Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentnerprivileg bei Versorgungsausgleich. Stammrecht auf Rente
Leitsatz (amtlich)
Das Rentnerprivileg (§ 83a Abs 4 S 2 AVG) kommt auch demjenigen zugute, der bei Eintritt der Rechtskraft über den Versorgungsausgleich das Stammrecht (den Grundanspruch) auf Rente erworben, jedoch noch keinen fälligen Zahlungsanspruch hatte.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
AVG § 83a Abs. 4 S. 2; RVO § 1304a Abs. 4 S. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 15. August 1995 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 10. Dezember 1991 aufgehoben. Der Bescheid der Beklagten vom 28. Juni 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 1990 wird abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin die Rente des Versicherten H. … Z. … wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Januar 1989 unter Anrechnung bereits gezahlter Rentenbeträge ohne Kürzung der im Wege des Versorgungsausgleichs übertragenen Werteinheiten zu zahlen.
Die Beklagte hat der Klägerin und der Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob die Erwerbsunfähigkeitsrente (EU-Rente) des Versicherten unter Anrechnung der im Rahmen des Versorgungsausgleichs auf das Versicherungskonto der geschiedenen Ehefrau übertragenen Rentenanwartschaften zu gewähren war.
Die Klägerin ist die Witwe und Rechtsnachfolgerin des 1935 geborenen und während des Revisionsverfahrens am 9. Mai 1996 verstorbenen Versicherten H. … Z. …. Dieser schloß 1959 die Ehe mit der 1936 geborenen Beigeladenen. Diese Ehe wurde mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts – Familiengericht – vom 14. Juli 1988 geschieden. Mit am 31. Dezember 1988 rechtskräftig gewordenem Beschluß des Familiengerichts vom 3. November 1988 wurden vom Versicherungskonto des Versicherten bei der beklagten Seekasse im Rahmen des Versorgungsausgleichs auf das Versicherungskonto der Beigeladenen bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte Rentenanwartschaften in Höhe von monatlich 216,10 DM bezogen auf den 29. Februar 1980 (Ende der Ehezeit) übertragen. An die Beigeladene wird eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bislang nicht gewährt.
Am 16. Januar 1989 beantragte der Versicherte bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen EU. Mit Bescheid vom 28. Juni 1989 wurde ihm diese bewilligt, als Eintritt des Versicherungsfalles der 16. Februar 1988 festgestellt und bei der Ermittlung der Rentenhöhe der zugunsten der Beigeladenen durchgeführte Versorgungsausgleich (rentenmindernd) berücksichtigt. Zum Rentenbeginn wurde ausgeführt, die Rente beginne gemäß § 1290 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) erst am 1. Januar 1989, weil der Rentenantrag später als drei Monate nach Eintritt des Versicherungsfalles gestellt worden sei. Den hinsichtlich der Rentenhöhe erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit der Begründung zurück, die Voraussetzungen des § 83a Abs 4 Satz 2 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) für eine Berechnung der Rente unter (vorläufiger) Nichtberücksichtigung des Versorgungsausgleichs seien nicht erfüllt, da der Rentenzahlungsanspruch erst ab 1. Januar 1989 (Beginn des Antragsmonats) bestanden habe; zu diesem Zeitpunkt sei der Beschluß des Familiengerichts über den Versorgungsausgleich aber bereits rechtskräftig gewesen. § 5 Abs 1 des Gesetzes zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich (VAHRG) finde ebenfalls keine Anwendung, da ein gesetzlicher Unterhaltsanspruch der Beigeladenen nach §§ 1569 f Bürgerliches Gesetzbuch nicht nachgewiesen sei (Widerspruchsbescheid vom 19. April 1990).
Das Sozialgericht Hamburg hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. Dezember 1991). Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat die Berufung des Versicherten nach Beiladung der geschiedenen Ehefrau mit Urteil vom 15. August 1995 zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen des § 83a Abs 4 Satz 2 AVG lägen nicht vor, weil dem Kläger am 31. Dezember 1988 noch kein Einzelanspruch auf Leistungen zugestanden habe. Die Voraussetzungen des § 5 VAHRG seien nicht erfüllt, da die Beigeladene seit dem 1. Januar 1989 keinen Anspruch auf Unterhalt gegen den Versicherten gehabt habe.
Der Versicherte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Nach seinem Tod führt die Klägerin den Rechtsstreit als Sonderrechtsnachfolgerin des Versicherten fort. Sie rügt eine Verletzung des § 83a Abs 4 Satz 2 AVG, bei dem es nicht auf die Antragstellung, sondern auf die Entstehung des Stammrechts einer Rente auf EU ankomme.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 15. August 1995 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 10. Dezember 1991 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 28. Juni 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 1990 zu verurteilen, ihr ab 1. Januar 1989 unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes Erwerbsunfähigkeitsrente ohne Kürzung aus dem Versorgungsausgleich zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das angegriffene Urteil für zutreffend. Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Das LSG hat die Berufung des Versicherten zu Unrecht zurückgewiesen; seine Klage gegen den Rentenbewilligungsbescheid vom 28. Juni 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 1990 war zulässig und begründet. Der Versicherte hatte entgegen der Ansicht der Beklagten einen Anspruch auf eine höhere Rente wegen EU. Obgleich mit Rechtskraft des Beschlusses über den Versorgungsausgleich auf das Versicherungskonto seiner geschiedenen Ehefrau (der Beigeladenen) von ihm erworbene Rentenanwartschaften übertragen wurden, war seine Rente vorläufig ohne Rücksicht hierauf festzustellen und insoweit ungekürzt zu zahlen. Dieser Anspruch ist gemäß § 56 Abs 1 Nr 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch auf die Revisionsklägerin, die mit dem Versicherten in einem Haushalt zusammengelebt hat, als Sonderrechtsnachfolgerin übergegangenen.
Rechtsgrundlage des Rechts des Versicherten auf Berechnung seiner EU-Rente unter Berücksichtigung der auf das Versicherungskonto der Beigeladenen übertragenen Rentenanwartschaften ist der vorliegend noch anwendbare § 83a Abs 4 Satz 2 AVG (vgl § 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch). Nach § 83a Abs 4 Satz 1 AVG hat der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung nach Eintritt der Rechtskraft der familiengerichtlichen Entscheidung über den Versorgungsausgleich die dem Ausgleichsverpflichteten danach zu gewährende Rente in Höhe der übertragenen Rentenanwartschaften zu mindern, sofern ein Versorgungsausgleich durch die Übertragung dieser Rentenanwartschaften durchgeführt worden ist. Besteht allerdings bei Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung des Familiengerichts bereits ein „Anspruch” des Ausgleichsverpflichteten auf eine Rente, erfolgt ausnahmsweise eine Minderung seiner Rente erst später, und zwar dann, wenn ihm (selbst) eine Rente aus einem späteren Versicherungsfall oder aber dem Ausgleichsverpflichteten eine Rente aus dessen Versicherung zu gewähren ist (vgl § 83a Abs 4 Satz 2 Buchst a und b AVG; sog Rentnerprivileg).
Wegen dieses sog Rentnerprivilegs konnte der Versicherte von der Beklagten die Zahlung einer höheren EU-Rente verlangen. Zwar hatte er zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft der Entscheidung über den Versorgungsausgleich am 31. Dezember 1988 noch keinen fälligen und durchsetzbaren monatlichen (Einzel-)Anspruch auf Zahlung seiner Rente. Dieser war erst ab dem 1. Januar 1989 gegeben: Nach den bindenden Feststellungen des LSG hatte der Versicherte zum Zeitpunkt des Eintritts der EU am 16. Februar 1988 die für eine Rente wegen EU erforderliche Wartezeit und die weiteren Voraussetzungen des § 24 Abs 2a AVG (Zugehörigkeit zum Kreis der versicherten Personen) erfüllt; da er den Rentenantrag aber erst am 16. Januar 1989, dh mehr als drei Monate nach Eintritt der EU gestellt hatte, war die Rente gemäß § 67 Abs 2 AVG erst „vom Beginn des Antragsmonats an”, also für Rentenbezugszeiten vom 1. Januar 1989 an, zu gewähren. Dennoch wurde der Versicherte bereits zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft der Entscheidung über den Versorgungsausgleich am 31. Dezember 1988 vom Schutz des § 83a Abs 4 Satz 2 AVG erfaßt. Diese Vorschrift gilt entgegen der Ansicht der Beklagten nicht nur für Ausgleichsverpflichtete, denen bei Eintritt der Rechtskraft ein „Anspruch auf eine Rente” iS fälliger und durchsetzbarer Einzelzahlungsansprüche zusteht; vielmehr hat einen „Anspruch auf eine Rente” iS des § 83a Abs 4 Satz 2 AVG bereits derjenige, der zum maßgeblichen Zeitpunkt (Eintritt der Rechtskraft) den Grundanspruch (das sog Stammrecht), dh ein subjektiv öffentliches (Voll-)Recht auf Rente erworben hatte. Letzteres war beim Versicherten mit Eintritt des Versicherungsfalls der EU am 16. Februar 1988 der Fall.
Zur Entstehung des (Voll-)Rechts des Klägers auf Rente wegen EU bedurfte es des Rentenantrages vom 16. Januar 1989 nicht, denn dem Rentenantrag kommt materiell-rechtliche Bedeutung iS einer Voraussetzung für die Entstehung des sog Rentenstammrechts nur dann zu, wenn und soweit gesetzlich ausdrücklich vorgeschrieben ist, daß die Rente „auf Antrag” zu gewähren ist. Unter Geltung der hier noch anwendbaren Vorschriften des AVG war dies nach herrschender Meinung lediglich bei Ansprüchen auf Altersruhegeld (§ 25 Abs 1 bis 3 AVG, § 1248 Abs 1 bis 3 RVO) der Fall (vgl BSGE 61, 108, 110; Niesel in Kasseler Komm, Stand Januar 1991, § 1290 Rz 2). Die Regelung des § 67 Abs 2 AVG über den „Rentenbeginn” ist insoweit von den materiell-rechtlichen Normen, die als anspruchsbegründende Vorschriften einen Antrag verlangen, zu unterscheiden; sie ist lediglich Fälligkeitsvoraussetzung für den Einzelanspruch aus dem Stammrecht.
Daß bei § 83a Abs 4 Satz 2 AVG nicht auf denjenigen Zeitpunkt abgestellt werden kann, zu dem der Versicherte (nach erfolgter Antragstellung) erstmals die Befriedigung eines Einzelzahlungsanspruches verlangen kann, sondern auf den Zeitpunkt der Entstehung des subjektiven Rechts (des sog Stammrechts), ergibt sich aus dem Schutzzweck dieser Bestimmung. Wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in der Entscheidung vom 28. Februar 1980 (BVerfGE 53, 257 ff = SozR 7610 § 1587 Nr 1) ua ausgeführt hat, handelt es sich, soweit der Versorgungsausgleich zu Kürzungen von Renten und Anwartschaften führt, grundsätzlich um eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums iS von Art 14 Abs 1 Satz 2 Grundgesetz (GG); die Grenzen der gesetzgeberischen Regelungsbefugnis – so das BVerfG (aaO) – würden durch das Rentensplitting nicht überschritten, zumal der Verpflichtete gemäß § 83a Abs 6 AVG befugt sei, eine verbleibende Rentenanwartschaft durch Beitragszahlungen wieder „aufzustocken”; demgemäß habe der Gesetzgeber den Grundsatz der sofortigen und endgültigen Vollziehung des Versorgungsausgleichs in § 83a Abs 4 AVG für den Fall durchbrochen, daß der Ausgleichsverpflichtete nach der Rentenanwartschaftsübertragung keine Möglichkeit mehr habe, die Minderung einer Rentenanwartschaft ganz oder teilweise durch die Entrichtung von Beiträgen auszugleichen (vgl auch BT-Drucks 7/4361, S 56).
Dem sog Rentnerprivileg kommt in diesen Fällen faktisch (nicht rechtlich) die Bedeutung einer „vorläufigen Aussetzung der Vollziehung der familiengerichtlichen Entscheidung” mit der Folge eines Bestandsschutzes des Ausgleichsverpflichteten zu. Infolgedessen bleibt im Anwendungsbereich des sog Rentnerprivilegs der Versorgungsausgleich zunächst ohne tatsächliche Auswirkungen. Der Ausgleichspflichtige soll dadurch vor unangemessenen Opfern bewahrt werden, weil er die Leistungsminderung nicht mehr ausgleichen kann und nur der Versicherungsträger von ihr einen finanziellen Vorteil hätte (vgl BVerfG aaO; BSGE 58, 59 ff = SozR 2600 § 96a Nr 1, BSG SozR 3-2200 § 1304a Nr 2 mit Anm Schultes, SGb 1994, 482 ff).
Maßgebendes Kriterium für die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die durch Art 14 Abs 1 Satz 1 GG geschützte Rechtsposition ist somit eine Besitzschutzregelung zugunsten des Ausgleichspflichtigen für den Fall, daß nach rechtskräftiger Übertragung der Rentenanwartschaften durch das Familiengericht Beiträge zum Ausgleich des Verlusts nicht mehr entrichtet werden können. Eine derartige Beitragsentrichtung kommt nicht mehr in Betracht, wenn bereits ein Stammrecht des Ausgleichsverpflichteten auf eine Rente zum Zeitpunkt der rechtskräftigen Entscheidung des Familiengerichts besteht, etwa, weil der Versicherungsfall (zB die EU des Ausgleichsverpflichteten) bereits vor diesem Zeitpunkt eingetreten war. Gemäß § 83a Abs 6 Halbsatz 2 iVm § 10 Abs 2 AVG kann nämlich während einer Berufs- und EU eine Entrichtung von Beiträgen zum Zweck des Ausgleiches einer Minderung vom Rentenanwartschaften nicht mehr mit Wirkung für diesen, sondern nur noch zur Sicherung des künftigen Versicherungsfalls erfolgen (vgl BSG SozR 3-2200 § 1304a Nr 2).
Die Voraussetzungen für die Anwendung des sog Rentnerprivilegs sind nach Sinn und Zweck des § 83a Abs 4 Satz 2 AVG auch im vorliegenden Fall eines bereits entstandenen Rentenstammrechts gegeben: Da der Versicherte bereits nach Eintritt des Versicherungsfalles am 16. Februar 1988 und nicht erst ab Aufnahme der Rentenzahlung iS des § 67 Abs 2 AVG am 1. Januar 1989 nicht mehr berechtigt war, seine durch den Versorgungsausgleich zugunsten der Beigeladenen eingetretene Minderung seiner Rentenanwartschaften durch Entrichtung für den Versicherungsfall der EU auszugleichen (vgl hierzu BSG SozR 2200 § 1304a Nr 6), war ihm die EU-Rente ungekürzt – unter Berücksichtigung der übertragenen Rentenanwartschaften – zu zahlen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
NZS 1998, 346 |
SozR 3-2200 § 1304a, Nr.3 |
SozSi 1998, 77 |