EuGH, Urteile v. 9.3.2021, C-344/19 und C-580/19
Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft nur dann in vollem Umfang "Arbeitszeit" im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn eine Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalls, zu denen die Folgen einer Zeitvorgabe und ggf. die durchschnittliche Häufigkeit von Einsätzen während der Bereitschaftszeit gehören, ergibt, dass die dem Arbeitnehmer während der Bereitschaftszeit auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass sie seine Möglichkeiten, die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen wird, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen.
Sachverhalt
Die Rechtssache C-344/19 betraf eine Vorlagefrage aus Slowenien. Ein spezialisierter Techniker war damit betraut, während mehrerer aufeinanderfolgender Tage den Betrieb von Fernsehsendeanlagen in den slowenischen Bergen sicherzustellen. Er leistete hierbei neben seinen 12 Stunden regulärer Arbeitszeit täglich noch 6 Stunden Bereitschaftsdienst in Form von Rufbereitschaft, während der er zwar nicht verpflichtet war, in der betreffenden Sendeanlage zu bleiben, jedoch telefonisch erreichbar sowie in der Lage sein musste, ggf. innerhalb einer Stunde dorthin zurückzukehren. In Anbetracht der geografischen Lage der schwer zugänglichen Sendeanlagen war er hierdurch praktisch gezwungen, sich während seiner Bereitschaftsdienste ohne große Freizeitmöglichkeiten in einer von seiner Arbeitgeberin zur Verfügung gestellten Dienstunterkunft aufzuhalten.
Die Rechtssache C-580/19 betraf einen Beamten in der Stadt Offenbach am Main, der dort als Feuerwehrmann tätig war. Auch er musste neben seiner regulären Dienstzeit regelmäßig Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft leisten, während der er zwar ebenfalls nicht verpflichtet war, sich an einem von seinem Arbeitgeber bestimmten Ort aufzuhalten, jedoch erreichbar und in der Lage sein musste, im Alarmfall innerhalb von 20 Minuten in seiner Einsatzkleidung und mit dem ihm zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug die Stadtgrenzen zu erreichen.
Die beiden Betroffenen waren der Ansicht, dass ihre in Form von Rufbereitschaft geleisteten Bereitschaftszeiten aufgrund der mit ihnen verbundenen Einschränkungen in vollem Umfang als Arbeitszeit anzuerkennen und entsprechend zu vergüten seien, unabhängig davon, ob sie während dieser Zeiten tatsächlich tätig waren. Sie klagten vor den jeweiligen nationalen Gerichten. Diese legten dem EuGH die Vorfrage vor, inwieweit Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft als Arbeitszeit oder als Ruhezeit i. S. d. Richtlinie 2003/881 einzustufen seien.
Die Entscheidung
Der EuGH entschied, dass die Bereitschaftszeit eines Arbeitnehmers entweder als Arbeitszeit oder als Ruhezeit i. S. d. Richtlinie 2003/88/EG einzustufen sei, da beide Begriffe einander ausschließen. Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft stelle nur dann in vollem Umfang Arbeitszeit i. S. d. Richtlinie dar, wenn die dem Arbeitnehmer auferlegten Einschränkungen seine Möglichkeit, während dieser Zeit seine Freizeit zu gestalten, ganz erheblich beeinträchtigen. Umgekehrt sei, wenn es keine solchen Einschränkungen gebe, nur die Zeit als Arbeitszeit anzusehen, die mit der ggf. tatsächlich während solcher Bereitschaftszeiten erbrachten Arbeitsleistung verbunden sei.
Für die konkrete Abgrenzung von Ruhezeit und Arbeitszeit komme es maßgeblich auf die tatsächlichen Einschränkungen während der Bereitschaft an. Bei der Beurteilung dürften, so der EuGH, nur solche Einschränkungen berücksichtigt werden, die dem Arbeitnehmer durch nationale Rechtsvorschriften, durch einen Tarifvertrag oder durch seinen Arbeitgeber auferlegt werden. Dagegen seien organisatorische Schwierigkeiten, die eine Bereitschaftszeit infolge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des Arbeitnehmers für ihn mit sich bringen können, unerheblich. Dies sei beispielsweise der Fall, wenn das Gebiet, das der Arbeitnehmer während einer Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft praktisch nicht verlassen könne, nur wenige Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten biete.
Es sei letztendlich Sache der nationalen Gerichte, eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. Hierbei sei u. a. zu berücksichtigen, ob die Frist sachgerecht sei, innerhalb derer der Arbeitnehmer nach der Aufforderung durch seinen Arbeitgeber die Arbeit aufzunehmen habe; zudem, ob dem Arbeitnehmer weitere Einschränkungen auferlegt seien, wie die Verpflichtung, mit einer speziellen Ausrüstung am Arbeitsplatz zu erscheinen, aber auch, ob ihm gewisse Erleichterungen gewährt würden, wie z. B. die Bereitstellung eines Dienstfahrzeugs.
Des Weiteren müssten die nationalen Gerichte bei der Prüfung die durchschnittliche Häufigkeit der von einem Arbeitnehmer während seine...