Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausdehnung von § 1 HHG auf im Gewahrsam gestorbene Häftlinge oder Berechtigte ohne Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland oder in Berlin (West)
Leitsatz (redaktionell)
§ 1 HHG ist auf Fälle auszudehnen, in denen der Häftling im Gewahrsam gestorben ist oder in denen der Berechtigte aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen (überhaupt) keinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland oder in Berlin (West) nehmen konnte.
Normenkette
HHG § 1
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt eine höhere Witwenrente durch Anrechnung weiterer Zeiten. Ihr Ehemann, der am 19. April 1893 geborene Versicherte, ist im März 1972 in der DDR gestorben. Er war ab 1920 Reichsbahnbeamter (Lokomotivheizer) und wurde beim Personalabbau im Jahr 1924 einstweilen in den Ruhestand versetzt. Nach 1945 erhielt er in der DDR eine Invalidenaltersrente; bei dieser waren 29 Versicherungsjahre bis Ende 1945 und drei Jahre seit 1946 berücksichtigt. Der Versicherte befand sich wegen sogenannter Hetze und übler Verleumdung der DDR von August 1950 bis Februar 1951 im Gefängnis, von April 1951 bis Juni 1961 wieder in Gefängnissen und in einer Nervenheilanstalt und schließlich von November 1963 bis Februar 1965 erneut in der Nervenheilanstalt.
Die Klägerin kam 1960 in die Bundesrepublik; sie besitzt den Vertriebenen- und Flüchtlingsausweis C. Sie bezieht Witwengeld von der Deutschen Bundesbahn. Ferner erhielt sie eine Eingliederungshilfe und eine Ausgleichsleistung; in dem Bescheid der Bezirksregierung Rheinhessen und Pfalz (vom 2. Dezember 1977) ist ausgeführt, der Versicherte "hat sich aus politischen und von ihm nach freiheitlich demokratischer Auffassung nicht zu vertretenden Gründen in Gewahrsam befunden und erfüllt sonach die Grundvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 Häftlingshilfegesetz - (HHG); Frau Sch… ist deutsche Staatsangehörige und erfüllt die Stichtagsvoraussetzungen nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 HHG, da ihr der Vertriebenenausweis C Nr. … von der Stadtverwaltung M… ausgestellt wurde. Somit kann eine Bescheinigung nach § 10 Abs. 4 HHG i.V.m. § 1 Abs. 1 Nr. 3 HHG ausgestellt werden". In dem Witwenrentenbescheid vom 6. Januar 1976 hat die Beklagte 278 Beitragswochen aus der Zeit von 1909 bis 1929 und eine Ersatzzeit militärischen Dienstes von 1913 bis 1918 angerechnet. Die Klägerin meint, es müßten noch Versicherungszeiten von 1924 bis 1945 sowie eine Ersatzzeit von 1950 bis 1965 berücksichtigt werden.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. November 1976). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verpflichtet, die Haftzeiten des Versicherten vom 17. August 1950 bis 17. Februar 1951 und vom 14. April 1951 bis 19. April 1958 als Ersatzzeit rentensteigernd anzurechnen. Die weitergehende Berufung hat es zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 25. September 1978). Es hat ausgeführt, Beitragszeiten in dem Zeitraum von 1924 bis 1945 seien nicht glaubhaft gemacht. Die Haftzeiten, begrenzt auf die Zeit bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres des Versicherten, seien Ersatzzeiten gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 5 Reichsversicherungsordnung (RVO). Die Tatsache, daß der Versicherten keinen Wohnsitz in der Bundesrepublik genommen habe, schließe die Anerkennung der Haftzeiten nicht aus; der Versicherte habe aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen - Auswirkungen der langjährigen Inhaftierung und des Mauerbaus - keinen Wohnsitz in der Bundesrepublik nehmen können. Ein solcher Fall sei demjenigen eines in Gewahrsam gestorbenen Häftlings gleichzustellen.
Beide Beteiligten haben Revision eingelegt. Die Klägerin meint, Versicherungszeiten von 1924 bis 1945 seien glaubhaft gemacht. Sie verweist auf die im Rentenbescheid des Versicherten angeführten 29 Versicherungsjahre.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 25. September 1978 und des Sozialgerichts Speyer vom 19. November 1976 sowie den Bescheid der Beklagten vom 6. Januar 1976 zu ändern und die Beklagte auch zu verurteilen, ihr unter zusätzlicher Anrechnung der Zeit von 1924 bis 1945 als Beitrags- oder Beschäftigungszeit eine höhere Witwenrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen sowiedas Urteil des Landessozialgerichts zu ändern und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts in vollem Umfang zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beklagte ist der Auffassung, die Haftzeiten seien keine Ersatzzeiten, weil der Versicherte am Stichtag - 10. August 1955 - keinen Wohnsitz im Bundesgebiet gehabt habe. Darauf komme es aber entscheidend an. Der Versicherte habe in den sieben Wochen seit der Haftentlassung bis zum Mauerbau Zeit zum Verlassen der DDR gehabt. In den 29 Jahren der Versicherungszeit in dem Rentenbescheid seien nach den Vorschriften der DDR offensichtlich auch Beamtendienstzeiten enthalten; diese seien aber nach der RVO a.F. versicherungsfrei gewesen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
II
1. Die Revision der Klägerin ist im Sinn der Zurückverweisung begründet.
Das LSG hat festgestellt, es sei nicht glaubhaft gemacht (§ 1 Abs. 1 Versicherungsunterlagen-Verordnung -VuVO -), daß für den Versicherten in der Zeit von 1924 bis 1945 Beiträge entrichtet worden seien. In bezug auf diese Feststellung hat die Klägerin zulässig gerügt (§ 164 Abs. 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), das LSG habe den Begriff der Glaubhaftmachung verkannt und ein Mittel der Glaubhaftmachung, nämlich die schriftliche Auskunft des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), Kreisvorstand, Verwaltung der Sozialversicherung, in Stendal vom 2. September 1975, nicht berücksichtigt. Das LSG hat den Begriff der Glaubhaftmachung nicht verkannt. Aber die Revisionsrüge ist insofern begründet, als das LSG die Auskunft des FDGB nicht in die Beweiswürdigung eingebracht und damit entgegen § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens gewürdigt hat (vgl. BSGE 1, 194, 197; 4, 112, 114; SozR Nrn. 40 und 56 zu § 128 SGG; BSGE 15, 85, 88).
Zu dem Ergebnis, die Beitragszahlung sei nicht glaubhaft gemacht, ist das LSG - nach den Entscheidungsgründen seines Urteils - gekommen, weil ihm die Angaben der Klägerin und die vorliegenden Zeugenerklärungen nicht ausreichten und der Versicherte als Wartestandsbeamter versicherungsfrei und wegen seiner wirtschaftlichen Verhältnisse nicht unbedingt darauf angewiesen gewesen sei, eine ständige und versicherungspflichtige Berufstätigkeit auszuüben. Die Auskunft des FDGB, die es im Tatbestand erwähnt, hat das LSG nicht in die Abwägung der einzelnen Beweismittel aufgenommen. Dazu wäre es jedoch verpflichtet gewesen. Es hätte sich damit auseinandersetzen müssen, daß der FDGB bescheinigt hat, der Berechnung der dem Versicherten gezahlten "Inv. Alters-Rente" hätten 29 Jahre der versicherungspflichtigen Tätigkeit bis 31. Dezember 1945 und drei Jahre der versicherungspflichtigen Tätigkeit ab 1. Januar 1946 zugrunde gelegen. Es hätte bei der Beweiswürdigung diese Auskunft gegen die anderen Beweismittel (Angaben der Klägerin, Aussagen der Zeugen, Wirtschaftslage der Versicherten und der Klägerin u. ä.) abwägen müssen. Dabei wäre auch seine Ansicht von Bedeutung gewesen, der Versicherte sei als Wartestandsbeamter versicherungsfrei gewesen. Das LSG, hat diese Ansicht nicht unter Heranziehung der damaligen Rechtslage begründet. Zwar waren nach § 1234 RVO in der Fassung des Reichsbahn-Personalgesetzes vom 30. August 1124 (RGBl. II 287) die im Dienste der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft Beschäftigten unter bestimmten Voraussetzungen versicherungsfrei; dagegen war, wie schon ein Bediensteter der Beklagten in den Rentenakten vermerkt hatte, derjenige, dem von der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft, Ruhegeld, Wartegeld oder ähnliche Bezüge bewilligt war, versicherungspflichtig; er wurde unter bestimmten Voraussetzungen nur auf seinen Antrag von der Versicherungspflicht befreit (§ 1237 Abs. 1 RVO i.d.F. des Reichsbahn-Personalgesetzes). Das Berufungsgericht wird in seine Erwägungen einbeziehen müssen, ob der Kläger einen solchen Antrag (vgl. §§ 1240 ff. RVO a.F.) gestellt hat; bei Befreiung wurde die Anwartschaft aus den bis dahin erworbenen Beiträgen nicht aufrechterhalten (RVA AN 1906, 282; Hanow/Lehmann, RVO, 4. Buch, 4. Aufl. 1925, Anm. 3 zu § 1237; RVO mit Anmerkungen, herausgegeben von den Mitgliedern des Reichsversicherungsamts, Band IV, 2. Aufl. 1930, Anm. 1 zu § 1237). Diese Regelungen galten für die Beschäftigten und die früheren Beschäftigten des Reichs schon vom 1. Januar 1912 an. In der Bescheinigung der Bundesbahn-Versicherungsanstalt Münster vom 10. Dezember 1975 sind für den Versicherten im Jahr 1929 sechs Wochenbeiträge als entrichtet eingetragen, was das LSG ebenfalls in seine Beweiswürdigung einbeziehen wird.
Da der Senat die erforderliche Beweiswürdigung nicht selbst vornehmen darf, war die Sache an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird vor einer endgültigen Abwägung der Beweismittel prüfen müssen, ob nicht noch weitere Ermittlungen erforderlich sind. Zwar haben vier Personen schriftliche Erklärungen abgegeben, nämlich- M… S…, M… , geb. 1922, Sohn der Klägerin,- III… R… geb. S…, H… H…, geb. etwa 1916, Stieftochter der Klägerin,- E… S…, P…, K… K…/M… (DDR), Schwester der Klägerin, und- W…A…, S… (DDR), geb. 1903.
Von diesen ist aber nur Frau R… vom - ersuchten - Richter als Zeugin vernommen worden. Das LSG hat mit Beweisbeschluß vom 23. März 1978 auch die richterliche Vernehmung der Frau S… angeordnet, von der Durchführung aber abgesehen, weil diese "unter der im Beweisbeschluß angeführten Anschrift gemäß den Angaben im Deutschen Ortsbuch nicht geladen werden kann". Sollte das LSG angenommen haben, Personen in der DDR könnten nicht als Zeugen richterlich vernommen werden, so träfe das - für einen Regelfall, der hier anzunehmen ist - nicht zu (vgl. Baumbach/Lauterbach, ZPO, 37. Aufl., Übers. 5 vor § 156 GVG und 1 zu § 168 sowie z.B. den Erlaß des Hessischen Sozialministers vom 27. Dezember. 1977 Nr. I A 6- 6274 betr. den Rechts- und Amtshilfeverkehr mit der DDR, dem offenbar ähnliche Regelungen in den anderen Bundesländern entsprechen). Aber auch die Annahme des LSG, die schriftliche Erklärung der Frau S… sei nicht "verwertbar", weil sie derjenigen der Frau R… entspreche und offensichtlich mit derselben Maschine (vor-) geschrieben sei, erweckt Bedenken.
Das Unterlassen der - grundsätzlich notwendigen (vgl. BSGE 4, 60; 16, 182, 187) - richterlichen Vernehmung der drei weiteren Beweispersonen (M… S…, E… S… und W… A…) könnte auch nicht damit gerechtfertigt werden, daß es sich hier nicht um den Strengbeweis, sondern um die Glaubhaftmachung handelt. Die VuV0 bestimmt in § 10 Abs. 1, daß die Ermittlungen sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen. Gegenüber der ungeschickten und unscharfen schriftlichen Erklärung einer Auskunftsperson ist deren richterliche Vernehmung aber ein besseres Beweismittel, auf das sich die Ermittlungen des Gerichts jedenfalls dann erstrecken müssen, wenn die einfache Erklärung zur Glaubhaftmachung der "behaupteten" Tatsache nicht ausreicht.
Bei den Ermittlungen wird das LSG, auch beachten, daß die Bundesbahndirektion Frankfurt (Main) im Bescheid vom 11. Januar 1978 über die Neufestsetzung des Witwengeldes davon ausgeht, der Versicherte sei vom 1. Oktober 1942 bis 31. März 1945 "als Angestellter oder Arbeiter im öffentlichen Dienst" beschäftigt gewesen, ferner, daß in dem Schreiben der Reichsbahnbeamten-Krankenversorgung, Bezirk Hannover, vom 23. September 1942 (Bl. 16 der von der Bundesbahndirektion Frankfurt geführten Personalakten des Versicherten) angegeben ist, der Versicherte sei vom 1. Oktober 1942 an als Mitglied in die Reichsbahnbeamten-Krankenversorgung aufgenommen worden, und schließlich, daß der Oberstaatsanwalt des Bezirks Magdeburg in der Anklage vom 8. September 1951 (Bl. 12/13 der Akten der Bezirksregierung Rheinhessen-Pfalz) ausgeführt hat, der Versicherte sei "ab 1920 bis 1945 im Fahrdienst als Lokoberheizer beschäftigt" gewesen.
2. Auch die Revision der Beklagten ist im Sinn der Zurückverweisung begründet. Insoweit reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG für eine abschließende Entscheidung ebenfalls nicht aus.Ob die Haftzeiten des Versicherten vom 17. August 1950 bis 17. Februar 1951 und vom 11. April 1951 bis 19. April 1958 als Ersatzzeiten angerechnet werden, bestimmt sich nach § 1251 Abs. 1 Nr. 5 RVO i.d.F. des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG). Danach werden Zeiten des Gewahrsams bei Personen im Sinne des § 1 HHG (jetzt i.d.F. des 5. HHÄndG vom 29. Juli 1971, BGBl. I 1173) als Ersatzzeiten angerechnet. Ob der Versicherte eine "Person i.S. des § 1 HHG" war, kann der Senat nicht feststellen. Daß bei dem Versicherten in den genannten Zeiten ein Gewahrsam vorgelegen hat, also ein Festgehaltenwerden auf engbegrenztem Raum unter dauernder Bewachung (§ 1 Abs. 5 HHG), hat das LSG, wie sich aus dem Zusammenhang seiner Urteilsgründe ergibt, festgestellt. Die Beklagte greift die Feststellung nicht an, sondern geht in ihrer Revisionsbegründung selbst von dem Vorliegen eines Gewahrsams aus. Trotzdem ist § 1 HHG nicht unmittelbar auf den Versicherten anwendbar. Die Bestimmung setzt voraus, daß der Berechtigte seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des HHG entweder am 10. August 1955 hatte (Abs. 1) oder unter den besonderen Voraussetzungen der Abs. 2 bis 4 nach diesem Tag genommen hat oder nimmt.
Die von der Bezirksregierung Rheinhessen-Pfalz am 2. Dezember 1977 ausgestellte Bescheinigung nach § 10 Abs. 4 HHG ist insoweit ohne Bedeutung. Denn sie ist der Klägerin erteilt worden und besagt nur, daß bei dieser die Voraussetzungen des § 1 HHG (hier: Abs. 1 Nr. 3) vorliegen. im Prozeß geht. es aber darum, ob bei dem verstorbenen Ehemann der Klägerin die Voraussetzungen für eine Ersatzzeit gegeben waren, ob also dessen - gedachte - Versichertenrente zu erhöhen ist, was dann auch zu einer Erhöhung der Witwenrente führen würde (§ 1268 RVO ). Das LSG hat unter Hinweis auf die Meinung der Kommentarliteratur die Vorschrift auf den Fall ausgedehnt, daß der Häftling im Gewahrsam gestorben ist; ebenso will es den Fall behandeln, daß der Versicherte zwar nicht im Gewahrsam gestorben ist, aber aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen (überhaupt) keinen Wohnsitz in der Bundesrepublik oder West-Berlin nehmen konnte. Dem ist beizupflichten. Der Senat entnimmt dies dem § 1 Abs. 2 Nr. 4 und Abs. 4 HHG, wonach die unverschuldete Verzögerung hinsichtlich der Stichtagsvoraussetzungen nicht schadet. Demzufolge sind bei der Rente von Hinterbliebenen, die die Wohnsitz und Stichtagsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 bis 3 HHG erfüllen, als Ersatzzeit die Zeiten des Gewahrsams des Versicherten - Häftling im Sinn von § 1 Abs. 1 Nr. 1 HHG - auch dann anzurechnen, wenn dieser unverschuldet verhindert war, seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des HHG zu nehmen. Diese Auslegung entspricht dem Willen des Gesetzgebers, wie er in dem System und dem Sinnzusammenhang der Ersatzzeitenregelung zum Ausdruck kommt. Zum einen soll eine Ersatzzeit angerechnet werden, weil der Gewahrsam ein außergewöhnlicher Umstand war, der den Versicherten schicksalhaft getroffen und ihm die Beitragszahlung unmöglich gemacht hat. Zum anderen soll nur der Bewohner des Bundesgebietes und von West-Berlin begünstigt werden. Es entspricht der verfassungsrechtlichen Legitimität, eine sozial- und fürsorgerechtliche Förderung allgemein auf die Bewohner des eigenen Staatsgebietes zu beschränken (BSGE 25, 295, 297; vgl. auch § 30 SGB 1 und §§ 3 ff. SGB 4). Wer nicht in das Bundesgebiet kommt, soll in der Regel auch nicht die an sich versicherungsfremden, aus allgemeinen SteuermitteIn (Bundeszuschuß) gewährten Sonderleistungen erhalten. Wenn aber der Geschädigte aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, nicht in das Bundesgebiet einreisen kann, dann sollen wenigstens diejenigen seiner Hinterbliebenen, die sich im Bundesgebiet aufhalten, an seiner Stelle Entschädigungsleistungen erhalten. Es widerspräche dem Gesetzeszweck, wenn zwar den Hinterbliebenen eines in das Bundesgebiet eingereisten Häftlings Ersatzzeiten angerechnet würden, nicht aber den Hinterbliebenen eines Häftlings, der im Anschluß an den Gewahrsam einem ihn betreffenden Ausreiseverbot des Gewahrsamslandes unterlegen hat.
Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) stehen nicht entgegen, insbesondere nicht das Urteil vom 1. Dezember 1964 - 11 RA 39/64 - (BSGE 22, 127, = SozR Nr. 9 zu § 1251 RVO). Zum einen schließt dieses Urteil schon nach seinem Text nicht aus, daß einer Hinterbliebenen die Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 5 RVO auch dann angerechnet wird, wenn der Versicherte keinen Wohnsitz im Bundesgebiet hatte. Zum anderen kam es auf diese Rechtsfrage auch nicht an, weil der Versicherte, am 10. August 1955 seinen Wohnsitz im Geltungsbereich des HHG gehabt hatte (S. 129). Auch in den - wenigen - anderen Entscheidungen des BSG zu § 1 HHG wird die Frage nicht berührt (BSGE 14, 50 = SozR Nr. 1 zu § 1 HHG; BSGE 35, 99 = SozR Nr. 63 zu (1251 RVO; BSGE 37, 206 = SozR 7190 § 2 Nr. 1).
Die Auffassung des LSG wird von dem überwiegenden Teil, der Kommentarliteratur jeweils für den Fall, daß der Häftling im Gewahrsam gestorben ist, geteilt (Koch/Hartmann, Das Angestelltenversicherungsgesetz, 2. und 3. Aufl., Band IV, Anm. B V 5 zu § 28, S. V 257/126; Zweng/Scheerer, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 2. Aufl., Anm. B V 5 zu § 1251, S. 24; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 6. Aufl., Anm. 14 zu § 1251 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 9. Aufl., S. 678 c, Stand: Juni 1966); der Fall, daß der Berechtigte nach der Entlassung, aber außerhalb des Bundesgebietes gestorben ist, wird nicht erörtert. Zwischen den beiden Fallgestaltungen besteht jedoch hinsichtlich der Anrechnung der Ersatzzeit kein rechtserheblicher Unterschied. Entscheidend ist, daß der Berechtigte beabsichtigte, ins Bundesgebiet einzureisen, daran aber ohne sein Verschulden gehindert war. Wenn eine unverschuldete Verhinderung zu bejahen ist, ist die Interessenlage und die Schutzbedürftigkeit seiner Hinterbliebenen die gleiche wie wenn der Versicherte erst nach - stichtagswahrender - Aufenthaltsnahme im Bundesgebiet gestorben wäre.
Für diese Rechtsauffassung spricht auch ein Vergleich mit der Rechtsstellung der Hinterbliebenen eines Heimkehrers (§ 1251 Abs. 1 Nr. 2 RVO) und eines Vertriebenen (§ 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO ). Dem Hinterbliebenen eines Vertriebenen wird eine Ersatzzeit angerechnet, auch wenn dieser nicht im Geltungsbereich des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) seinen ständigen Aufenthalt hatte und deshalb nach § 9 Abs. 1 BVFG Rechte und Vergünstigungen nicht in Anspruch nehmen konnte (Koch/Hartmann, a.a.O., Anm. B VI 3.2 zu § 28, S. V 257/132; Zweng/Scheerer, a.a.O., Anm. B VI 6 zu § 1251, S. 26; Eicher,Haase/Rauschenbach, a.a.O., Anm. 15 zu § 1251).
Allgemein sind die vertriebenen Hinterbliebenen nach § 1 Buchst. a Fremdrentengesetz (FRG) für Hinterbliebenenleistungen grundsätzlich leistungsberechtigt auch dann, wenn derjenige, von dem sie ihr Recht herleiten, selbst nicht Vertriebener war, weil er schon vor der Vertreibung der Hinterbliebenen gestorben ist (BSGE 24, 251; 36, 255, 256; 41, 257, 258 f.; 43, 224, 226). Der Senat hat in dem zuletzt genannten Urteil als Voraussetzung verlangt, daß beim Tod des Beschäftigten vor der Erfüllung des Tatbestands der Vertreibung diejenigen Merkmale des § 1 BVFG vorgelegen haben müssen, die abgesehen von der Wohnsitzbegründung im Bundesgebiet für die Annahme einer "Vertreibung" gefordert werden.
Bei dem Hinterbliebenen eines Heimkehrers, ist die Rechtslage weniger eindeutig. Internierungszeiten vor dem 1. Januar 1957 sind nach Art 2 § ArVNG i.V.m. § 24 Abs. 4 Heimkehrergesetz (HkG) i.d.F. vom 30. Oktober 1951 (BGBl. I 8751, 994) auch für Hinterbliebenenrenten Ersatzzeiten, wenn die Hinterbliebenen zur Zeit des Todes des Internierten im Bundesgebiet oder im Lande Berlin wohnten oder dort innerhalb von zwei Monaten nach dem Tode oder nach Bekanntwerden des Todes Aufenthalt genommen haben. Für Internierungszeiten nach dem 31. Dezember 1956 fehlt eine Vorschrift. Die Lücke sollte nach der Auffassung des Verbandskommentars zur RVO (Anm. 17 zu § 1251) dadurch geschlossen werden, daß es genügt, wenn die Hinterbliebenen rechtzeitig im Bundesgebiet Aufenthalt nehmen. Dieser Ansicht haben sich Koch/Hartmann (a.a.O., Anm. B II 7 zu § 28, S. V 257/71) und Zweng/Scheerer (a.a.O., Anm. B II 4 zu § 1251, S. 19) angeschlossen. Brackmann (a.a.O., S. 678 f., Stand: Juni 1966) bezeichnet das entgegengesetzte Ergebnis als "offenbar nicht beabsichtigt". Eicher/Haase/Rauschenbach (a.a.O., Anm. 9 zu § 1251) sind der Auffassung, daß die Internierung keine Ersatzzeit ist, wenn der Internierte während der Internierung verstorben ist.
Zu der Frage, ob der Ehemann der Klägerin die Gründe für sein Verbleiben in der DDR zu vertreten hatte, hat das LSG keine ausreichenden Feststellungen getroffen. Der Hinweis, es müsse davon ausgegangen werden, daß der Versicherte aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen gehandelt habe, kann diese Feststellung nicht ersetzen. Mit Recht beanstandet die Beklagte auch, daß das LSG ohne weitere Begründung annimmt, der Versicherte habe in den rund sieben Wochen zwischen der Entlassung am 26. Juni 1961 und dem Bau der Berliner Mauer (13. August 1961) persönliche Angelegenheiten in Stendal in Ordnung bringen müssen und habe deshalb nicht ausreisen können. Woher das LSG diese Kenntnis hat, ist nicht ersichtlich. Auch ist nicht ohne weiteres erkennbar, warum die mit dem Mauerbau einsetzende restriktive Politik der DDR eine Umsiedlung des Versicherten in das Bundesgebiet für dauernd verhindert haben soll. Der Versicherte hatte im Jahr 1958 das 65. Lebensjahr vollendet und konnte deshalb möglicherweise mit einem größeren Entgegenkommen bei einem Ausreiseantrag rechnen. Man wird zwar annehmen können daß während des weiteren Aufenthalts in einer Nervenheilanstalt (4. November 1963 bis 25. Februar 1965) eine Ausreise unmöglich war, aber danach hat der Versicherte noch sieben Jahre in der DDR gelebt. Ob er einen Antrag auf Familienzusammenführung mit seiner seit 1960 im Bundesgebiet lebenden Ehefrau gestellt hat, ist nicht festgestellt worden.
Die Sache war zu weiteren Ermittlungen an das LSG zurückzuverweisen. Sollte sich nicht aufklären lassen, aus welchen Gründen der Versicherte nicht in den Geltungsbereich des HHG eingereist ist, wäre nach den Regeln der Beweislast die Klage abzuweisen.
Das LSG wird auch über die Kosten entscheiden.4 RJ 119/78
Bundessozialgericht
Im Namen des Volkes
Urteil
Fundstellen