Beteiligte
Klägerin und Revisionsklägerin |
Beklagter und Revisionsbeklagter |
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten um die Höhe des für die Hinterbliebenenentschädigung maßgebenden Jahresarbeitsverdienstes (JAV).
Die Klägerin ist die Witwe des im Jahre 1950 geborenen und am 23. Juni 1988 an den Folgen eines Arbeitsunfalls vom 22. Juni 1988 verstorbenen Hassan-Ali R. (Versicherter). Aus der Ehe ist die am 7. Februar 1986 geborene Tochter N. hervorgegangen. Der Versicherte war iranischer Staatsbürger und hatte in Mainz Medizin studiert. Nach dem Ersten und Zweiten Abschnitt bestand er am 19. November 1985 den Dritten Abschnitt der ärztlichen Prüfung vor dem Landesprüfungsamt für Studierende der Medizin und der Pharmazie bei dem Ministerium für Umwelt und Gesundheit Rheinland-Pfalz mit den Noten ausreichend (schriftlicher Teil) und befriedigend (mündlicher Teil). Als Arzt durfte der Versicherte nicht arbeiten, da ihm als iranischer Staatsbürger die Approbation nicht erteilt werden konnte und ihm ohne Anerkennung als Asylberechtigter auch die vorübergehende Ausübung des ärztlichen Berufs nicht erlaubt war. Mit Bescheid vom 28. März 1988 wurden er und die Klägerin als Asylberechtigte anerkannt. Dieser Bescheid ist jedoch erst im August 1988 - mithin etwa zwei Monate nach dem Tode des Versicherten - unanfechtbar geworden. Vor dem Unfall verrichtete er Aushilfstätigkeiten überwiegend im Pflegedienst in Krankenhäusern. Er erzielte damit bei monatlichen Einkünften zwischen 150,00 DM und 2.525,57 DM insgesamt einen Verdienst von 9.241,05 DM im Jahr vor dem Unfall. Zuletzt war er als Zweitnachtwache im pflegerischen Stationsdienst im Kreiskrankenhaus B. Sch. beschäftigt. Zum Unfallzeitpunkt war er zum Zweck der Promotion eingeschriebener Student der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Der Beklagte gewährte Witwenrente und Halbwaisenrente (Bescheide vom 23. Januar 1989, Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 1989). Die Höhe der Renten berechnete er nach dem Mindest-JAV (§ 575 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung RVO ).
Die gegen die Rentenberechnung gerichtete Klage hat vor dem Sozialgericht (SG) Mainz und dem Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz keinen Erfolg gehabt (Urteile vom 9. Februar 1990 und 29. August 1990). Das LSG hat ausgeführt, das Begehren der Klägerin, den JAV zur Berechnung der Witwenrente zu erhöhen, erweise sich als nicht gerechtfertigt. Die Anwendung des § 573 RVO scheide aus, weil sich der Versicherte zum Zeitpunkt des Unfalls nicht mehr in einer Schul- oder Berufsausbildung befunden habe. Die ärztliche Ausbildung ende mit der Ablegung der letzten notwendigen Prüfung. Dazu gehöre weder die Approbation oder die Erlaubnis zur vorübergehenden Ausübung des ärztlichen Berufs noch das Promotionsstudium. Der nach den §§ 571 bis 576 RVO berechnete JAV sei auch nicht in erheblichem Maße unbillig (§ 577 RVO). Der Versicherte habe zwar den Dritten Abschnitt der ärztlichen Prüfung bestanden, zum Unfallzeitpunkt sei er aber nicht als Arzt tätig gewesen und habe dementsprechend im letzten Jahr vor dem Unfall auch nicht das Einkommen eines Arztes bezogen. Das Vorbringen der Klägerin, der Versicherte hätte nach Anerkennung als Asylberechtiger einen Antrag auf Erteilung einer Erlaubnis zur vorübergehenden Ausübung des ärztlichen Berufs stellen können, sei unbeachtlich. Gegen den Anerkennungsbescheid seien Rechtsmittel eingelegt worden, so daß der Versicherte nicht davon habe ausgehen können, alsbald als Arzt tätig zu sein. Es sei völlig ungewiß gewesen, wann und mit welchem Ergebnis das Verfahren enden würde. Der Einfluß und die Dauer des Asylverfahrens bedeuteten keine Unbilligkeit. Asylanten wüßten, daß sie während der Zeit des Asylverfahrens geminderte Rechte hätten. Auf die Dauer des Asylverfahrens - einschließlich der Verzögerung durch Einlegung eines Rechtsmittels - hätten sich Asylbewerber einzustellen. Da es sich bei der letzten Tätigkeit des Versicherten im Kreiskrankenhaus B. Sch. lediglich um eine kurzfristige Aushilfstätigkeit als Zweitnachtwache gehandelt habe, könne der Verdienst dieser am 18. Mai 1988 aufgenommenen Tätigkeit ebenfalls nicht die Grundlage für die Berechnung des JAV sein. Eine längerfristige Weiterbeschäftigung sei von den Vertragsparteien nicht beabsichtigt gewesen. Die Zugrundelegung des Mindest-JAV für die Berechnung der Rentenhöhe sei daher nicht in erheblichem Maße unbillig; eine Feststellung des JAV nach § 577 RVO komme deshalb nicht in Betracht.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 573 und 577 RVO. Der Versicherte habe sich zum Unfallzeitpunkt noch in beruflicher Ausbildung befunden, welche erst mit der Approbation oder der Erlaubnis zur Ausübung des ärztlichen Berufs abgeschlossen sei. Dies ergebe sich auch aus dem Umstand, daß die Dissertation - Fachrichtung klinische Strahlenkunde - zum Unfallzeitpunkt noch nicht abgeschlossen und der Versicherte mit dem Studienziel Promotion weiterhin immatrikuliert gewesen sei. Zur Berechnung des Jahrearbeitsverdienstes sei daher entgegen der Ansicht des LSG zumindest bis zum Beginn der Tätigkeit als Pfleger im Kreiskrankenhaus B. Sch. § 573 RVO heranzuziehen, da dadurch Härten für Versicherte ausgeglichen würden, welche durch Arbeitsunfall zu Schaden kämen, bevor sie die mit ihrer beruflichen Ausbildung erstrebte Erwerbsstellung erreicht hätten. Des weiteren sei für den anschließenden Zeitraum die Anwendung des § 577 RVO geboten. Der Versicherte sei bereits vor dem Arbeitsunfall als Asylberechtigter anerkannt worden. Lediglich durch Einlegung eines Rechtsmittels durch die Gegenseite sei der Anerkennungsbescheid erst nach dem Tode des Versicherten unanfechtbar geworden. Auf die Einlegung des Rechtsmittels und die Dauer des anschließenden Verfahrens habe der Versicherte keinerlei Einfluß nehmen können. Der Versicherte habe ab Beginn der Tätigkeit als Pfleger wirtschaftlich und sozial gesehen einen anderen Lebensstandard erreicht, als er ihn bisher als Student mit Gelegenheitsarbeiten innegehabt habe. Bis zur endgültigen Anerkennung als Asylberechtigter habe sich der Versicherte auf die Tätigkeit als Pfleger eingerichtet. Zur Berechnung des JAV müsse daher zumindest das zuletzt bezogene Entgelt zugrunde gelegt werden.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, die angefochtenen Urteile aufzuheben und unter Abänderung der angefochtenen Bescheide den Beklagten zu verurteilen, der Rentenberechnung einen höheren Jahresarbeitsverdienst zugrunde zu legen.
Der Beklagte beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ergänzend vor, daß der Versicherte seine ärztliche Ausbildung vor dem Unfall abgeschlossen habe und daher für die Anwendung des § 573 RVO kein Raum sei. Im Rahmen des § 577 RVO komme es allein auf die tatsächliche Entwicklung der Einkommensverhältnisse des Versicherten an. Berücksichtige man diese, so sei festzustellen, daß weder im Status (Aushilfstätigkeiten) noch hinsichtlich der Höhe der erzielten Vergütungen im maßgeblichen Zeitraum Veränderungen im Sinne von § 577 RVO eingetreten seien.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Klägerin ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die vom LSG ermittelten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.
Die der Klägerin von dem Beklagten gewährte Witwenrente gehört ebenso wie die Halbwaisenrente für das Kind Negar zu den Leistungen in Geld, die nach dem JAV berechnet werden (§ 590 Abs. 2, § 595 Abs. 1, § 570 RVO). Da die Klägerin zumindest sinngemäß stets beantragt hat, der Rentenberechnung einen höheren JAV zugrunde zu legen, hat sie insoweit sowohl den Witwenrentenbescheid vom 23. Januar 1989 als auch den Bescheid über die (Halb-) Waisenrente vom selben Tage angefochten und so zum Streitgegenstand gemacht, obwohl sie den Bescheid über die Waisenrente in ihrem Antrag in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG nicht mehr erwähnt.
Für die Berechnung des JAV finden die §§ 571 bis 578 RVO Anwendung. Nach § 571 Abs. 1 Satz 1 RVO gilt der Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen (§§ 14, 15 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - SGB IV ) des Verletzten im Jahre vor dem Arbeitsunfall als JAV. Für Zeiten, in denen er im Jahre vor dem Arbeitsunfall kein Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen bezog, wird das Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen zugrunde gelegt, das durch eine Tätigkeit erzielt wird, die der letzten Tätigkeit des Verletzten vor dieser Tätigkeit entspricht (§ 571 Abs. 1 Satz 2 RVO). Befand sich der Verletzte zur Zeit des Arbeitsunfalls noch in einer Schul- oder Berufsausbildung, so wird nach § 573 Abs. 1 Satz 1 RVO, wenn es für den Berechtigten günstiger ist, der JAV für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung neu berechnet. Dieser Berechnung ist das Entgelt zugrunde zu legen, das in diesem Zeitpunkt für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarifvertrag festgesetzt oder sonst ortsüblich ist. Erreicht der so errechnete JAV nicht die in § 575 Abs. 1 RVO festgesetzte Mindesthöhe, muß der JAV nach dieser Vorschrift festgesetzt werden. Ist der JAV in erheblichem Maße unbillig, so ist er in Anwendung von § 577 Satz 1 RVO nach billigem Ermessen bis zum Höchst-JAV des § 575 Abs. 2 RVO oder der Satzung des Trägers der Unfallversicherung festzustellen (vgl. BSG SozR 2200 § 577 Nr. 11).
Nach den Feststellungen des LSG hat der Versicherte im Jahr vor dem Arbeitsunfall Arbeitsentgelt in Höhe von 9.241,05 DM aus Aushilfstätigkeiten erzielt (monatlich zwischen 150,00 DM und 2.525,57 DM). Zwar setzt die Anwendung von § 571 Abs. 1 Satz 1 RVO voraus, daß der Verletzte während des Jahres vor dem Arbeitsunfall ununterbrochen Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen bezogen hat (BSGE 51, 178, 180 m.w.N. aus Rspr und Schrifttum; vgl. auch Urteil des Bundessozialgerichts BSG vom 19. Mai 1983 - 2 RU 62/82 - in HVGGB RdSchr 82/83). Insoweit hat das LSG Feststellungen nicht getroffen. Dies kann aber in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, da auch bei der uU gebotenen Anwendung des § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO der Mindest-JAV nach § 575 Abs. 1 Nr. 1 RVO - den der Beklagte der Rentenberechnung zugrunde gelegt hat - angesichts der vom Versicherten verrichteten Aushilfstätigkeiten nicht erreicht würde.
Zutreffend hat das LSG die Berechnung des JAV nach § 573 Abs. 1 RVO abgelehnt. Die Ausbildung des Versicherten war zum Unfallzeitpunkt schon beendet. Er hatte bereits am 19. November 1985 den Dritten Abschnitt der ärztlichen Prüfung bestanden. Nach der Approbationsordnung für Ärzte in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. April 1979 (BGBl. I 425, 609), geändert durch die Verordnungen vom 15. Juli 1981 (BGBl. I 660) - 3. Änderungs-Verordnung - und vom 19. Dezember 1983 (BGBl. I 1482) - 4. Änderungs-Verordnung -, war die ärztliche Ausbildung nach Bestehen des Dritten Abschnitts der ärztlichen Prüfung abgeschlossen (§ 1 Approbationsordnung für Ärzte -ÄAppO- aF). Erst durch die 5. Verordnung zur Änderung der ÄAppO aufgrund Art 2 des 4. Gesetzes zur Änderung der Bundesärzteordnung (BÄO) vom 14. März 1985 (- BGBl. I 555 - i.d.F. des Gesetzes vom 27. Januar 1987, BGBl. I 481) wurde die Tätigkeit als Arzt im Praktikum Bestandteil der ärztlichen Ausbildung (5. Änderungsverordnung vom 15. Dezember 1986 - BGBl. I 2457). Art 2 § 1 der 5. Änderungsverordnung bestimmt, daß Studierende der Medizin, die bis zum 30. Juni 1987 die ärztliche Prüfung erfolgreich ablegen, die ärztliche Ausbildung mit dieser Prüfung abschließen. Daraus folgt, daß der Versicherte seine ärztliche Ausbildung im November 1985 abgeschlossen hatte. Die Approbation nach § 3 BÄO i.d.F. vom 16. April 1987 (BGBl. I 1218) oder die Erlaubnis zur vorübergehenden Ausübung des ärztlichen Berufs nach § 10 BÄO sind nicht Bestandteil der ärztlichen Ausbildung; sie setzen vielmehr u.a. gerade den erfolgreichen Abschluß der ärztlichen Ausbildung voraus (vgl. § 3 Abs. 1 Nrn. 4 und 5, § 10 Abs. 1 BÄO). Bereits der 8. Senat des BSG geht im Urteil vom 24. August 1976 (BSGE 42, 163, 171) davon aus, daß sich eine Ärztin nach Beendigung der damals erforderlichen Tätigkeit als Medizinalassistentin, aber noch vor Erlangen der Approbation, nicht mehr in Berufsausbildung befand. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den von der Revision herangezogenen Entscheidungen des BSG vom 27. April 1960 und 31. Januar 1961 (BSGE 12, 109; BSGE 14, 5). Dort ist vielmehr entschieden, daß sich ein Arzt in Facharztausbildung oder während der Vorbereitung zur Kassenarztzulassung nach der Approbation nicht mehr in Berufsausbildung iSv § 565 RVO a.F. befindet. Über die Verhältnisse vor der Approbation kann daraus nichts geschlossen werden.
Da es sich sowohl bei der Facharztausbildung als auch bei dem Weiterstudium zum Zwecke der Promotion nicht um Elemente der beruflichen Ausbildung, sondern um die berufliche Weiterbildung handelt, kommt auch aus diesen Gesichtspunkten eine Anwendung von § 573 Abs. 1 RVO nicht in Betracht. Bereits in seiner Rechtsprechung zu § 565 RVO a.F. hat das BSG die berufliche Weiterbildung nicht der Berufsausbildung zugerechnet (BSGE 18, 136). Der Gesetzgeber hat diese Vorschrift insoweit durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl. I 241) trotz Kenntnis dieser Rechtsprechung nicht geändert. Es ist daher weiter davon auszugehen, daß die berufliche Weiterbildung nicht zur Berufsausbildung i.S. des § 573 Abs. 1 RVO zählt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl., S. 575d; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm. 3 Buchst b zu § 573).
Entsprechend dem Begehren der Klägerin, einen höheren JAV als den Mindest-JAV nach § 575 Abs. 1 Nr. 1 RVO der Rentenberechnung zugrunde zu legen, hat das LSG zu Recht geprüft, ob der von dem Beklagten zugrunde gelegte JAV unbillig i.S. von § 577 RVO ist. Nach dieser Vorschrift hat der Beklagte, wenn der nach den §§ 571 bis 576 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist, diesen im Rahmen des § 575 RVO nach billigem Ermessen festzustellen. Hierbei ist außer den Fähigkeiten, der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls oder, soweit er nicht gegen Entgelt tätig war, eine gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen. Damit soll erreicht werden, daß der Verletzte und seine Hinterbliebenen durch den Unfall nicht in dem erreichten Lebensstandard beeinträchtigt werden. Das folgt schon aus den Grundsätzen der Berechnung des JAV in § 571 RVO, woraus sich ergibt, daß der Gesetzgeber mit dem JAV das Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen des letzten Jahres vor dem Arbeitsunfall unter Ausschluß von Bezugslücken als die den Lebensstandard des Verletzten bestimmende Größe zu erfassen sucht. Auch die Anpassungsregelung des § 573 RVO mit ihrem Schutz des durch Ausbildung angestrebten und ohne den Unfall wahrscheinlich erreichten Lebensstandards läßt diese Funktion des JAV erkennen. Erhebliche Unbilligkeiten können sich insoweit aber auch dann noch ergeben, wenn der Verletzte im letzten Jahr vor dem Unfall zwar nicht Zeiten ohne Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen, wohl aber Zeiten aufzuweisen hat, in denen sein Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen in erheblichem Maße hinter dem Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zurückgeblieben ist, das ihm zur Zeit des Arbeitsunfalls aus seiner Erwerbstätigkeit anfiel oder unter Berücksichtigung seiner Beschäftigung oder Tätigkeit, seiner Fähigkeiten, seiner Ausbildung und seiner Lebensstellung zu erwarten war (BSG SozR 2200 § 577 Nr. 9). Aus diesen Grundsätzen folgt, daß § 577 RVO auch auf einen - wie im vorliegenden Fall -nach § 575 RVO festgestellten JAV Anwendung finden kann (vgl. Urteil des BSG vom 24. April 1975 - 8 RU 36/74 -; SozR 2200 § 571 Nr. 10 zu § 575 Abs. 1 RVO in der bis zum 30. Juni 1977 geltenden Fassung; Brackmann a.a.O. S. 576g; Lauterbach/Watermann a.a.O., Anm. 5 zu § 571).
Die Wertung, daß ein nach den §§ 571 bis 576 RVO berechneter JAV in erheblichem Maße unbillig zu niedrig oder zu hoch ist, kann das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles selbst vollziehen, weil der Unfallversicherungsträger insoweit nicht nach seinem Ermessen entscheidet und auch keinen von den Gerichten nur beschränkt nachprüfbaren Beurteilungsspielraum hat (BSGE 32, 169, 173; SozR 2200 § 571 Nr. 21; Brackmann a.a.O., S. 576k, 577 mwN; Lauterbach/Watermann, a.a.O., m.w.N.). Erst wenn die in erheblichem Maße bestehende Unbilligkeit feststeht, hat der Unfallversicherungsträger eine Ermessensentscheidung hinsichtlich der Höhe des JAV zu treffen, die nur im Rahmen des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gerichtlich nachprüfbar ist (Brackmann, a.a.O., S. 577 mwN; Lauterbach/Watermann, a.a.O., Anm. 5 zu § 577).
Für die Annahme, daß der im vorliegenden Fall nach § 575 Abs. 1 Nr. 1 RVO festgestellte JAV in erheblichem Maße unbillig niedrig ist, ergeben sich nach den getroffenen Feststellungen entgegen der Ansicht des LSG erhebliche Anhaltspunkte. Zwar hat das LSG insoweit zu Recht die vom Versicherten zuletzt ausgeübte Tätigkeit im Kreiskrankenhaus B. Sch. unberücksichtigt gelassen, da diese Tätigkeit nur vom 16. Mai bis 22. Juni 1988 verrichtet worden ist. Der 8. Senat des BSG hat bereits im Urteil vom 11. Oktober 1973 (- 8/2 RU 199/72 - Lauterbach/Watermann, Unfallversicherungsrecht-Kartei, § 577 Nr. 9289) entschieden, daß eine fünfwöchige höherbezahlte Tätigkeit nicht die Voraussetzungen für die Anwendung des § 577 RVO erfüllt und kurzzeitige Einkommenslagen für den JAV nicht bestimmend sind.
Der Versicherte hatte jedoch im November 1985 den Dritten Abschnitt der ärztlichen Prüfung bestanden. Seine ärztliche Ausbildung war damit - wie dargelegt - abgeschlossen. Der Erlaubnis zur vorübergehenden Ausübung des ärztlichen Berufs stand nach Auskunft des Landesamtes für Jugend und Soziales Rheinland-Pfalz (Sitzungsniederschrift des SG vom 9. Februar 1990) die fehlende Anerkennung als Asylberechtigter entgegen. Drei Monate vor dem tödlichen Unfall, nämlich mit Bescheid vom 28. März 1988, erkannte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Versicherten als Asylberechtigten an. Infolge der Einlegung eines Rechtsmittels ist diese Anerkennung erst etwa zwei Monate nach dem Unfall unanfechtbar geworden. Wäre der Versicherte nach der Anerkennung am 28. März 1988 als Arzt tätig geworden und hätte er als solcher am 22. Juni 1988 den Arbeitsunfall erlitten, wäre nach der Rechtsprechung des BSG (SozR 2200 § 577 Nr. 9; Urteil vom 11. Oktober 1973 - 8/2 RU 199/72 - a.a.O.) die Zugrundelegung des Mindestarbeitsverdienstes zur JAV-Berechnung in erheblichem Maße unbillig. Denn nach der Zielvorstellung des Gesetzgebers (BT-Drucks. IV/120 S. 57 zu §§ 570 bis 578, Begründung zum Entwurf des UVNG vom 30. April 1963 - BGBl. I 241 -; S. auch BSGE 28, 274, 276; 44, 12, 14; 51, 178, 180; Brackmann a.a.O. S. 576h) soll das als unbillig empfundene Ergebnis vermieden werden, ein aus besonderen Gründen vorübergehend niedriges, der normalen Lebenshaltung des Verletzten nicht entsprechendes Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen als JAV bei der Rentenberechnung zugrunde zu legen und zum Maßstab für die gesamte Laufzeit der Rente zu machen. Solche besonderen, den vorliegenden Einzelfall kennzeichnenden Gründe - nämlich das noch nicht abgeschlossene Asylverfahren und der damit verbundene Zwang, den Lebensunterhalt seiner Familie nicht seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechend als Arzt, sondern mit Aushilfstätigkeiten zu bestreiten - wären dann Ursache für ein vorübergehend niedriges, der für einen in der Bundesrepublik Deutschland erwerbstätigen Arzt typischen normalen Lebenshaltung des Versicherten nicht entsprechendes Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen gewesen. Denn im Rahmen des § 577 RVO sind nicht nur die Erwerbstätigkeit des Verletzten zur Zeit des Arbeitsunfalls, sondern auch seine Fähigkeiten und seine Ausbildung zu berücksichtigen. Diese Grundsätze haben nach der angegebenen Entscheidung des 8. Senats des BSG vom 11. Oktober 1973 (a.a.O.) jedenfalls dann zu gelten, wenn der Versicherte nicht nur kurze Zeit vor dem Unfall eine höher vergütete Tätigkeit verrichtet hätte. Der 8. Senat hat insoweit unter Hinweis auf sein Urteil vom selben Tage (BSGE 36, 209) eine nur fünfwöchige Tätigkeit als Ingenieur für nicht ausreichend angesehen. Wenn die vom SG eingeholte Auskunft zutrifft, hätte der Versicherte im vorliegenden Fall ca zwei Wochen nach der Anerkennung als Asylberechtigter mit der Erlaubnis nach § 10 der ÄAppO rechnen können. Ausgehend von dem Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 28. März 1988 hätte es dem Versicherten somit gelingen können, für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten als Arzt zu arbeiten. Nach der Entscheidung des BSG vom 29. Oktober 1981 (SozR 2200 § 577 Nr. 9) reicht jedenfalls eine höhervergütete Tätigkeit von knapp zwei Monaten für die Anwendung des § 577 RVO aus.
Zur Überzeugung des Senats kann nichts anderes gelten, wenn der Versicherte nur deshalb an der Ausübung des ärztlichen Berufs gehindert war, weil gegen die Anerkennung als Asylberechtigter Rechtsmittel nach § 5 Abs. 2 Satz 3 AsylVfG eingelegt worden sind, und deshalb die Anerkennung erst nach dem Unfall des Versicherten unanfechtbar geworden ist. Diese Besonderheiten können unter Berücksichtigung des Art 16 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) entgegen der Auffassung des LSG geeignet sein, den der JAV-Berechnung zugrunde gelegten Mindestarbeitsverdienst als in erheblichem Maße unbillig erscheinen zu lassen. Besondere Gründe (vgl. BT-Drucks. a.a.O.) haben dann nämlich dazu geführt, daß der Versicherte seinen Beruf nicht ausüben konnte und Aushilfstätigkeiten verrichten mußte. Der Senat verkennt nicht, daß hiermit im Rahmen des § 577 RVO auf ein Arbeitsentgelt bzw. Arbeitseinkommen abgestellt wird, das der Versicherte im maßgeblichen Zeitraum tatsächlich nicht erzielt hat. Die extremen Besonderheiten im vorliegenden Fall, vor allem daß der Versicherte bereits vor dem Arbeitsunfall als Asylberechtigter anerkannt war, diese Entscheidung aber erst nach dem tödlichen Arbeitsunfall unanfechtbar geworden ist, und - was noch festzustellen sein wird - der Versicherte nur deshalb den ärztlichen Beruf nicht ausüben konnte, rechtfertigen indessen die Berücksichtigung des Arbeitsentgelts bzw. Arbeitseinkommens eines Arztes nach Beendigung seiner Ausbildung. Denn hier ist insbesondere zu berücksichtigen, daß einerseits § 573 Abs. 1 RVO wegen Beendigung der Ausbildung nicht mehr anwendbar ist, aber andererseits die der Ausbildung folgende Erwerbstätigkeit eines Arztes wegen der besonderen Umstände des vorliegenden Falles noch nicht ausgeübt werden durfte. Der Maßstab des § 577 Satz 2 RVO ist nur beispielhaft und läßt je nach Umständen des Einzelfalls und den Gründen der Unbilligkeit auch weitere Gesichtspunkte zu. Entscheidend ist, daß die anderweitige Feststellung den auf Dauer bereits begründeten tatsächlichen Einkommensverhältnissen möglichst nahe kommt (KassKomm-Ricke, § 577 RVO Rdnr. 8).
Von seinem Standpunkt aus zu Recht hat das LSG nicht geprüft, ob der Versicherte - wenn der Anerkennungsbescheid vom 28. März 1988 nicht angefochten worden wäre - wahrscheinlich nicht nur für kurze Zeit als Arzt tätig gewesen wäre und damit wahrscheinlich ein im Vergleich zum Mindestarbeitsverdienst höheres Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erzielt hätte. Das LSG hat diese Feststellungen nachzuholen. Dabei kommt es insbesondere darauf an, ob der Versicherte - abgesehen von der Asylgewährung - die sonstigen tatsächlichen Voraussetzungen für die Erlaubnis nach § 10 ÄAppO erfüllt hätte und es ihm unter Berücksichtigung des Ergebnisses seiner ärztlichen Prüfung, des Arbeitsmarktes und seines bisher gezeigten Interesses am Arztberuf wahrscheinlich gelungen wäre, nicht nur für kurze Zeit als Arzt zu arbeiten und mit dieser Tätigkeit den Lebensunterhalt seiner Familie zu bestreiten. Aufgrund dieser Feststellungen ist dann unter Beachtung der dargelegten Grundsätze darüber zu entscheiden, ob der von dem Beklagten der Rentenberechnung zugrunde gelegte JAV im Vergleich zu dem vom Versicherten erreichbaren Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen in erheblichem Maße unbillig erscheint. Entsprechendes gilt, falls das LSG aufgrund seiner erneuten Prüfung zu dem Ergebnis gelangen sollte, daß der Versicherte nach der Anerkennung als Asylberechtigter zwar nicht den Beruf eines Arztes, aber den eines Krankenpflegers ausgeübt hätte.
Da das Revisionsgericht die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, war das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen