X/1,2, Stand: 1. Februar 1987, K § 43 Rz 13 mwN); denn die Umdeutung ist hier jedenfalls durch § 43 Abs 3 SGB X ausgeschlossen. Die Vorschrift bestimmt, daß eine Entscheidung, die als gesetzlich gebundene Entscheidung ergangen ist, nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden kann. § 45 SGB X stellt jedoch die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes in das pflichtgemäße Ermessen der Behörde (BSGE 59, 157 163; BSG SozR 1300 § 45 Nr 9 und 24; BSG, Urteil vom 28. November 1984 - 4 RJ 37/84 -). Die erforderliche Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes gegenüber dem Interesse der Klägerinnen an dem Fortbestand des sie begünstigenden Verwaltungsaktes hat die Beklagte nicht vorgenommen, da § 598 Abs 2 RVO, auf den sie ihren Kürzungsbescheid gestützt hat, bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen zur Neuberechnung der Hinterbliebenenbezüge verpflichtet. Wie bereits der 7. Senat des BSG entschieden hat, schließt das Fehlen jeglicher Ermessensausübung die Umdeutung eines Verwaltungsaktes in einen Rücknahmebescheid aus (BSG Urteil vom 17. April 1986 - 7 RAr 101/84 -). Aus den gleichen Gründen scheidet eine Umdeutung des Kürzungsbescheides in einen Widerruf des Rentenbewilligungsbescheides vom 5. November 1981 nach § 47 SGB X aus. Denn der Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsaktes ist beim Vorliegen der in § 45 Abs 1 Nr 1 und 2 SGB X angeführten Gründe ebenfalls in das pflichtgemäße Ermessen der Behörde gestellt.
Die Revision der Klägerin war nach allem gemäß § 170 Abs 1 Satz 1 SGG als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen