Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 03.11.1989) |
SG Mainz (Urteil vom 29.11.1988) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 29. November 1988 sowie das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 3. November 1989 insoweit aufgehoben, als die Beklagte verurteilt worden ist, für die Zeit von September 1986 bis einschließlich November 1986 Kindergeld unter Berücksichtigung des Sohnes Wolfgang des Klägers zu zahlen. Insoweit wird die Klage abgewiesen.
Im übrigen wird die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 3. November 1989 zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten im Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger das Kindergeld für die Monate September bis einschließlich November 1986 auch unter Berücksichtigung des Sohnes Wolfgang zusteht.
Der Kläger bezog für seine drei Kinder Kindergeld. Für Wolfgang wurde das Ausbildungskindergeld nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) gezahlt, weil er in der Ausbildung als Maschinenschlosser war. Nachdem Wolfgang ab September 1986 873,– DM Ausbildungsvergütung tarifvertraglich zustand, hob die Beklagte durch den Bescheid vom 4. November 1986 die Bewilligung des Kindergeldes für Wolfgang mit Wirkung vom September 1986 auf. Am 20. Januar 1987 gingen bei der Beklagten Unterlagen des Klägers ein, aus denen sich ergab, daß Wolfgang am 16. Dezember 1986 mit seiner Ausbildungsfirma vereinbart hatte, auf einen Teil der Ausbildungsvergütung zu verzichten. Er erhielt ab September 1986 (weiterhin) eine Ausbildungsvergütung in Höhe von 749,– DM.
Durch den hier angefochtenen Bescheid vom 5. März 1987 lehnte die Beklagte die Gewährung von Kindergeld für die Monate September bis November 1986 mit der Begründung ab, dem Sohne Wolfgang hätten bis zu dem Verzicht auf einen Teil der Ausbildungsvergütung am 16. Dezember 1986 Einkünfte in Höhe von 873,– DM zugestanden, so daß ein Anspruch auf das Kindergeld nach § 2 Abs. 2 BKGG nicht bestanden habe. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte durch ihren Widerspruchsbescheid vom 10. April 1987 zurück. Darin heißt es, der Verzicht des Sohnes auf einen Teil seiner Ausbildungsvergütung wirke sich lediglich für die Zukunft aus. Da der Verzicht erst im Dezember 1986 vereinbart worden sei, stehe dem Träger bis einschließlich November 1986 das Kindergeld unter Berücksichtigung eines dritten Kindes nicht zu.
Das Sozialgericht Mainz (SG) hat durch Urteil vom 29. November 1988 die Bescheide vom 5. März 1987 und 10. April 1987 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Kindergeld für Wolfgang für den Zeitraum von September 1986 bis November 1986 zu zahlen. Das SG hat die Berufung zugelassen.
Durch das hier angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz (LSG) vom 3. November 1989 ist die Berufung der Beklagten zurückgewiesen worden. Das LSG hat die Revision zugelassen. In dem angefochtenen Urteil heißt es, die Beklagte müsse den Verzicht von Wolfgang auf einen Teil der ihm tarifvertraglich zustehenden Ausbildungsvergütung ab September 1986 gegen sich gelten lassen. Dem stehe der Bescheid über die Aufhebung der Kindergeldbewilligung vom 4. November 1986 nicht entgegen. Da Wolfgang für vorangehende Zeiträume auf einen Teil der Ausbildungsvergütung, soweit sie nämlich 749,– DM überstieg, verzichtet habe, sei bei ihm ein entsprechender ernsthafter Wille auch für die Zeit ab September 1986 anzunehmen. In einem solchen Falle müsse die Verzichtserklärung nicht für die Zukunft abgegeben werden. Infolge des Verzichts habe der Kläger für Wolfgang nach § 9 Abs. 2 BKGG rückwirkend für den Zeitraum ab September 1986 Anspruch auf das Kindergeld.
Nach Auffassung der Revision ist der privatrechtliche Verzichtsvertrag zwischen Wolfgang und der Ausbildungsfirma als Vertrag zu Lasten Dritter grundsätzlich unzulässig und unwirksam nach § 134 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Hieran ändere nichts, daß in der Vorschrift des § 46 Abs. 2 des Sozialgesetzbuches – Allgemeiner Teil – (SGB I) die Folgen eines privatrechtlichen Verzichts auf Sozialleistungen nicht erwähnt seien. Auch die Vorschriften des Tarifvertragsgesetzes (TVG) enthielten nach der Überzeugung der Beklagten keinen Erlaubnistatbestand für den vorliegenden Verzicht. Die Regelungen des Tarifvertrages gälten nur für die Parteien des Arbeitsvertrages und könnten in ihrer Wirksamkeit nicht auf Dritte ausgedehnt werden. Jedenfalls müsse die vereinbarte Rückwirkung des Verzichts kindergeldrechtlich ohne Auswirkung bleiben. Es müsse auf die Sachlage im jeweiligen Leistungsmonat abgestellt werden. Infolge des Verzichts sei die Ausbildungsvergütung von Wolfgang im Bezugsmonat nicht gemindert worden. Auch unter dem Gesichtspunkt des Mißbrauchs sei es nicht zu verantworten, den rückwirkend erklärten Verzicht als wirksam anzusehen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 3. November 1989 und des Sozialgerichts Mainz vom 29. November 1988 aufzuheben, soweit es den Anspruch auf Kindergeld für die Zeit von September bis einschließlich November 1986 betrifft, und insoweit die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz –SGG–).
Die Revision der Beklagten ist teilweise begründet, soweit sie zur Zahlung von Kindergeld unter Berücksichtigung von Wolfgang auch für die Monate September bis einschließlich November 1986 verurteilt worden ist. Über das Leistungsbegehren des Klägers können die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht entscheiden, weil die Entscheidung im Ermessen der Beklagten liegt. Insoweit war die Klage abzuweisen. Da jedoch die Beklagte in den hier angefochtenen Bescheiden vom 5. März 1987 und vom 10. April 1987 von dem ihr eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch gemacht hat, war die Revision insoweit zurückzuweisen, als die angefochtenen Bescheide durch die Vorinstanzen aufgehoben worden sind.
Auszugehen ist von dem Bescheid der Beklagten vom 4. November 1986, durch welchen die Bewilligung von Kindergeld für den Sohn Wolf gang des Klägers mit Wirkung vom September 1986 aufgehoben wurde. Dieser Bescheid ist, weil der gegebene Rechtsbehelf nicht eingelegt wurde, in der Sache verbindlich geworden (§ 77 SGG). Die Zurücknahme rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakte richtet sich im Kindergeldrecht entweder nach § 20 Abs. 5 BKGG oder nach § 44 Abs. 2 des Sozialgesetzbuches – Verwaltungsverfahren – (SGB X). § 20 Abs. 5 BKGG ist eine lex specialis für das Kindergeldrecht, welche an die Stelle des § 44 Abs. 1 SGB X tritt. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X betrifft rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte, durch welche ua Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht sind. Durch den fraglichen Bescheid vom 4. November 1986 ist jedoch lediglich die frühere Kindergeldbewilligung aufgehoben worden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist ein solcher Verwaltungsakt kein Bescheid iS von § 44 Abs. 1 SGB X, weil durch ihn ausschließlich eine frühere Bewilligung beseitigt wird (BSG SozR 1300 § 44 Nr. 22). Demgemäß würde sich die Zurücknahme des Bescheides vom 4. November 1986 nach § 44 Abs. 2 SGB X richten. Der Senat kann jedoch offenlassen, ob die Beklagte ihren Bescheid vom 4. November 1986 nach § 20 Abs. 5 BKGG oder gemäß § 44 Abs. 2 SGB X zu überprüfen und ggfs zurückzunehmen hatte. Für den vorliegenden Fall stellen beide Vorschriften dieselben Voraussetzungen auf: der zurückzunehmende Verwaltungsakt muß „nicht begünstigend” und rechtswidrig gewesen sein. Soweit die Zurücknahme für die Vergangenheit zu erfolgen hat, steht sie nach beiden Vorschriften im Ermessen der zuständigen Behörde.
SG und LSG sind im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, daß die Aufhebung der Bewilligung des Kindergeldes durch den Bescheid vom 4. November 1986, durch welche der Kläger nicht begünstigt wurde, rechtswidrig ist. Die Rechtswidrigkeit dieses Bescheides ergibt sich daraus, daß für einen Teil des Anspruchs auf die Ausbildungsvergütung von Wolfgang nachträglich die Rechtsgrundlage beseitigt wurde. Dadurch hatte Wolfgang nur noch einen Anspruch auf eine Ausbildungsvergütung in Höhe von 749,– DM, so daß für ihn ein Anspruch auf Kindergeld ab September 1986 bestand. Die ursprüngliche Bewilligung hätte daher – bei Beachtung der später eingetretenen Rechtslage – nicht aufgehoben werden dürfen.
Der erkennende Senat hat bereits in seinem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 28. Februar 1990 Az.: 10 RKg 15/89 entschieden, daß der Verzicht auf Teile der Ausbildungsvergütung auch bei der Gewährung von Sozialleistungen zu beachten ist. Der Senat hat im einzelnen dargelegt, daß weder eine direkte noch eine analoge Anwendung des § 46 Abs. 2 SGB I in Betracht kommt und daß auch allgemeine Grundsätze des Sozialrechts der getroffenen Vereinbarung nicht entgegenstehen (vgl. hierzu neuerdings Salje, NZA 1990, 299, 302). Der Senat hält an seiner in dem genannten Urteil zum Ausdruck gebrachten Auffassung fest. Sie entspricht, wie in dem Urteil dargelegt wurde, der Rechtsprechung des BSG; durchgreifende Bedenken gegen diese Auffassung sind nicht vorgebracht worden. Tarifvertraglich ist die Verzichtsvereinbarung, so wie sie zwischen Wolfgang und seiner Arbeitgeberin getroffen wurde, ausdrücklich vorgesehen. Sie beruht auf § 3 des Tarifvertrages zwischen dem Arbeitgeberverband der Hessischen Metallindustrie e.V., Frankfurt am Main, und der Industriegewerkschaft Metall für die Bundesrepublik Deutschland, Bezirksleitung Frankfurt am Main vom 16. Mai 1986, welche am 1. April 1986 in Kraft getreten ist. Die Vorschrift hat folgenden Wortlaut: „Zur Erreichung günstiger Grenzen der Lohnsteuer bzw. der Beiträge zur Sozialversicherung sowie zur Vermeidung der Kürzung von Bezügen von seiten Dritter, können die Parteien des Ausbildungsvertrages auf Wunsch des Auszubildenden Vereinbarungen treffen, in denen auf Spitzenbeträge der Bezüge verzichtet wird. Derartige Vereinbarungen bedürfen der Schriftform.” Eine derartige Tarif Vereinbarung entspricht der Vorschrift des § 4 Abs. 3 TVG. Danach ist eine vom Tarifvertrag abweichende Abmachung zu Ungunsten des Arbeitnehmers erlaubt, wenn sie durch Tarifvertrag gestattet ist. Diese Gestattung beinhaltet § 3 des genannten Tarifvertrages vom 16. Mai 1986.
Ohne jeden Zweifel, und hiervon geht im Grunde auch die Beklagte aus, ist demgemäß der Verzicht von Wolfgang auf einen Teil der ihm zustehenden Ausbildungsvergütung vom 16. Dezember 1986 wirksam. Auch die Tatsache, daß der Erlaßvertrag vom 16. Dezember 1986 auf die Ausbildungsvergütung ab September 1986 zurückwirkte, macht ihn nicht unwirksam. Denn auch insofern liegt er im Rahmen dessen, was durch die gesetzliche Regelung des § 4 Abs. 3 TVG iVm dem Tarifvertrag vom 16. Mai 1986 zulässig ist. Daß nach der tariflichen Regelung nicht nur Verzichtsvereinbarungen für die Zukunft geschlossen werden durften, ergibt sich bereits daraus, daß die Vereinbarung vom 16. Mai 1986 rückwirkend ab 1. April 1986 in Kraft getreten ist. An der Vereinbarkeit dieser Regelung mit § 4 Abs. 3 TVG bestehen keine Bedenken.
Nach alledem liegt der am 16. Dezember 1986 durch den Sohn Wolfgang des Klägers vereinbarte Verzicht auf einen Teil seiner Ausbildungsvergütung im Rahmen dessen, was gesetzlich erlaubt ist. Es ist deshalb nicht erkennbar, aus welchen tatsächlichen oder rechtlichen Erwägungen heraus im vorliegenden Falle ein Mißbrauch kindergeldrechtlicher Regelungen durch Ausnutzung zivilrechtlich gegebener Möglichkeiten vorliegen sollte. Angesichts der Einheit der Rechtsordnung und der hier gegebenen gesetzlichen (§ 4 Abs. 3 TVG) und tarifvertraglichen Möglichkeiten kann von einer Manipulation sozialrechtlicher Leistungen nicht gesprochen werden. Infolge der zulässigen und auch sozialrechtlich wirksamen Vereinbarung von Wolfgang mit seiner Arbeitgeberin vom 16. Dezember 1986 ist der Gewährung einer höheren Ausbildungsvergütung als einer solchen von 749,– DM mit Wirkung vom 1. September 1986 die Grundlage entzogen worden. Die Rechtslage ist daher so zu beurteilen, als hätte Wolfgang vom 1. September 1986 an nur eine Ausbildungsvergütung in Höhe von 749,– DM zu beanspruchen gehabt.
Der für den Kläger ungünstige Aufhebungsbescheid vom 4. November 1986 war demgemäß rechtswidrig. Seine Aufhebung richtet sich, wie oben bereits näher ausgeführt worden ist, entweder nach § 44 Abs. 2 SGB X oder nach § 20 Abs. 5 BKGG. Die Zurücknahme des belastenden Bescheides betraf einen abgelaufenen Zeitraum, also die Vergangenheit. Aus diesem Grunde hatte die Beklagte bei ihrer Entscheidung über die Zurücknahme des Bescheides vom 4. November 1986 eine Ermessensentscheidung zu treffen. Dies wird durch die Verwendung des Wortes „kann” in beiden genannten Vorschriften zum Ausdruck gebracht. Während die Zurücknahme rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakte für die Zukunft bindend vorgeschrieben ist, hat der Gesetzgeber für solche Zurücknahmebescheide, welche die Vergangenheit betreffen, die Entscheidung in das Ermessen der Behörde gelegt. Die Beklagte hat von diesem Ermessen keinen Gebrauch gemacht. Sie ist vielmehr davon ausgegangen, daß der Bescheid vom 4. November 1986 rechtmäßig war. Aus diesem Grunde sind die angefochtenen Bescheide vom 5. März 1987 und vom 10. April 1987 rechtswidrig. SG und LSG sind hiervon zu Recht ausgegangen und haben diese Bescheide zutreffend aufgehoben.
Die Revision der Beklagten mußte insofern Erfolg haben, als sie zur Zahlung des Kindergeldes für Wolfgang verurteilt worden ist. Ob diese Zahlung zu erfolgen hat, wird sie auf den vorliegenden Antrag des Klägers entsprechend dem ihr eingeräumten Ermessen zu entscheiden haben. Dieser Ermessensentscheidung dürfen die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht vorgreifen.
Nach alledem war die Klage, soweit sie auf die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Kindergeld gerichtet ist, abzuweisen. Bezüglich der Aufhebung der angefochtenen Bescheide ist die Revision unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Hierbei hat der Senat berücksichtigt, daß das Leistungsbegehren des Klägers dem Aufhebungsbegehren nachgeordnet ist und deshalb bei der Kostenentscheidung zurückzutreten hat.
Fundstellen