Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 21.02.1989) |
SG Stuttgart (Urteil vom 21.09.1987) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. Februar 1989 und das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21. September 1987 aufgehoben, soweit die Beklagte zur Leistung verurteilt worden ist.
Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger für seinen am 2. Oktober 1969 geborenen Sohn Patricio Kindergeld für die Monate November und Dezember 1985 zugestanden hat.
Der Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Er ist Vater von vier Kindern, von denen der Sohn Patricio in der streitigen Zeit in Deutschland lebte. Die Beklagte hatte das dem Kläger für Patricio gewährte Kindergeld gemäß § 25 Abs. 2 Nr. 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) mit Ablauf des Monats Oktober 1985 formlos eingestellt, weil Patricio das 16. Lebensjahr vollendet und der Kläger keine Anzeige iS des § 17 Abs. 3 BKGG erstattet hatte.
Der Kläger reichte der Beklagten am 16. Oktober 1985 den Fragebogen zur Prüfung des Anspruchs auf Kindergeld ein, in dem er jedoch keine Angaben über die weitere Schul- oder Berufsausbildung des Sohnes Patricio machte. Die Beklagte forderte den Kläger ua insoweit zur Ergänzung seiner Angaben auf, woraufhin er der Beklagten nunmehr die Bescheinigung des italienischen Berufsbildungswerkes ENAIP vom 16. Oktober 1985 nachreichte. Darin ist bescheinigt, daß Patricio an einem Vollzeitlehrgang zur Erlangung der italienischen Qualifikation als Mechaniker mit einer Arbeitszeit von 32 Wochenstunden und dem Besuch einer Berufsschule teilnehme; der Lehrgang ende mit einer Abschlußprüfung, die von der italienischen staatlichen zuständigen Stelle beaufsichtigt werde.
Die Beklagte behandelte diese Eingabe zunächst als Neuantrag auf Kindergeld für Patricio. Mit Bescheid vom 21. November 1985 lehnte sie dessen Berücksichtigung ab November 1985 mit der Begründung ab, das Kind befinde sich nicht in einer Berufsausbildung. Dieser Bescheid ist bindend geworden.
Mit Schreiben vom 3. Januar 1986 beantragte der Kläger unter Wiederholung seines Tatsachenvortrages erneut, ihm Kindergeld für Patricio zu gewähren. Gleichzeitig beantragte er die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Widerspruchsfrist gegen den Bescheid vom 21. November 1985, die er auf seine Rechtsunkenntnis stützte. Durch den Bescheid vom 7. Februar 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Januar 1987 lehnte die Beklagte die Erteilung eines neuen Bescheides unter Hinweis auf die in dem Bescheid vom 21. November 1985 getroffene Entscheidung ab. Mit dem Bescheid vom 21. Februar 1986 bewilligte sie dem Kläger jedoch Kindergeld für Patricio ab Januar 1986. Für die streitige Zeit (November und Dezember 1985) hielt sie hingegen an der bisher von ihr vertretenen Rechtsauffassung fest.
Das Sozialgericht (SG) Stuttgart (Urteil vom 21. September 1987) hat die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide antragsgemäß auch zur Kindergeldzahlung für November und Dezember 1985 verurteilt und die Berufung zugelassen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen: Das Schreiben des Klägers vom 3. Januar 1986 sei ein Neuantrag, dessen Ablehnung jedoch rechtswidrig sei, weil Patricio mit dem Besuch des Mechanikerlehrganges beim Berufsbildungswerk ENAIP eine Berufsausbildung iS des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG durchlaufen habe.
Die Beklagte macht zur Begründung ihrer – vom LSG zugelassenen – Revision geltend, das LSG habe verkannt, daß keine Berufsausbildung iS des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG vorliege, wenn ein in Deutschland lebendes Kind eines Italieners in Deutschland eine italienische Ausbildungseinrichtung besuche, die einen nur in Italien anerkannten Ausbildungsgang vermittele.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. Februar 1989 und das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21. September 1987 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat hat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–).
Die zulässige Revision der Beklagten ist – vom Leistungsbegehren abgesehen – im Ergebnis nicht begründet. Das LSG hat zwar zutreffend die von dem Kind Patricio in den Monaten November und Dezember 1985 durchlaufene Ausbildung bei der ENAIP in Stuttgart als Berufsausbildung iS des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG angesehen. Gleichwohl hätte es auf die Berufung der Beklagten das erstinstanzliche Urteil aufheben müssen, soweit das SG die Beklagte zur Leistung verurteilt hat.
Die Beklagte ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger mit dem Schreiben vom 3. Januar 1986 gemäß § 20 Abs. 5 BKGG – die Vorschrift ist lex spezialis gegenüber § 44 Abs. 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) – die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes – des Bescheides vom 21. November 1985 – sowohl für die Zukunft als auch für die Vergangenheit beantragt hat. Um einen Neuantrag iS des § 9 BKGG handelte es sich entgegen der vom LSG vertretenen Ansicht schon deshalb nicht, weil der Kläger einen solchen Antrag bereits am 16. Oktober 1985 gestellt und die Beklagte über diesen Antrag durch den bindend gewordenen Bescheid vom 21. Oktober 1985 entschieden hatte. Diesem Antrag hat die Beklagte mit dem Bescheid vom 21. Februar 1986 nur für die Zukunft entsprochen; für die streitige Zeit (November und Dezember 1985) hat sie hingegen die Rücknahme des Bescheides vom 21. November 1985, mit dem sie den Antrag des Klägers vom 16. Oktober 1985 für die Zeit ab November 1985 bindend abgelehnt hatte, aus Rechtsgründen abgelehnt. Dieser rechtliche Ausgangspunkt der Beklagten ist unrichtig.
Die Beklagte macht zwar zutreffend geltend, daß das Urteil des erkennenden Senats vom 11. März 1987–10 RKg 2/86 – (SozR 5870 § 2 Nr. 51) nicht präjudiziell ist, weil in dem diesen Urteil zugrunde liegenden Rechtsstreit nur darüber zu entscheiden war, inwiefern der Besuch einer in Italien befindlichen italienischen Ausbildungseinrichtung durch ein in Italien lebendes Kind Berufsausbildung iS des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG sein kann, während hier entscheidungserheblich ist, ob der Besuch einer in Deutschland befindlichen italienischen Ausbildungseinrichtung durch ein in Deutschland lebendes Kind eines italienischen Staatsangehörigen auch dann Berufsausbildung im Sinne der vorgenannten Vorschrift ist, wenn diese Ausbildung nur nach den für Italien geltenden Ausbildungsgrundsätzen erfolgt und einen in Italien anerkannten Ausbildungsabschluß bietet. Das LSG hat allerdings diesen Unterschied nicht verkannt sondern gemeint, die in dem Urteil vom 11. März 1987 entwickelten Rechtsgrundsätze auch auf den hier vorliegenden Sachverhalt anwenden zu können. Dagegen ergeben sich keine Bedenken. Der erkennende Senat (aaO; fortgeführt in dem nicht veröffentlichten Urteil vom 22. November 1988 – 10 RKg 13/87 –) hat als generellen, sowohl für den Kindergeldzuschlag zur Rente als auch für das Kindergeld geltenden Grundsatz herausgestellt, daß bei der Prüfung, ob ein Kind sich in einer Berufsausbildung befunden hat, von den Grundsätzen auszugehen ist, welche die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) – insbesondere auch im Zusammenhang mit § 1262 Abs. 3 und § 1267 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) – zur Auslegung dieses Begriffes entwickelt hat. Für die Ausbildung in Italien hat der erkennende Senat ferner entschieden, daß den Gegebenheiten in Italien Rechnung zu tragen ist, soweit das dortige Berufsbildungswesen Unterschiede zu der in der Bundesrepublik Deutschland praktizierten Ausbildung aufweist. Das gilt, wie das LSG zutreffend hervorgehoben hat, jedoch nicht nur für die in Italien lebenden Kinder, für die deshalb durch Art. 73 Abs. 1 EWG-VO Nr. 1408/71 für die Kindergeldgewährung eine Gleichstellung des Aufenthalts des Kindes mit dem Inlandaufenthalt dadurch erreicht werden soll, daß sich die Qualifikation einer Ausbildung nach dem Berufsausbildungssystem des Wohnstaates richtet. In diesen Fällen genügt es, daß die Ausbildung in Zielsetzung und Charakter der Ausbildung in Deutschland im wesentlichen vergleichbar ist. Deshalb hat der Senat (aaO) eine Ausbildung in Italien, die von staatlicher oder berufsständischer Seite einheitlich und abschließend geregelt ist, als Berufsausbildung im Sinne des BKGG angesehen, sofern in dieser Ausbildung dem Auszubildenden die für die spätere Ausübung dieses Berufes notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden, bei seiner Tätigkeit der Ausbildungszweck im Vordergrund steht und bei der ein Ausbildungsabschluß üblich und im konkreten Falle auch vorgesehen ist.
Entgegen der von der Revision vertretenen Ansicht kann es keinen Unterschied machen, wo diese Ausbildung stattfindet. Denn maßgeblich ist nicht, ob die Ausbildung des Kindes eines EWG-Angehörigen in Deutschland oder im Heimatland stattfindet, sondern allein, ob die Ausbildung die vorgenannten Kriterien erfüllt. Wenn ein in Deutschland lebendes italienisches Kind – etwa wegen nicht ausreichender Sprachkenntnisse – keine Ausbildung mit den deutschen Ausbildungs- und Abschlußerfordernissen betreibt und auch zu seiner Ausbildung nicht in sein Heimatland zurückkehrt, sondern von der Möglichkeit Gebrauch macht, eine in Deutschland befindliche Ausbildungseinrichtung seines Heimatlandes zu besuchen, so findet eine Ausbildung iS des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG statt. Ob das auch für den Besuch anderer als der vom Heimatland in der Bundesrepublik errichteten Ausbildungseinrichtungen gilt, ist hier nicht entscheidungserheblich.
Dementsprechend hat sich das LSG bei der Abgrenzung des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG für den Fall des Klägers auch zu Recht auf die Prüfung beschränkt, ob die Ausbildung, die sein Sohn Patricio in der streitigen Zeit bei der ENAIP durchlaufen hat, Berufsausbildung iS des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG gewesen ist. Dabei kommt es, wie die Revision zutreffend geltend macht, nicht darauf an, ob diese Ausbildung dem im italienischen Recht geregelten Ausbildungsgang entspricht. Das LSG hat deshalb zutreffend allein darauf abgehoben, ob der Besuch des Mechanikerlehrganges bei der ENAIP während der streitigen Zeit Ausbildungscharakter im Sinne des BKGG hatte. Das hat das LSG aufgrund der von ihm festgestellten Tatsachen zutreffend angenommen. Insoweit macht auch die Revision Rechts- oder Subsumtionsfehler des LSG nicht geltend. Es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern – wie die Beklagte meint – die vom LSG gezogene Schlußfolgerung zu einer völligen Aushöhlung des Begriffes der Berufsausbildung in § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG führt.
Demzufolge hätte die Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 21. November 1985 auch für die Vergangenheit nicht mit der alleinigen Begründung ablehnen dürfen, Patricio habe sich in der streitigen Zeit nicht in einer Berufsausbildung iS des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG befunden.
Die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide rechtfertigten indessen noch nicht die – vom SG ausgesprochene und vom LSG bestätigte – Verurteilung der Beklagten zur Leistung. § 20 Abs. 5, 2. Halbsatz BKGG bestimmt abweichend von § 44 Abs. 1 SGB X, daß die Beklagte einen iS des § 44 Abs. 1 SGB X fehlerhaften Bescheid mit Wirkung auch für die Vergangenheit aufheben kann; die Beklagte hatte mithin ihr Ermessen auszuüben, ob sie die im Bescheid vom 21. November 1985 getroffene Entscheidung nicht nur, wie in dem Bescheid vom 21. Februar 1986 erfolgt, für die Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit zurücknehmen wollte.
Da die Beklagte – von ihrem Ausgangspunkt zwingend – keine Ermessenserwägungen angestellt hatte, ist der angefochtene Bescheid, soweit er nicht bereits durch den Bescheid vom 21. Februar 1986 ersetzt worden ist, aufzuheben. Die Beklagte hat nunmehr zu entscheiden, ob sie dem Kläger Kindergeld für Patricio auch für die streitige Zeit zahlt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Hierbei hat der Senat berücksichtigt, daß das Leistungsbegehren des Klägers dem Aufhebungsbegehren nachgeordnet ist und deshalb bei der Kostenentscheidung zurückzutreten hat.
Fundstellen