BAG, Urteil v. 28.5.2020, 8 AZR 170/19
Leitsätze (amtlich)
1. Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG hat eine Doppelfunktion. Sie dient einerseits der vollen Schadenskompensation und andererseits der Prävention, wobei jeweils der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist.
2. Bei der Bestimmung der angemessenen Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden nach § 15 Abs. 2 AGG steht den Tatsachengerichten nach § 287 Abs. 1 ZPO ein weiter Ermessensspielraum zu. Die Festsetzung der angemessenen Entschädigung durch das Tatsachengericht unterliegt infolgedessen nur einer eingeschränkten revisionsgerichtlichen Kontrolle. Das Revisionsgericht kann lediglich überprüfen, ob das Berufungsgericht die Rechtsnorm zutreffend ausgelegt, ein Ermessen ausgeübt, die Ermessensgrenze nicht überschritten hat und ob es von seinem Ermessen einen fehlerfreien Gebrauch gemacht hat, indem es sich mit allen für die Bemessung der Entschädigung maßgeblichen Umständen ausreichend auseinandergesetzt und nicht von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen.
Sachverhalt
Die Beklagte, eine gesetzliche Krankenkasse und öffentliche Arbeitgeberin i. S. d. § 71 Abs. 3 SGB IX a. F., beschäftigt seit Jahren auf mehr als 5 % der Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen. Im Frühjahr 2017 schrieb sie für ihr Team im Bereich Gesundheitsmanagement in Oldenburg eine, zunächst auf 2 Jahre befristete, Vollzeitstelle als "Mitarbeiter DRG-Abrechnung und Qualitätssicherung (m/w)" aus, wobei in der Bewerbung ausdrücklich auf die Option einer unbefristeten Stelle hingewiesen wurde; zudem seien Bewerbungen von Schwerbehinderten ausdrücklich erwünscht. Der Kläger, der lange Jahre als medizinischer Dokumentations-Assistent in einer Klinik sowie am Lehrstuhl für Orthopädie einer Universität tätig gewesen war und zudem ein Intensivseminar DRG-Dokumentar absolviert hatte, bewarb sich auf die Stelle. Er hatte in den Bewerbungsunterlagen deutlich auf seine Schwerbehinderung hingewiesen. Trotzdem wurde er nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen, sondern erhielt per E-Mail eine Absage. Der Kläger hat mit seiner Klage zuletzt noch einen Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG i. H. v. 9.846 EUR geltend gemacht.
In der Güteverhandlung hatte die Beklagte vorgebracht, dass sie den Kläger für die ausgeschriebene Stelle als nicht geeignet betrachtet habe und deshalb nicht eingeladen hätte, jedoch nun eine andere freie Stelle in der Abrechnung hätte, worauf sich der Kläger am Folgetag bewerben könne bzw. müsse, da das Bewerbungsverfahren schon abgelaufen sei. Diese Stelle war allerdings geringer vergütet und befand sich in Göttingen. Der Kläger seinerseits war jedoch nicht bereit, so kurzfristig zu dem Vorstellungsgespräch zu kommen, und wollte zudem zunächst das laufende Verfahren zu Ende bringen. Er vertrat die Auffassung, die Beklagte sei ihm nach § 15 Abs. 2 AGG zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet, da sie ihn wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt habe, indem sie ihn entgegen § 82 Satz 2 SGB IX a. F. nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hatte. Die Beklagte könne sich auch nicht dadurch ihrer Verpflichtung zur Zahlung einer angemessenen Entschädigung entziehen, dass sie ihm Monate nach der Absage für die Stelle in Oldenburg ein Vorstellungsgespräch für eine andere, zudem geringer dotierte Stelle an einem anderen Ort anbiete.
Die Entscheidung
Das Arbeitsgericht hatte die Klage abgewiesen, das LAG ihr teilweise, i. H. v. 1.000 EUR, stattgegeben. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Begehren nach Zahlung einer Entschädigung i. H. v. insgesamt 9.846 EUR weiter. Dieses Begehren hatte vor dem BAG teilweise, i. H. v. 5.100 EUR (ca. 1,5 des auf der ausgeschriebenen Stelle erzielbaren Bruttomonatsentgelts), Erfolg.
Das BAG entschied, dass das LAG die nach § 15 Abs. 2 AGG zu zahlende Entschädigung rechtsfehlerhaft auf 1.000 EUR bestimmt habe. Es war nach Ansicht des BAG rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass Umstände vorgelegen hätten, die ein nicht unerhebliches Abweichen von der gesetzlichen Höchstgrenze von 3 Monatsgehältern erforderten. Das LAG hatte dies u. a. damit begründet, dass die Beklagte seit Jahren überobligatorisch ihre Verpflichtungen zur Einstellung von schwerbehinderten Menschen erfülle und damit deutlich mache, dass sie deren Rechte sehr ernst nehme, was sich auch an der Stellenausschreibung zeige. Zudem sei das Ablehnungsschreiben freundlich gehalten und im Gütetermin habe sie ein neues Angebot zu einem Vorstellungsgespräch ausgesprochen. Die Beklagte habe weder die Absicht gehabt, den Kläger zu diskriminieren noch ihn herabzuwürdigen, sondern habe eine reine Bestenauslese durchgeführt. Zudem sei die Stelle nur befristet gewesen, sodass die Benachteiligung auch aus diesem Grund nur gering einzustufen sei.
Diese Erwägungen hielten jedoch vor dem BAG nicht stand. Das Gericht führte aus, dass die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG eine Doppelfunktion habe. Sie diene einerseits der vollen Schadenskompensation und anderer...